Herr Krebs, weltweit gibt es immer mehr Ärzte, die Konsultationen per Video anbieten. Was bedeutet das für die Sicherheit der Patienten?
Andreas Krebs*: 70 Prozent der Qualität einer Diagnose hängen davon ab, was der Patient dem Arzt erzählt. Auch in der analogen Welt wird die Anamnese oft vernachlässigt, weil der Arzt zu wenig Zeit für den einzelnen Patienten hat. Videokonsultationen können sogar sicherer sein, weil weniger Informationen verloren gehen. Der Patient kann über die vorinstallierte Herz-App seines Smartphone nämlich selber Daten sammeln und diese dem Arzt vor dem Gespräch übermitteln. So ist der Arzt vorab besser informiert, als wenn er die Person erst befragen muss. Viele leichtere Krankheiten wie Erkältungen oder kleinere Hautirritationen lassen sich zudem rasch übers Video lösen.

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Angenommen ein Patient leidet doch an einer schweren Krankheit. Haftet der Arzt dann, wenn er übers Video etwas verpasst hat?
Als Patient akzeptiert man in diesen Fällen im Voraus, dass es sich um eine Video-Konsultation handelt. Berichtet die Person von kardiovaskulären Symptomen oder vermutet der Arzt eine schwerwiegende Krankheit schickt er die Person direkt zu einem Spezialisten. Für das System ist diese virtuelle Konsultation signifikant günstiger als wenn der Patient erst zum Allgemeinmediziner geht, dieser bereits eine Reihe von Tests macht, die Person an einen Spezialisten überweist und dieser die Tests wiederholt.

Mit den digitalen Möglichkeiten könnten Ärzte rund um die Uhr erreichbar sein. Wären sie bei einem solchen Pensum noch in der Lage, sauber zu arbeiten?
Viele Ärzte stecken mit dem digitalen Wandel in einer Zwickmühle. Ein Arzt aus München erzählte mir letztens etwa von einem Startup, das ihm ein neues Gerät für Asthma-Patienten präsentiert hatte. Das Gerät übermittelt Daten zum Lungenvolumen des Patienten direkt auf das Mobiltelefon des Arztes. Für den Arzt stellt sich dann die Frage, ob er abends um 23 Uhr tatsächlich noch Patientendaten empfangen will und ob er handeln muss, wenn die Daten darauf hinweisen, dass sich der Zustand eines Patienten verschlechtert hat.

Können Patienten mit den digitalen Möglichkeiten auf ausländische Ärzte zurückgreifen, wenn sie sich davon eine bessere Behandlung versprechen?
Das ist heute schon als Video-Sprechstunde rund um die Uhr und von jedem Ort aus möglich. Grosse US-Apothekenketten wie Walgreens bieten das sogar aktiv ihren Kunden an. Alles was der Kunde braucht ist eine Kreditkarte, über die die Online-Behandlung abgerechnet wird.

Gibt es in Zukunft auf einzelne Personen zugeschnittene Medikamente, sogenannte «Personalized Care»?
Hier haben wir die ganz grossen Schritte noch vor uns. Ich würde mir wünschen, wir hätten heute schon Behandlungsmethoden und Medikamente, die mehr zwischen den Geschlechtern, Altersgruppen oder Körpergewicht unterscheiden können. Diese Basics zu entwickeln wäre notwendig, bevor wir an futuristische Modelle denken, in denen für Einzelpersonen zugeschnittene Medikamente hergestellt werden.

In den USA gibt es voll-digitale Krankenkassen, Ärzte verschicken Rezepte aufs Mobiltelefon. Ist das Schweizer Gesundheitssystem im analogen Steinzeitalter steckengeblieben?
Die Patienten wünschen sich auch hier integrierte Gesundheitsangebote. Derzeit arbeitet das System jedoch gegen viele innovative Lösungen – das trifft sowohl auf die Schweiz als auch auf Deutschland zu. Auf regulativer Ebene werden Lösungen abgelehnt, etwa Gesundheitskarten mit Chip, die registrieren, welche Tests bereits durchgeführt wurden. Abklärungen werden oft von verschiedenen Ärzten mehrfach gemacht. Ausserdem bangen viele Anbieter in der Wertschöpfungskette um ihr Business, sollten sich digitale Optionen durchsetzen.

Können Sie das spezifizieren?
Mit virtuellen Konsultationen können reale Arztbesuche erfahrungsgemäss um rund 27 Prozent reduziert werden, wenn diese übers Telefon abgewickelt werden. Über Video reduzieren sich reale Besuche um bis zu 40 Prozent. Das würde allein für Deutschland circa 100 Millionen Praxis-Arztbesuche weniger bedeuten. Damit würden auch viele Tests hinfällig, die sonst routinemässig durchgeführt werden. Anbieter dieser Tests oder Geräte verlieren also ihren Teil am Gesundheitskuchen. Dennoch wird sich das System auch hier bald stark verändern. Die grossen Krankenkassen haben ein Interesse daran, dass integrierte Medizin aufgenommen wird, um Kosten zu reduzieren.

Werden dann auch die Krankenkassenprämien sinken?
Teilweise ja. Für die Ärzte entstehen durch Video-Konsultationen zwar auch Kosten. Diese werden aber signifikant niedriger sein als zuvor. Durch eine Reduktion der Praxis-Besuche werden auch die Gesamtkosten sinken. In Deutschland besucht jeder gesetzlich Versicherte pro Jahr im Durschnitt 18 Mal einen Arzt. In Schweden sind es nur drei Besuche. Das liegt auch daran, dass die Hürden einen Arzt aufzusuchen in Deutschland zu niedrig sind.

Mit der Digitalisierung braucht es künftig weniger Arzthelfer oder Krankenhauspersonal. Fängt bald die grosse Entlassungswelle an?
Es wird bestimmt zu personellen Veränderungen kommen. Betroffen sind davon aber vor allem Allgemeinmediziner. Die Patientenwege werden sich verändern: Kranke werden schneller zum Facharzt überwiesen, es wird weniger Hospitalisierungen geben. Dennoch legen viele Menschen immer noch Wert auf ihr lokales Spital und werden sich dagegen sträuben, wenn dieses aus Effizienzgründen zugemacht wird. Auch werden alternative Behandlungsmethoden zunehmen.

Was ist das grösste Problem der Pharmabranche im Bezug auf die Digitalisierung?
Der grösste Knackpunkt ist, dass viele Top-Executives in der Pharmaindustrie von Krankenkassen und Gesundheitssystemen wie von ihren Gegnern sprechen. Wir vergessen dabei, dass sie unsere Kunden sind: die grossen Krankenkassen, der Steuerzahler, die Solidargemeinschaft. Da muss die grosse Transformation in vielen Pharmaunternehmen noch passieren. Die meisten negieren dies in unserer Branche aber noch. Dabei sollte man offener kommunizieren und die richtigen gesundheitsökonomischen Daten mit den Partnern im Gesundheitswesen gemeinsam entwickeln - und das bereits während der Forschung und Medikamenten-Entwicklung, nicht erst, wenn ein Medikament fertig gestellt ist.

*Andreas Krebs ist Vorsitzender des Aufsichtsrats (Chairman) beim deutschen Pharmakonzern Merz. Daneben leitet Krebs mit einem Freund und Partner sein eigenes Venture Capital Unternehmen Cologne Invest, das in junge Start-ups und Wachstumsunternehmen in vielen Branchen und der «New Economy» investiert.

Redaktorin Caroline Freigang
Caroline Freigangschreibt seit 2019 für den Beobachter – am liebsten über Nachhaltigkeit, Greenwashing und Konsumthemen.Mehr erfahren