«Hey Evan, ich bin ein grosser Fan davon, was du mit Snapchat machst. Ich würde dich gerne kennenlernen (...). Wenn Du Lust hast, können wir uns für einen Spaziergang auf dem Facebook-Areal treffen.» Diese E-Mail schreibt Facebook-Gründer Mark Zuckerberg 2012 dem damals 22-jährigen Snapchat-Gründer Evan Spiegel. Er habe die Einladung ausgeschlagen, prahlt dieser im Interview mit Forbes.

Zuckerberg solle zu ihm nach LA kommen, wenn er reden wolle. Zuckerberg kommt. Er fährt die Krallen aus, stellt Spiegel Poke vor – eine App, in der versendete Fotos nach einer Weile verschwinden – Zuckerbergs direkter Angriff auf Snapchat. Spiegel knickt nicht ein. Direkt nach dem Treffen bestellt er jedem seiner sechs Angestellten Sun Tzu’s Buch: «The Art of War» («Die Kunst des Kriegs»). Zuckerberg's Poke scheitert.

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Parallelen in den Lebensläufen der Techies

Ein Jahr später bietet Zuckerberg Spiegel 3 Milliarden Dollar für Snapchat. Spiegel schlägt auch dieses Angebot aus. Jetzt, wieder drei Jahre später, will Snapchat an die Börse. Snap, die Firma hinter Snapchat, soll bereits die Dokumentation für den IPO bei der US-Börsenaufsicht deponiert haben. Ein weiterer Schachzug Spiegels, der Zuckerberg nervös machen dürfte. Denn Snapchat erreicht die umkämpften Millenials mittlerweile besser als Facebook.

60 Prozent der Snapchat-Nutzer sind zwischen 13 und 24 Jahre alt. Sie haben begriffen: Facebook-Posts bleiben im Netz. Snapchat liefert ihnen ein Recht auf Vergessen. Spiegel – zwar mit noch deutlich weniger Nutzern – ist nun eine echte Bedrohung für Zuckerbergs Imperium. In Medien wird der 26-Jährige bereits als Nachfolger des Facebook-Gründers gehandelt. Dass Snapchat-CEO Spiegel das Zeug dazu hat, Zuckerberg vom Social-Media-Thron zu stossen, zeigen Parallelen in den Lebensläufen der beiden Techies.

Elternhaus und Fraternity

Beide Gründer stammen aus wohlhabendem Elternhaus. Spiegel wuchs als Sohn eines Anwalt-Ehepaares in Pacific Palisades, einer Nobelgegend in Los Angeles, auf, während Zuckerberg in gutem Hause in der Kleinstadt Dobbs Ferry im US-Bundesstaat New York gross wurde. Zuckerbergs Vater ist Zahnarzt, seine Mutter Psychotherapeutin.

Wie bereits Zuckerberg, besuchte auch Spiegel eine Elite-Uni: Stanford. Zuckerberg studierte in Harvard Informatik und Psychologie, Spiegel Produkt-Design. Sowohl Zuckerberg als auch Spiegel waren Mitglied einer Studentenverbindung, beide brachen für ihre Idee das Studium ab.

Dunkle Vergangenheit

Spiegel galt im College als Party-Tiger und schmiss in seiner Bruderschaft legendäre Feten. Aufgefallen ist er in dieser Zeit auch wegen sexistischer und homophober E-Mails, die ihn Jahre später heimsuchten. «Die E-Mails sind beschämend im Bezug auf den Inhalt, die Schreibfehler und Grammatik», schrieb Techcrunch.com dazu. Spiegel war gezwungen, sich öffentlich zu entschuldigen. Im Februar 2013 verklagte Spiegels Studien-Kollege Reggie Brown die Snapchat-Gründer Evan Spiegel und Bobby Murphy: Die Idee für den Dienst mit sich-selbst-löschenden Fotos sei seine gewesen. Der Fall wurde aussergerichtlich gelöst.

Klagen von alten Mitarbeitern kennt auch Zuckerberg, der stets um sein Image als Saubermann bemüht ist: Seine Mitstudenten, die Winklevoss-Brüder, verklagten Zuckerberg 2004 – er hätte ihre Idee für ein soziales Netzwerk geklaut. Der Fall wurde mit einer Vergleichszahlung über 65 Millionen Dollar von Zuckerberg beigelegt. Auch E-Mails von Zuckerberg wurden geleakt. Darin ist zu lesen, wie Zuckerberg plante, seinen Mitgründer Eduardo Saverin aus dem Unternehmen zu schmeissen. Auch dieser Fall mündete in einem gerichtlichen Verfahren. Am Ende stand erneut ein Vergleich.

Charakter

Bewunderer von Spiegel sagen, er sei als Produktebauer so gut wie Zuckerberg oder Steve Jobs – einige sind so aus dem Häusschen, dass sie ihn mit Picasso vergleichen. Gleichzeitig gilt er aber als arrogant und kontrollierend. Wer nicht nach seiner Nase tanzt, wird gefeuert. Seinen Status zeigt er gerne, fährt einen roten Ferrari, ist ausgebildeter Helikopterpilot, aber nicht auf sozialen Medien. Spiegel achtet extrem auf seine Privatsphäre, teilt kaum etwas auf sozialen Kanälen.

Auch Zuckerbergs Führungsstil gilt als streng. Ein gefeuerter Ex-Manager beschreibt die Arbeit bei Facebook «wie bei einer Sekte in Nordkorea – mit Zuckerberg unangefochten an der Spitze.» Er berichtet von interner Überwachung der Mitarbeiter, Kollektivbestrafungen ganzer Teams bei Fehltritten ihres Managers, Sexismus und Mobbing. Zuckerberg nutzt Facebook zwar selber, um Bilder aus seinem Familienalltag zu teilen. Wenn es aber darum geht, die Privatsphäre seiner Familie im echten Leben zu schützen, hat er bereits an sein Haus angrenzende Grundstücke aufgekauft, um neugierige Blicke zu verhindern.

Firma

Das Unternehmen hinter Snapchat, welches sich kürzlich in Snap Inc. umbenannte, peilt nach einem Umsatz von 59 Millionen Dollar 2015 fürs laufende Jahr Werbeeinnahmen von über 350 Millionen Dollar an. 2017 soll die Milliarden-Marke überschritten werden. Ähnlich wie Facebook setzte Spiegel früh darauf, viele Nutzer zu überzeugen, bevor darüber nachgedacht wurde, wie man mit dem Dienst Geld machen könnte. Rund 150 Millionen Nutzer melden sich heute täglich an, um Filme oder Fotos zu verschicken und zu empfangen. Im Gegensatz zu Facebook sind die meisten Nutzer unter 25 Jahre alt.

Facebook, mit nun über 1,7 Milliarden Nutzern weltweit, spielt in einer ganz anderen Liga. Das Netzwerk nutzen Menschen aller Altersklassen. Was die liquiden Mittel anbelangt, sind die Konzerne etwa gleichauf, sagt Tobias Hüttche, Experte für Unternehmensbewertungen an der FHNW zu handelszeitung.ch: «Liesse Snapchat die 25 Milliarden Dollar vom IPO tatsächlich in das Unternehmen einfliessen, könnte es mit Facebook – die derzeit 24 Milliarden Dollar in der Kasse haben – mithalten.»

Privatvermögen

Das zweite Jahr in Folge ist Spiegel als jüngstes Mitglied auf der Forbes-400-Liste aufgeführt. Das schafft ausser ihm nur eine weitere Person (sein Mitgründer Bobby Murphy). Spiegels Privatvermögen schätzt Forbes auf etwa 2,1 Milliarden Dollar.

Auch Zuckerberg ist steinreich. Sein Vermögen beträgt rund 50,2 Milliarden Dollar. Er setzt sich für philantropische Zwecke ein – im Stil von Bill und Melinda Gates. Zusammen mit seiner Frau Priscilla Chan gab Zuckerberg nach der Geburt seiner Tochter bekannt, 99 Prozent seines Vermögens während seines Lebens spenden zu wollen.

Partner

Seit letztem Jahr datet Spiegel das ehemalige Victoria-Secret-Model Miranda Kerr, die bereits ein Kind mit Orlando Bloom hat. Kennengelernt hatten sich Spiegel und Kerr an einem Louis-Vuitton-Dinner im Sommer 2015 in New York. Im Juli diesen Jahres folgte die Verlobung.

Weniger glamurös, dafür umso traditioneller, geht es in Zuckerbergs Liebesleben zu. Seine Frau Priscilla Chan lernte Zuckerberg bereits 2003 in Harvard kennen – beim Anstehen vor einer Toilette. Seit Anfang Dezember 2015 ist er Vater. Seine Tochter Max zeigt Zuckerberg stolz auf seinem Facebook-Account – «Zuck» ist ein wahrer «family guy».

Hat Spiegel das Zeug?

Parallelen zwischen Spiegel und Zuckerberg stechen zwar ins Auge. Um überhaupt in der Liga von Facebook mitspielen zu dürfen, muss Snapchat aber erstmal längerfristig überzeugen. Entscheidend ist dabei, wie viel der Newcomer nach dem Börsengang tatsächlich verdient und ob die Nutzerzahlen hochgeschraubt werden können. Derzeit kommt Snapchat in diesem Bereich noch nicht annähernd an die Zahlen von Facebook heran. Digitalexperte Manuel Nappo Nappo hält die 25-Milliarden-Dollar-Bewertung für Snapchat für zu hoch: Snapchat verdiene derzeit «nur» rund 250 bis 350 Millionen Dollar.

Auch bezweifelt er, dass Spiegel Zuckerberg tatsächlich den Rang abläuft. Für ihn gehört Zuckerberg in die gleiche Liga wie Steve Jobs, Bill Gates, Elon Musk und Jeff Bezos. «Evan Spiegel hat zwar ein cooles und modernes Produkt», so Nappo. «Zuckerberg hat aber eine grössere Vision.» («Die Welt zu verknüpfen»).

Bleibt die Frage, ob Spiegel überhaupt der neue Zuckerberg sein will. Das nächste Facebook will er nämlich eigenen Aussagen zufolge gar nicht bauen. Seine Vision ist eine andere: «Wir müssen nicht länger die ‹reale Welt› festhalten und sie online nachbauen», sagte Spiegel an einer Konferenz 2014. «Wir leben einfach und kommunizieren zur selben Zeit».

Redaktorin Caroline Freigang
Caroline Freigangschreibt seit 2019 für den Beobachter – am liebsten über Nachhaltigkeit, Greenwashing und Konsumthemen.Mehr erfahren