Im Eingangsbereich des Zürcher Landesmuseums macht sich ein 20 Tonnen schwerer Granitblock breit: sechs mal drei Meter Fläche, einen halben Meter hoch. Es sind die Berge und Täler des Gotthardgebiets, bildhauerisch in einer Miniaturversion im Verhältnis von 1:25 000 nachgebildet. Informationen über das Mini-Gotthardmassiv bekommt der Besucher über das i Pad: Wer das Tablet auf das Relief richtet, sieht, wo welcher Ort liegt, wie die Kantonsgrenzen verlaufen, wie sich Flüsse um die Gebirge schlängeln. Zudem lassen sich Videos abspielen, in denen man verschiedene Pässe entlangfährt. Alles auf vier Sprachen verfügbar - Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch.

Wenige Meter weiter stösst der Besucher auf ein Doppelfernrohr mit integrierter 3-D-Brille: Schaut man hindurch, zeigt eine digitale topografische Karte, wie sich Religion, Bevölkerungsdichte, Sprache, Herkunft und Einkommen in der Schweiz über die Jahrzehnte entwickelt haben. Die Steuerung erfolgt mit Schiebereglern an den Griffen der Fernrohre. «Die virtuellen Inhalte ergänzen die Objekte. Dem Besucher werden so Exponate anschaulich erklärt, er begreift besser und wird so in deren Bann gezogen», sagt Andrej Abplanalp, Kommunikationsleiter im Schweizerischen Nationalmuseum.

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Schweizer Museen rüsten auf

Weltweit rüsten sich Museen für die digitale Zukunft. Denn das Museum von heute will keine angestaubte Kulturstätte mehr sein. Und so sammelt und bewahrt es längst nicht mehr nur, sondern schaltet sich aktiv in die virtuelle Welt ein - etwa mit interaktiver Technik, ausstellungsbegleitenden Apps und digitalen Sammlungen. Der Twitter-, Facebook- und Instagram-Account fehlt heute ohnehin nicht mehr. Im Zeitalter der Digitalisierung existiert nur, wer online ist.

Das gilt auch für die Schweizer Museenlandschaft. «Es ist unser Auftrag, der Öffentlichkeit unsere Sammlung zugänglich zu machen. Dafür existieren verschiedene Möglichkeiten. Bei uns sind das die Ausstellungen inklusive Führungen und digitaler Angebote, das Studienzentrum, das Sammlungszentrum in Affoltern am Albis und natürlich die Sammlung online», so Abplanalp.

Und die kann sich sehen lassen: Rund 60'000 Bilder von 40'000 Objekten in insgesamt 14 Sammlungsbeständen sind bereits online; pro Monat kommen rund 1000 neue dazu. Dazu gibt es Informationen zu den Objekten und die Möglichkeit, Bilder direkt online zu bestellen.

Der neue Teil des Landesmuseums, im August 2016 eröffnet, strotzt geradezu vor neuartiger Technik. So gibt es in der Ausstellung «Ideen Schweiz» Bücher, die mit einem Projektor und einer Kamera an der Decke verbunden sind und auf Berührung reagieren. Die Kamera erkennt, welche Seite aufgeschlagen ist. Blättert der Besucher um, wird über den Projektor die neue Seite dargestellt. Auf der Unterlage des Buches befinden sich zudem druckempfindliche Sensoren: Tippt der Besucher auf markierte Stellen, werden Animationen mit passender Geräuschkulisse in das Buch projiziert.

In der Ausstellung «Archäologie Schweiz» gibt es verschiebbare Objektscanner an den Vitrinen. Es handelt sich um grosse Touch-Monitore, die vor die einzelnen Ausstellungsstücke geschoben werden können, damit sich so über eine Zoomfunktion die Objekte in den Vitrinen näher betrachten lassen. Ausserdem liefern sie Zusatzinformationen in Form von Grafiken, Bildern und Videos.

Monitor im digitalen Museum

Über Objektscanner erhalten Besucher zusätzliche Informationen über die Exponate in der Vitrine.

Quelle: Alban Kakulya

Einige Meter weiter ist eine animierte Zeichnung auf eine monumentale, nach vorne geneigte Wand projiziert. Sie zeigt eine Schweizer Landschaft, die durch Interaktion mit dem Besucher belebt wird. Stellt sich der Besucher auf eine entsprechende Markierung am Boden, erweckt er damit Szenen in der Projektion zum Leben. Sieben verschiedene animierte Illustrationen veranschaulichen so den Einfluss des Menschen auf die Natur - inklusive entsprechender Geräuschkulisse.

Eine Art Kundenbindung

«Dort, wo es möglich ist, setzen wir inzwischen Technik zur Ergänzung der Objekte ein. Denn die Kombination aus Objekt und Technik vereinfacht die Darstellung, macht sie lebendiger und lässt so Begeisterung entfachen», sagt Andrej Abplanalp. Das Ziel sei, dass die Leute sich für Geschichte interessierten, und dafür «muss man mit der Zeit gehen, auch um die Objekte attraktiver zu gestalten, gerade für die jungen Leute. Für uns ist das eine Art Kundenbindung.» Diese lässt sich das Zürcher Landesmuseum einiges kosten: Für die Ausstattung und Einrichtung der digitalen Infrastruktur im Neubau wurden knapp 900'000 Franken investiert.

Das Geld scheint bestens angelegt: In den letzten zehn Jahren haben sich die Besucherzahlen des Landesmuseums verdreifacht. Allein im vergangenen Jahr wurden 275'000 Besucher gezählt - 45'000 Personen mehr als 2015.

Animierte Bücher im digitalen Museum

Im Zürcher Landesmuseum gibt es Bücher, in die Animationen projiziert werden.

Quelle: Alban Kakulya

Auch die Besucher wünschen sich mehr Technik, wie Björn Quellenberg vom Kunsthaus Zürich sagt. «Immer mehr Leute wollen die Informationen zu Exponaten direkt auf ihrem Smartphone haben, statt sie mühsam von der Wand zu lesen oder sich einen knöchernen Audioguide um den Hals zu hängen.»

Solche elektronischen Lösungen kämen auch einem Museum gelegen, räumt Quellenberg ein. «Früher wurde der Text entweder an die Wand geschrieben oder befand sich auf sogenannten Auflageblättern im Ausstellungssaal. Heute aber gibt es eine Konkurrenz um die Fläche. Das Kunsthaus Zürich ist seit 40 Jahren nicht mehr räumlich gewachsen, obwohl jedes Jahr 100 neue Werke hinzukommen. Gibt es zudem analoge Beschriftungen in mehreren Sprachen, bleibt weniger Platz für die Kunst selbst.»

Ein aktuelles Projekt am Zürcher Kunsthaus ist die digitale Archivierung der kompletten Sammlung von mehr als 4000 Gemälden und Skulpturen. Geplanter Zeithorizont: vier Jahre. Die Kosten liegen im hohen sechsstelligen Bereich, mitfinanziert vom Bundesamt für Kultur (BAK). Zum Jahresende soll ein Teil davon online gehen und so den Zugriff via Smartphone und Co. ermöglichen. «Die Idee ist, dass man sich von überall auf der Welt einen Überblick über die Werke verschaffen kann, die im Kunsthaus gezeigt werden, als Anreiz, hierherzukommen», sagt Björn Quellenberg.

Zusammenarbeit mit Google

Einen Überblick bekommt der virtuelle Besucher schon jetzt: bei Google, mit dem das Kunsthaus zusammenarbeitet. Beim Google Cultural Institute - der wohl grössten Onlinesammlung von Kunstschätzen - finden sich seit einiger Zeit Exponate aus dem Zürcher Haus. Auch andere grosse Institute tummeln sich hier, ob das British Museum, das Pergamonmuseum oder das Museum of Modern Art. Auf dieser Plattform bekommt der Besucher einen digitalen Zugang zu weltweiten Sammlungen, kann sich via Street View durchs menschenleere Guggenheim in New York oder durch die Uffizien in Florenz bewegen und sich in virtuellen Ausstellungen umsehen. Selbst ein Virtual-Reality-Rundgang von zu Hause aus ist in vielen Häusern bereits möglich - vorausgesetzt, man hat eine VR-Brille zur Hand.

Vor sechs Jahren begann der Suchmaschinengigant, Kulturschätze aus aller Welt abzufotografieren, zu filmen und zu speichern. Inzwischen hat das Grossprojekt mehr als 1000 Kulturhäuser im Programm.

Vor allem aber kann der User Werke grosser Künstler in faszinierenden Gigapixelaufnahmen betrachten. Die Auflösung ist derart hoch, dass sich der virtuelle Besucher fast unendlich weit in die Tiefen der Bilder zoomen kann. Statt zu verschwimmen, stellen sich die Bilder mit jedem Klick immer wieder scharf ein - sie sind höher aufgelöst, als es im analogen Dasein möglich ist.

Jede Feinheit der Gemälde wird deutlich

Der niederländische Renaissance-Maler Pieter Bruegel der Ältere ist bekannt für seine Darstellungen des bäuerlichen Lebens mit zahlreichen kleinen Figuren. Jedes auch noch so kleine Detail seiner Werke ist von Bedeutung. Mit Googles Hilfe kann man sich ihnen mit nur wenigen Klicks nähern, man erkennt, wie präzise Pinselstriche angesetzt wurden, wie Konturen verlaufen, wo Schattenrisse sind, jede Feinheit der Gemälde wird deutlich: Mimik, Gesten, Motive - Details, für die man bei einem realen Besuch so dicht an das Gemälde herantreten müsste, dass das Aufsichtspersonal nervös würde.

«Google und die gesamte Onlinepräsenz sind für uns ein Werbekanal, bei dem wir mit relativ wenig Aufwand eine Reichweite haben, die wir mit klassischer Werbung nicht erzielen würden», sagt Quellenberg vom Zürcher Kunsthaus.

Das Google Cultural Institute beherbergt die wohl grösste Online-Sammlung an Kunstschätzen. Vor sechs Jahren als Nebenprojekt eines Google-Mitarbeiters entstanden, hat die Plattform inzwischen über sechs Millionen Kunstobjekte und Dokumente aus 70 Ländern digitalisiert und online zugänglich gemacht. Derzeit arbeitet Google mit mehr als 1000 Institutionen zusammen, darunter prominente Partner wie das New Yorker Museum of Modern Art, das British Museum in London oder die Uffizien in Florenz. Auch das Zürcher Kunsthaus und die Fondation Beyeler sind dabei. Auf der Plattform können sich Besucher durch Ausstellungen klicken und in Bilder berühmter Kunstwerke, gefertigt mit einer eigens konzipierten Art Camera, hineinzoomen. Selbst virtuelle Spaziergänge durch Versailles oder das Weisse Haus in Washington sind möglich, mit entsprechender Brille in manchen Häusern sogar Virtual-Reality-Touren. Auch Theater, Ballett und Musik findet sich auf der Plattform. So konnte man das Eröffnungskonzert der Hamburger Elbphilharmonie verfolgen - live mit 360-Grad-Sicht.

Doch es gebe auch einen politischen Anspruch hinter der ganzen Digitalisierung. «Wir haben eine Tyrannei der Transparenz», so Quellenberg. «Von Häusern, die öffentliche Gelder beziehen, wird gefordert, ihre Tätigkeiten, aber auch ihre Bestände offenzulegen. Vor allem Themen wie Raubkunst haben die Öffentlichkeit hier extrem sensibilisiert.»

Und so kommt eins zum anderen. «Wir fahren inzwischen mehrgleisig: Das Elektronische ist dazugekommen, hat aber das Analoge nicht abgelöst.» Denn trotz des Hypes um die Digitalisierung will das Publikum nach wie vor nicht auf die analogen Instrumente verzichten, wie etwa kostenlose Begleithefte zu den Ausstellungen. Für das Kunsthaus bedeutet das neben viel Arbeit vor allem Kosten: «Allein bei den digitalen Produktionen addiert sich einiges. Man stösst immer wieder neue Türen auf, was zu immer höheren Kosten führt, die durch die Programmierung, Beschaffung und Rechteabgeltung entstehen», sagt Quellenberg.

Komplette Sammlung Beyeler online

«Auch wenn die Kosten sehr hoch sind und es viel Manpower benötigt, ein interessantes Angebot zusammenzustellen, geht es heute nicht mehr ohne Digitalisierung», sagt die kaufmännische Direktorin Ulrike Erbslöh von der Basler Fondation Beyeler. «Digital auf Informationen zugreifen zu können, ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Diese Dienstleistung muss man anbieten.»

Entsprechend findet sich die komplette Sammlung Beyeler online. Das zentrale Augenmerk aber ist nach wie vor der reale Besuch im Museum, denn «das Erleben eines Werkes im Original lässt sich nicht digital ersetzen». Doch auch vor Ort wurde technisch aufgerüstet.

So konnten Besucher etwa Leben und Werke Paul Gauguins in einem multimedialen Raum erkunden: Bücher lagen aus, deren Seiten um projizierte Inhalte erweitert waren und die dadurch - zum Teil vertonte - Animationen zeigten. Der Besucher sah etwa, wie sich in dem Buch ein Schiff in den Hafen von Papeete bewegte und aus dem "Selbstbildnis mit Palette" ein Stillleben floss. Berührte der Besucher die abgebildeten Skizzen, wandelten sie sich zum späteren Gemälde.

Auch bei der Ausstellung «Kandinsky, Marc & Der Blaue Reiter» kam Technik zum Einsatz: Eine animierte Wandprojektion zeigte die weit verstreute geografische Herkunft der Künstler oder zeichnete den Weg nach, den die erste gemeinsame Ausstellung der Künstler quer durch Europa nahm.

Online-User birgt grosses Potenzial

Für Erbslöh aber hat die Digitalisierung noch auf viele weitere Bereiche Einfluss, die vor allem hinter den Kulissen stattfinden: von Forschung über Archivierung von Ausstellungen bis hin zur Digitalisierung von Bildern und Ankäufen. «Digitalisierung ermöglicht uns, unsere Tätigkeit und unsere Bestände transparenter zu machen, neue Besuchergruppen anzusprechen und spezifischen Content zu produzieren, der unabhängig von der Programmierung des Museums im Netz stattfindet. Darüber hinaus ermöglicht sie die Mehrfachauswertung unserer Formate im Museum, zum Beispiel sind Videos von Lesungen, Konzerten und Künstlergesprächen auch online abrufbar», sagt Erbslöh.

Eine grosse Rolle spielen Facebook, Instagram, Twitter und Co. «Über die Social-Media-Kanäle eröffnet sich die Chance, mit den Nutzern direkt in Kontakt zu treten. Dort kann man gerade jüngere Zielgruppen abholen und ihnen Content anbieten, der ihnen Lust auf das Museum als einen lebendigen Ort macht.»

Die Kausalkette ist so einfach wie logisch: Heute informiert man sich erst online, und je interessanter und attraktiver die Ausstellungen und Veranstaltungen im Netz dargestellt sind, umso grösser ist der Anreiz, sie dann real zu besuchen. Von Kannibalisierung also keine Spur. Ganz im Gegenteil: «Es steckt noch eine Menge Potenzial im Onlinebesucher», so Erbslöh.

Museum als Schutzraum für die Kunst

Das klassische Museum sieht Quellenberg vor allem als eine Art Schutzraum für die Kunst und ihre Wirkung. «Denn alles Sinnliche, was man im Zürcher Kunsthaus wahrnimmt - etwa der Geruch der Ölfarben und wie Bilder im Raum angeordnet sind - , kann die Digitalisierung nicht ersetzen.» Genau hier liegt für ihn aber auch der Konflikt, in dem sich das Museum befindet. «Es herrscht ein Zwiespalt, einerseits die Technik auszubauen und gleichzeitig den Charakter des Museums zu bewahren», sagt er.

Quellenberg ist jedoch zuversichtlich, dass der Digitalisierungstrend in den Museen etwas zur Ruhe kommen wird: «Die Menschen sind heute so überreizt.» So behaupte sich das klassische Museum als «eine Insel, auf der man Abstand gewinnen kann zur Digitalisierung». Quellenberg geht sogar noch einen Schritt weiter: «Das Museum als eine Art Befreiung vom digitalen Korsett wird eine grosse Zukunft haben.»

Dieser Text erschien in der September-Ausgabe 9/2017 der BILANZ.