Winzerin Madlaina Erni: Weine über 100 Franken? Zu teuer!

«Viva!» Die Bündner Winzerin Madlaina Erni stösst zum Lunch im Familienkreis mit ihrer Kreation eines roten Spumante an. Eine Spätlese, 100 Prozent Merlot, spontanvergoren, die zweite Flaschengärung nach dem Metodo Classico, wie bei Champagner. Der Gemma ist eine Spezialität aus dem südlichen Graubünden, dem Misox. Erni (26) ist die einzige Profiwinzerin in der Region. Ihre Identität sind die Trauben und siebzig Jahre alte Rebstöcke. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Rotwein zu Schaumwein zu machen? Madlaina Erni: Rotwein ist typisch für das Misox. Und die Bubbles machen schweres Essen leichter, für mich ein Wein outside the box. So wie alle meine Weine ist auch dieser spontanvergoren, mit der Hefe der jeweiligen Parzelle. Das schafft mehr Ausdruck im Glas. Inwiefern? Ich möchte das Misox ins Glas bringen, pur und authentisch. Ich will zeigen, dass hinter dem Wein Menschen stehen und nicht Zahlen. Das kann man schmecken. Alles ist von Hand bearbeitet, in sehr anspruchsvollen Steillagen. Dazu kommen die Tiefgründigkeit und Komplexität alter Rebstöcke. Was heisst alt? 70 Jahre. Meine ältesten Stöcke sind über 80 Jahre alt. Für die Schweiz und diese Region ist das alt. Im Burgund findet man noch bis zu 120 Jahre alte Stöcke. War es denn immer schon Ihr Traum, Winzerin zu werden? Ich habe nie damit gerechnet, dass ich das einmal machen würde, ich bin da reingerutscht. Davor habe ich Jus studiert. Mein Vater hatte einen schweren Unfall und ich bin zuerst notfallmässig eingesprungen. Dann hat es mich gepackt und ich habe mich anschliessend für eine Ausbildung in Önologie und Weinbau entschieden. Um gleich «outside the box» neue Weine zu kreieren? Mit Trends fange ich im Grunde nichts an. Wertschätzung und Identität sind mir wichtiger. Die Namen und Etiketten unserer Weine sind die gleichen wie vor dreissig Jahren. Jede Etikette hat ihre Bedeutung. Auf dieser Flasche steht zum Beispiel «Arte» – Kunst. Und einen 100-prozentigen Merlot ohne Barrique, im Prodorglastank auszubauen, mit dem Ziel der höchsten Qualität, das ist eine Kunst. Natürlich ist ein Pinot noir meistens gefälliger und kommerzieller.Die Jungwinzerin Madlaina Erni (26) ist Winzerin, Geschäftsführerin und Önologin bei Viticoltura e Vini Rohner Erni. Nach einem begonnenen Jus-Studium sattelte Madlaina Erni auf die Kellerwirtschaft um. Sie absolvierte ein Önologie-Studium und stieg 2016 voll in den Familienbetrieb Rohner Erni ein und half sowohl in den Rebbergen als auch im Keller mit. Das Handwerk des Weinmachens lernte sie im Betrieb ihres Vaters Jacob Rohner von der Pike auf kennen. Mutter Martina Erni kümmert sich um Buchhaltung, Organisation und Marketing. Jungwinzerin und Tochter Madlaina setzt nun die für das Weingut typische und traditionelle Vinifizierung der Merlot-Trauben fort, wagt aber auch Neues. So soll die Rebsorte Cornalin nicht mehr das exklusive Aushängeschild des Kantons Wallis allein bleiben. Madlaina Erni will beweisen, dass diese Rebsorte auch im Misox gedeiht und für eine kleine Sensation reicht. In Supermärkten und Restaurants ist vor allem der Bianco di Merlot der Renner. Warum? Weil die Deutschschweizer sowohl die Süd-Schweiz als auch Merlot im Glas haben wollen, aber dennoch Weisswein bevorzugen. Der Bianco di Merlot schafft diesen Spagat. Den Winzern macht diese «Entfremdung» der Traube nicht unbedingt Spass. Aber es wird nun einmal nachgefragt. Weinbau ist immer noch eine Männerdomäne. Merken Sie das? Frauen in der Landwirtschaft gab es schon immer. Welche Grossmutter war früher nicht Landwirtin? Nur gesprochen hat man nie darüber. Jetzt ist das ein Trendthema. Für mich nicht nachvollziehbar. Im Ausland hört man selten etwas vom Schweizer Wein. Woran liegt das? Alles, was in der Schweiz produziert wird, wird auch hier konsumiert. Weniger als 1 Prozent des Schweizer Weins geht in den Export. In der Schweiz haben wir eine Weinkultur, die mehr auf Qualität als auf Quantität ausgerichtet ist. Wir Winzer produzieren 40 Prozent des gesamten Schweizer Weinkonsums. Ganz klar, wir trinken zu viel (lacht). Warum gibt es dann neuerdings die sogenannten Wutwinzer, die ihren Wein wegschütten mussten oder zur Ethanolverarbeitung hergegeben haben, weil der Konsum ausblieb? Im Moment haben wir eine Rebbau-Krise, die Wertschätzung des Traubengutes ist nicht gerade an einem Höhepunkt. Warum? Weil die Keller zum Teil noch voll sind und kein Platz für neue Trauben ist. Die Winzer, die die Trauben verkaufen, bekommen immer weniger Geld pro Kilogramm. Das hat sich mittlerweile wieder geändert, weil es überall gehagelt hat. Also ist der Hagel ein Segen für Weinproduzenten? Nicht für alle. Die Nachfrage der Kunden nach Weinen ist zwar hoch, aber vor allem bei Kleinproduzenten. Und es gibt insgesamt immer mehr Produzenten, was aber auch mehr Vielfalt bringt, und das ist spannend. Das macht es aber schwieriger, einen gemeinsamen Nenner zu finden, um uns im Ausland zu repräsentieren. Zudem gibt es immer noch viele Schweizer, die in der Schweiz ausländischen Wein trinken. Sollen Schweizer Winzer derweil mehr staatliches Fördergeld erhalten, um gegen ausländische Konkurrenz zu bestehen? Ein Betrieb muss von sich aus funktionieren. Ich bin lieber ein bisschen ärmer und mache es aus Leidenschaft, bevor man den Steuerzahler zur Kasse bittet. Ich bin überzeugt, Qualität setzt sich durch und damit stellt sich dann auch der ökonomische Erfolg ein. Als alleinige Unternehmerin in einem Kleinbetrieb habe ich auch niedrige Personalkosten. Wie stark hängen Absatz und Qualität zusammen? Wenn das Weingut kleiner und der Grad der Handarbeit grösser ist, dann nimmt in der Regel auch die Qualität des Weins zu. Aber ich bin sicher, das sieht man auf grösseren Weingütern anders. Warum macht die Massenrebsorte Chasselas immer noch den grössten Anteil aus? Die Qualität dieser Rebsorte ist umstritten. Chasselas ist die am meisten angebaute Rebsorte in der Schweiz und auch eng mit der Westschweizer Rebbautradition verbunden. Im Rest der Schweiz verbindet man diese Rebsorte aber immer noch mit negativen Eigenschaften. Als ich in der Westschweiz studierte, habe ich diese Weine einmal vertikal probiert und hatte so die Möglichkeit, mich von diesen Vorurteilen zu befreien. Im Stehen? Nein, denselben Wein, aber verschiedene Jahrgänge. Das hat den Chasselas für mich rehabilitiert. Es gibt sehr gute Exemplare. Zwischen Graubünden und Tessin tummeln sich viele Winzer. Wie schaffen Sie es, nicht unterzugehen? Hobbywinzer gibt es viele hier. Aber ich bin eine von ganz wenigen Profiwinzern im Tal und die einzige Winzerin, die selbst keltert. Meine Weine sind handwerklich aufwendig und nicht standardisiert hergestellt. Es gibt viele Betriebe, wo der Chef in erster Linie Geschäftsmann und dann Weinbauer ist. Bei mir ist es umgekehrt. Ich finde, ein guter Winzer ist in den Reben und nicht im Büro. Und ein guter Wein entsteht im Rebberg, nicht im Keller. Kommen Sie mit diesem Boutique-Ansatz gut über die Runden? Es gibt ja solche, die sagen: «Vor dem Winzern war ich sehr reich, jetzt bin ich nur noch reich.» Ich war schon vorher nicht reich und werde es vermutlich auch nie sein. Ich möchte einfach nur davon leben können. Ich führe ein einfaches Leben, und das bewusst und aus Überzeugung. Was heisst das? Meine Arbeitstage sind sehr lang, sieben Tage die Woche. Ich habe keinen geregelten Stundenplan und arbeite, wie es erforderlich ist und wie die Arbeit gerade anfällt. Mein Betrieb ist wie ein Startup, mein ganzes Vermögen und meine Arbeitskraft stecken da drin. Landwirtschaft ist nichts wert, wenn man nicht die Arbeitskraft dazu hat. Was ist ein fairer Preis für Wein? Zwischen 20 und 60 Franken kostet er bei mir. Ich möchte Weine machen, die für so viele Menschen wie möglich zugänglich sind. Meine Schmerzgrenze liegt bei 100 Franken ab Hof. Ich bin durchaus bereit, für Qualität zu bezahlen. Aber alles über 100 Franken finde ich zu viel.Für fast eine Million: Dieser Schweizer Weinhändler verkaufte die teuerste Flasche Wein Der Schweizer Luxus-Weinhändler Fabio Cattaneo wartet mit einem Weltrekord auf: der teuersten je verkauften Flasche Wein. Es handelt sich um eine Sechs-Liter-Flasche Romanée-Conti, Jahrgang 1985. Zum Bericht. Wo verkaufen Sie Ihren Wein? Im Moment mache ich den Verkauf selber, kenne meine Kunden und die Gastronomiebetriebe, die hauptsächlich in Graubünden sind. Jetzt in der Pandemie habe ich allerdings gemerkt, was es bedeutet, um die eigene Existenz zu kämpfen. Händler könnten langfristig das Geschäft stabilisieren, aber mit denen habe ich noch wenig Erfahrung. Übrigens, wer möchte Grappa? Unserer ist speziell. In der Tat: Erni schenkt einen Tresterbrand Merlot aus, etwas süsslich, kräftige Farbe, weil die Trockenbeeren der Merlot-Traube in den Brand eingelegt wurden. Er schmeckt ein bisschen wie Likör und etwas marmeladig. Der Grappa ist neben dem Gemma ein weiteres spezielles Weinprodukt. Wie halten Sie es mit Moden wie Orange Wine und Naturwein? Ich mache ja nicht unbedingt Naturwein. Das sind eher Labels. Diese Zertifizierungen und Labels mögen vielleicht eine Hilfe für die Konsumenten sein, die sich für Wein nicht Zeit nehmen können oder wollen. Meine Weine sind in keiner Weise zertifiziert. Ist das ökonomisch schlau? Wahrscheinlich würde ich mit einer Zertifizierung tatsächlich mehr Geld verdienen. Aber ich bin prinzipientreu und mit den meisten Leitlinien dieser Zertifizierungen nicht einverstanden. Nachhaltigkeit ist meiner Meinung nach ein ganzheitliches Konzept und hängt nicht von irgendwelchen vereinzelten europäischen Regeln ab, die Weine und Regionen über einen Kamm scheren. Wo doch allein schon das Klima überall unterschiedlich ist und damit unterschiedliche Anforderungen an die Zertifizierungen gelten müssten. Demeter ist kein guter Standard? Meiner Meinung nach nicht zwingend. Gemäss Demeter muss man Kupfer spritzen, weil keine Alternative zur Schädlingsbekämpfung erlaubt ist. Das Gleiche gilt für Bio. Ich verwende weder Bio- noch Demeter-Gütesiegel und spritze synthetisch, dafür um zwei Drittel weniger. Und keine Herbizide und Insektizide. Aber ich brauche Mittel, die in die Pflanze eindringen. Das heisst, ich spritze je nach Pflanzenwachstum und nicht je nach Niederschlag. Bei Bio zum Beispiel spritzt man Kontaktmittel, die nach dem Regen abgewaschen werden. Hier in der Region kann das jede Woche der Fall sein. Ob das nachhaltig ist, wage ich stark zu bezweifeln. Wonach kann ich mich richten, wenn mir die erwiesene Nachhaltigkeit wichtig ist? Am besten ist, man geht zum Winzer, lernt ihn kennen, stellt ihm Fragen und überzeugt sich selbst. Auch ein Zürcher Anwalt sollte kein Problem damit haben, sich einmal aufs Land zu begeben, um mehr über den Wein zu erfahren, den er abends in seinem Garten oder vor dem Kamin trinkt. Aber das ist natürlich eine Frage der Priorität. Wem nicht wichtig ist, woher das Produkt kommt, der wird sich das nicht antun. Was empfehlen Sie dem Anwalt, um auf den Geschmack zu kommen, damit er den Weg zum Winzer antritt? Man kann nichts falsch machen. Wein ist ein Moment der Emotion und bedeutet Emotion im Moment. Emotionen sind nie falsch. Das muss man verstehen. Viele halten sich eher an Punkteskalen und Beschreibungen. Ist das sinnvoll? Dabei geht viel verloren. Wein ohne Punkte im Kopf zu probieren, ist so spannend, weil das Erlebnis jedes Mal anders ist. Ein Weinerlebnis hat keine allgemeine Gültigkeit, die sich in Zahlen ausdrücken lässt, und hängt stark von Gemüt und Laune ab. Würden Sie mit einer famosen Weinbeschreibung und Punkten von Weinpapst Robert Parker nicht mehr verkaufen? Ob ein Wein grundsätzlich ordentlich vinifiziert wurde und qualitativ hochstehend ist, das kann man zwar bestimmen. Für mich ist der Punkt, dass Wein Emotion des Moments ist und von der persönlichen Erfahrung abhängt. Somit frage ich mich, inwiefern solche Weinbeschreibungen für andere hilfreich sein können. Haben Sie je eine Bewertung für Ihre Weine bekommen? Nein. Und sind Sie stolz darauf? Wenn Parker plötzlich bei mir anklopfen würde, kann ich es mir ja noch einmal überlegen (lacht). Ich bin ein spontaner Mensch und es würde davon abhängen, ob er mir sympathisch ist.Das taugt Wein als Geldanlage wirklich Die Preise für Weinraritäten haben stark angezogen. Doch wie viel lässt sich mit einem gut sortierten Weinkeller erzielen? Unser Autor hat es ausprobiert. Zum Bericht. Was halten Sie von Ihrer Konkurrenz, den jungen, wilden Winzern, die nur wenige Flaschen als Experiment produzieren und sich gut über peppige Etiketten verkaufen? Auch das ist nicht nachhaltig. Ich arbeite als Winzerin an einem lebenslangen Projekt und verbinde Weinmachen mit einem Lebensstil. Es ist einfach, einmal etwas Hervorragendes zu machen, wenn man Glück mit einem guten Jahrgang hat. Aber es ist deutlich schwieriger, Jahr für Jahr und mit Kontinuität einen guten Wein zu liefern. Darin liegt die Kunst. Ein guter Wein braucht Zeit. Und ein günstiges Klima. Wirkt sich die Erderwärmung auf Ihre Arbeit aus? Durch die Klimaerwärmung ist das Wetter instabiler geworden. Wir sind wetterabhängig und die Planung ist viel schwieriger geworden. Wir haben andere Reifezeiten als noch mein Vater vor dreissig Jahren. Starke Wetterwechsel und Temperaturschwankungen, wenn wir nicht gerade eine Übergangssaison haben, machen die Arbeit schwieriger und sind Teil der Klimaerwärmung. Wir fahren zum nächstgelegenen Rebberg des Weinguts Erni, Tèra Bianca in Roveredo. Auf den Steilhangterrassen stehen sechzig Jahre alte Rebstöcke neben jungen, frisch gepflanzten. Das soll die alten Rebstöcke entlasten und ihre Langlebigkeit gewährleisten. Inwiefern repräsentiert dieser Rebberg Ihre Weinarbeit? Der alte Stock ist an die klimatischen Bedingungen gut angepasst, leidet weniger in Extremsituationen und liefert eine Komplexität im Wein, die ein junger Stock noch nicht hat. Der Ertrag eines alten Stocks ist zwar geringer als der eines jungen, dafür konzentriert sich die Energie des alten Stocks voll auf die geringere Anzahl der Trauben, die dieser liefert. Das bringt die Tiefe in den Wein. Wie viel wirft diese Parzelle ab? Das ist eine von neun Parzellen mit insgesamt fünf Hektar Fläche. 600 Kilogramm habe ich in dieser Parzelle letztes Jahr geerntet, das entspricht etwa 600 Flaschen. Eine 0,75-Liter-Flasche ist der Faktor zwischen Trauben und Saft. In der Regel werden drei Viertel des Rebsaftes zu Wein. Wir befinden uns hier im Bündner Misox. Der Tessiner Weinverband hat ihren Wein auch schon gerne dem Tessin zugeordnet. Was stimmt nun? Man ist sehr schnell damit, meinen Wein als Tessiner Wein zu bezeichnen. Klar, die Sprache hier ist Italienisch. Und die Weine haben italienische Namen. Aber es sind die Trauben, die eine Identität haben, die für den Wein stehen und eben nicht aus dem Tessin kommen. Sicher sehen das nicht alle so. Das Weinbaugesetz macht es auch nicht einfacher, das Misox wird von Chur zu oft vergessen. Aber meine Arbeit wird weiterhin sein, die Identität des Misox den Menschen nahezubringen, damit sie diese hautnah erleben können. Wir fahren weiter zum «Archivkeller», wo Erni die Perlen ihrer Ernten hortet. In dem Steinkeller vergisst man schnell Denominationen und Verbandskonflikte. Lagern hier die Jahrgangsweine, die später einmal versteigert werden? Das ist mein privater Keller für ältere Jahrgänge von 1986 aufwärts. Von jedem Jahrgang lagere ich sechs bis zwölf Flaschen ein, die man nach zwanzig Jahren und später hoffentlich noch mehr schätzen wird. Hierher bringe ich nur Leute, die zu schätzen wissen, was sich hier befindet. Hier vergisst man Geld und Zeit.