Avenue Matignon im Herzen von Paris, die Büros von Präsident und Premierminister sind nur wenige Gehminuten entfernt. Abgeschottet vom Strassenlärm befindet sich der Hauptsitz von Axa, dem globalsten französischen Finanzkonzern. Henri de Castries hat sein Büro in einem Nebengebäude bezogen und schaut jetzt auf die Wirkungsstätte seines Nachfolgers Thomas Buberl. «Man hat mir ein kleines Büro gelassen, aber ich habe alles im Blick», scherzt der Mann, der den Konzern 17 Jahre steuerte. Der 63-Jährige wirkt energiegeladen, jugendlich, tatendurstig – und freut sich über die Renaissance seines Heimatlandes.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Monsieur de Castries, lange galt Frankreich als kranker Mann Europas, seit der Wahl Emmanuel Macrons im Mai ist es die Lokomotive. Ist dieser Wechsel der Wahrnehmung berechtigt?
Ja, der Blick auf Frankreich hat sich geändert – und das zu Recht.

Warum?
Aus drei Gründen: Unsere Reputation war sehr tief, weil wir einen Präsidenten hatten, der die Wirtschaft schädigte, statt sie zu reformieren. Dann hat sich das internationale Umfeld geändert: Ein Teil der Staaten, die uns kritisch begleitet hatten, haben ihr Überlegenheitsgefühl abgelegt. Unsere amerikanischen Freunde haben uns Lektionen erteilt, unsere englischen Freunde haben uns erklärt, dass wir nie wieder zu den führenden Wirtschaftsnationen aufsteigen würden. Jetzt sind sie ruhiger. Es war eben nicht Frankreich, das die Populisten gewählt hat. Auch die Wahlen in Deutschland sind ein interessanter Faktor, wenn auch nicht mit derselben Bedeutung: Sicher, Frau Merkel hat gewonnen, aber die Bildung einer Regierung, falls sie überhaupt zustande kommt, wird Kompromisse erfordern, die den Spielraum einschränken.

Und drittens?
Es gibt zweifellos eine positive Dynamik, ausgelöst durch den neuen Präsidenten.

Sie waren am Anfang gegen ihn und unterstützten den konservativen Kandidaten François Fillon als Wirtschaftsberater.
Emmanuel Macron war nicht mein erster Wechselwunsch, sondern mein zweiter. Aber ich habe in der zweiten Runde ohne Zögern für ihn gestimmt und zu seiner Wahl aufgerufen.

Sie haben seine Kandidatur als «Syndrom des Gebrauchtwagens» bezeichnet.
Das war Wahlkampf. Und unbestritten ist: Ein Gebrauchtwagen ist besser als gar kein Auto oder ein Eselskarren.

Sie waren für Fillon, weil sein Programm radikaler war. Geht Macron weit genug?
Fillon wäre sicher weiter gegangen. Ich schätze auch nicht alles, was der neue Präsident macht, sonst hätte ich ihn in der ersten Runde gewählt. Aber er hat viel bewegt – und er setzt um, was er angekündigt hat.

Was vor allem?
Er hat die Reform des Arbeitsrechts durchgezogen, von der alle dachten, dass sie sehr schwer sein würde. Das Steuerrecht bewegt sich, auch wenn die Reform schwierig ist, und die Debatte um Yachten und Luxusautos zeigt, wie viel Neid es in Frankreich gibt. In der Bildung gibt es zum ersten Mal seit Jahren einen Minister, der eine klare Vision hat, wo es hingehen soll. Ist es ideal? Das ist es nie. Macron hätte bei den Steuern weiter gehen können, beim Budget strenger sein, die Flexibilität des Arbeitsmarktes noch weiter erhöhen können. Aber er geht voran.

Als Einziger in Europa?
Durch das, was um uns herum passiert, ist der französische Präsident heute mächtiger in Europa. Die Engländer isolieren sich, die Deutschen brauchen Partner, und da steht Frankreich vorn, denn die anderen EU-Staaten mit mehr als 40 Millionen Einwohnern haben alle ihre Probleme: Polen, Italien, Spanien.

Kritik entzündet sich an seinem Stil: Mal wird er als «Sonnenkönig», mal als «Jupiter» kritisiert.
Wer den Élysée-Palast betritt, spürt sofort: Dieses Land hat einige Reste von Louis XIV.

Sein Vorgänger François Hollande wollte vor allem normal sein.
Ein Präsident darf nie normal sein. Es gibt sicher einige Auftritte, bei denen es der neue Präsident in der Aussendarstellung übertrieben hat. Aber er hat recht, dass seine Amtsausübung Würde ausstrahlen muss, und das bedeutet auch eine gewisse Distanz. Ein Präsident, der zu sehr den Leuten auf der Strasse ähneln will, kann keine eigene Linie entwickeln. Insgesamt hat der neue Präsident dem Amt seine Würde und Frankreich eine wirkliche Stimme wiedergegeben.

Ein weiterer Kritikpunkt: Er umgibt sich nur mit jugendlichen Mitstreitern.
Wenn ein 39-Jähriger Präsident wird und sich mit Leuten aus seiner Generation umgibt, können die 70-Jährigen immer sagen: Das sind ja alles Jugendliche. In diesem Alter haben andere historische Figuren schon Grosses erreicht. Gewiss, die Zeiten sind heute anders. Aber er hat etwas bewegt, was sich 30 Jahre lang nicht bewegt hatte.

Fehlt es vor allem im Wirtschaftsbereich nicht an Sachkenntnis?
Das wird man sehen.

Sie wären doch prädestiniert. Haben Sie mit ihm Kontakt gehabt nach der Wahl?
Das ist privat.

Macrons Erfolg zeigt sich vor allem daran, dass die Massendemonstrationen im Herbst ausgeblieben sind. Bei den letzten Präsidenten legten Demonstranten das Land lahm, und der Reformwille war stets erlahmt, bevor die Präsidentschaft eigentlich begonnen hatte.
Macron hat klar gesagt, was er macht. Und er hat von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass er nicht vor der Strasse zurückweichen würde. Ich nenne das «le troisième tour social» – die dritte Wahlrunde auf der Strasse. Sie ist zutiefst undemokratisch.

Aber so war es doch zuletzt in Frankreich immer.
Nicht so unter General de Gaulle. Er ist nicht zurückgewichen vor der Strasse.

Trotzdem glauben alle: Frankreich lässt sich nicht reformieren.
Es gab einen Schweizer Bankier namens Jacques Necker, er war einer der letzten Finanzminister von Ludwig XVI., er lebte in Coppet bei Genf. Er schrieb in seinen Memoiren: «Es zeichnet die mediokren Menschen aus, dass sie alles für unüberwindbar halten, was sie nicht verstehen.» Das sagt alles.

Der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon kündigte Demonstrationen mit einer Million Teilnehmern an.
Der ist im Delirium. Wir sind eine Demokratie. Es gab klare Ergebnisse einer klaren Wahl. Gegen die Ergebnisse aufzubegehren, ist illegitim. Wenn die Strasse gegen den Entscheid der Wähler aufbegehren kann, ist das nicht Demokratie. Das ist Anarchie.

Aber eben: So lief es doch zuletzt immer.
Das ist die Schwäche der Vorgänger, die das zugelassen haben. Macron hat viel nachgedacht, er hat viel Philosophie studiert. Er weiss nur zu gut: Wenn wir in einer Demokratie bleiben wollen, dürfen wir nicht die Strasse die Resultate der Wahl in Frage stellen lassen.

Das heisst, Frankreich wird wieder zum starken Mann Europas?
Ich bin sehr viel optimistischer für mein Land als vor zwei Jahren. Wir haben ein neues Führungsteam, das das Land der Modernität anpassen will. Das ist gut. Aber es greift zu kurz, die Probleme auf Frankreich zu reduzieren.

Warum?
Das grössere Thema lautet: Die Dominanz des Westens ist gefährdet. Mehr als 150 Jahre lang haben Europa und die USA den Rest der Welt dominiert. Sie hatten das Geld, das Wissen und die Technologie und haben dem Rest der Welt ihre Regeln aufoktroyiert – erst die Industrialisierung, dann die Kolonialisierung, schliesslich die Pax Americana nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieses System funktioniert nicht mehr, weil Kapital, Technologie und Wissen heute auf der ganzen Welt verfügbar sind. Länder wie China oder Indien wollen ihren Platz zurück, den sie vor der industriellen Revolution hatten. Und die Mittelschicht im Westen ist verunsichert, während jene in den Schwellenländern aufbegehrt. Die aufstrebenden Länder sind nicht alle Demokratien und beneiden uns nicht mehr um unsere politischen Regimes. Doch unsere Demokratien bauen auf einer stabilen Mittelschicht auf. Warum holen die Populisten 15, 20 und mehr Prozent in Frankreich, Italien oder England? Weil die Mittelschicht bedroht ist. Viele Leute fühlen sich in ihren Jobs bedroht und haben nicht mehr das Gefühl, dass es ihren Kindern besser gehen wird. Die grosse Herausforderung der westlichen Gesellschaften ist es, den Sozialpakt neu zu erfinden. Mit Hollande war das hoffnungslos.

Macron setzt auf klare Kommunikation.
Wenn sich die Leute von Verarmung bedroht und marginalisiert fühlen, braucht es jemanden, der ihnen die Gefahren der Populisten vor Augen führt. Das hat Macron getan, und es hat in Frankreich funktioniert.

Macron ist auch ein Bannerträger für offene Märkte.
Viele Leute glauben fälschlicherweise, dass offene Märkte Arbeitsplätze vernichten, obwohl klar bewiesen ist, dass das falsch ist. Aber die Technologie vernichtet bestimmte Arbeitsplätze, und die neuen, die sie schafft, befinden sich oft nicht im gleichen Sektor und in der gleichen Region. Jobs werden in Frankreich zerstört und entstehen neu in Indien und China. Und das führt wieder zu der zentralen Frage: Was können wir der Mittelschicht anbieten?

Sie haben 17 Jahre lang Axa geführt, waren als CEO und VR-Präsident allmächtig. Dann stiegen Sie im letzten Jahr komplett aus. Warum?
Ich habe 27 Jahre mit Axa verbracht, 17 Jahre als Chef. Es ist zentral für die Firma, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt das Blut erneuert und sie an die nächste Generation übergibt.

Sie hätten sich auf das Präsidium zurückziehen können?
Dann wäre ich noch immer sehr präsent gewesen. Ich wollte einen totalen Schnitt und habe mit Thomas Buberl einen perfekten Nachfolger gefunden.

Ist das Doppelmandat noch zeitgemäss?
Ich bin da agnostisch, man darf nie dogmatisch sein.

Auch bei Nestlé wurden Sie als Präsident gehandelt.
Wenn all die Gerüchte wahr wären, hätte ich eine formidable Karriere gemacht. Bei Nestlé sind wir in einer sehr guten Situation: Wir haben mit Mark Schneider einen externen CEO mit fantastischem Track Record und mit Paul Bulcke einen Präsidenten, der das Haus extrem gut kennt. Und beide harmonieren bestens.

Nestlé hält noch immer eine 23-Prozent-Beteiligung an L’Oréal. Angeblich sind Sie der Verbindungsmann, um die Übernahme vorzubereiten.
Wieder so ein Gerücht...

Gibt es da Veränderungen nach dem Tod von Liliane Bettencourt?
Es gibt dem nichts hinzuzufügen, was die Nestlé-Chefs kommuniziert haben.

Bei der britischen Grossbank HSBC wurden Sie ebenfalls als Präsident gehandelt.
Das waren sogar mehr als Gerüchte. Aber ich wollte nicht wieder an der Spitze einer globalen Finanzfirma stehen. Es gibt Menschen, die nur eine Sache machen, und es gibt Menschen, die finden, dass das Leben viel mehr zu bieten hat. Ich gehöre zur zweiten Kategorie. Eine grosse regulierte Finanzfirma zu leiten, ist faszinierend, und ich habe jeden Moment bei Axa geliebt. Doch jetzt will ich etwas anderes machen.

Sie sind neu Chairman für Europa bei der US-Private-Equity-Firma General Atlantic.
Das ist etwa ein 50-Prozent-Pensum, und was mich fasziniert: General Atlantic investiert nur in Firmen mit starkem Wachstum – entweder neue Technologien oder disruptive Geschäftsmodelle. Das gibt mir eine fantastische Perspektive, um zu sehen, wo genau die Wirtschaft sich verändert.

Vor einem Jahr war der Ausblick für die Weltwirtschaft nach der Trump-Wahl negativ. Jetzt herrscht überall Optimismus. Überschiessen die Märkte?
Man darf nicht das Rauschen mit der Richtung verwechseln. Die Marktschwankungen sind Rauschen. Die wirkliche grosse Frage ist: Aus welcher Richtung kommen die Probleme in 50 oder 100 Jahren?

Also: 100 Jahre?
Der Klimawandel wird globale Auswirkungen haben. Seitdem die Menschheit existiert, haben Klimaveränderungen zu Migrationsströmen und Kriegen geführt. Orte wie beispielsweise Angkor oder Petra: Das waren wohlhabende Städte, und dann kamen die Klimakatastrophen. Das heisst: Auf 100 Jahre gesehen, müssen wir den Klimawandel bekämpfen, wenn wir weiter Stabilität haben wollen.

50 Jahre?
Da geht es um die Demografie. Lange ist der Westen gewachsen, es war die Generation der Babyboomer. Heute ist es umgekehrt, in allen westlichen Ländern ausser Frankreich schrumpft die Bevölkerung. Der Rest der Welt ist in einer gegenteiligen Situation: Bis auf China, das wegen seiner Ein-Kind-Politik schrumpft, steigen die Bevölkerungszahlen. Am stärksten in Afrika, und das ist von Europa nur durch einen Teich namens Mittelmeer getrennt. In 50 Jahren ist das zentrale Thema von Europa nicht mehr Herr Putin, er hat langfristig die gleichen Interessen wie wir, auch wenn wir ihn nicht mögen. Das Thema lautet: Wenn wir in Afrika jedes Jahr 30 Millionen Menschen mehr haben und wir ihnen nicht jedes Jahr sechs Millionen neue Jobs bieten können, werden viele zu uns kommen. Wenn wir Flüchtlingselend und Terrorismus bekämpfen wollen, müssen wir in Afrika eine Entwicklung schaffen, die die Menschen in ihrer Heimat glücklich werden lässt.

Und in fünf Jahren?
Da stellen sich die Fragen: Wie lange können die Zentralbanken die Wirtschaft noch am Tropf halten, und wie viele Jobs gehen in der westlichen Welt durch die neuen Technologien verloren? Doch wichtig ist, dass wir uns mit den Fragen, die sich in 50 und 100 Jahren stellen, schon heute beschäftigen. Wer die heutigen Probleme lösen will, muss die langfristige Richtung festlegen.

Dieses Interview erschien zuerst in der Dezember-Ausgabe (12/2017) der «Bilanz».