Eine Hotellobby in Genf. Paul Tucker ist als Teilnehmer einer Konferenz in der Stadt, doch alle wollen mit ihm vor allem über sein neues Buch reden – einen Angriff auf die eigene Kaste. 33 Jahre war er bei der britischen Zentralbank tätig, zuletzt bis 2013 als Vize – und jetzt meldet er sich erstmals kritisch zu Wort. Nestbeschmutzung? «Mir ist nur wichtig, dass die Diskussion in Gang kommt», lacht der Mann aus Mittelengland.

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Herr Tucker, in Ihrem Buch «Unelected Power» beschreiben Sie ausführlich die Macht der Notenbanken. Ist sie zu gross?
Das Risiko besteht. Unsere gewählten Politiker haben sich in den letzten Jahren sehr stark aus der Verantwortung zurückgezogen. Das zeigt sich, wenn man die zwei grössten letzten Finanzkrisen vergleicht. Wenn wir an die dreissiger Jahre und die grosse Depression in den USA denken, denken wir vor allem an Präsident Roosevelt als den grossen Retter. Bei der letzten Krise waren es vor allem Notenbank-Chefs wie Ben Bernanke oder Mario Draghi, die im Vordergrund standen.

Mehr als zehn Jahre sind seit Ausbruch der Finanzkrise vergangen, doch die Macht der Notenbanker scheint heute noch genauso gross zu sein wie direkt nach dem Ausbruch.
Genau – besonders in Europa, wo die Europäische Zentralbank weiter eine dominierende Rolle spielt. Wenn wir daran denken: Wer schafft Wohlstand und wirtschaftlichen Aufschwung, denken wir nicht mehr an Regierungen, sondern an die EZB. Das finde ich falsch. Denn unser System der Demokratie basiert darauf, dass man die Entscheidungsträger abwählen kann. Aber die Zentralbanker kann man nicht abwählen: Niemand konnte mich als Vize-Chef der Bank of England abwählen, niemand kann Mario Draghi oder Thomas Jordan abwählen. Das ist gefährlich.

Haben die Notenbanker ihren Machtzuwachs selbst herbeigeführt?
Sie füllen eine Lücke. Manche widerwillig, manche leider mit grosser Freude.

«Notenbanker sollten nicht Stars werden wollen.»

Paul Tucker

Mit grosser Freude? Welche?
Ich nenne keine Namen. Ich sage nur: Notenbanker sollten nicht Stars werden wollen.

Ob die Notenbanken die Zinsen anheben, ist auch der entscheidende Treiber für die Börse.
So ist es, und das ist verrückt. Die Börse sollte von der Dynamik der Unternehmen abhängen, von Investitionen und Ideen – und nicht davon, ob ein nicht gewähltes Komitee entscheidet, die Zinsen um 25 Basispunkte zu erhöhen.

Doch gerade das hinter uns liegende Jahrzehnt an Tiefzinsen hat die Gefahren für die Weltwirtschaft massiv erhöht.
Die Zentralbanken haben dafür gesorgt, dass die Erholung zu einem grossen Teil über höhere Schulden erkauft wurde. Doch diese Schulden führen automatisch zu einer neuen Krise. Geldpolitik läuft so, dass man die Zinsen senkt und damit den Menschen sagt: Spart weniger und geht shoppen! Das war am Anfang nötig, um die grosse Depression zu verhindern. Aber es ist nicht die Lösung der Probleme.

Jetzt ist der Schuldenberg in der Eurozone, aber auch in den USA und China so gross, dass eine starke Zinserhöhung dramatische Folgen hätte: Die Krise wäre sofort zurück.
Das ist das grosse Problem. Gegen den Schuldenberg können jedoch auch die Notenbanker nichts tun. Die Politiker müssten die Anreize für das Ausgabeverhalten, Kreditvergabe und Investitionen ändern.

Ritter der Zentralbanken

Paul Tucker (60) trat nach dem Studium am Trinity College in Cambridge 1980 in die britische Notenbank Bank of England ein. 2009 wurde er unter dem damaligen Gouverneur Mervyn King Vize-Chef und verantwortlich für die Systemstabilität. 2012 soll er gemäss «Wall Street Journal» die Grossbank Barclays zur Senkung des Liborsatzes angehalten haben. Die Regulierungsbehörde FSA sprach ihn anschliessend von diesem Vorwurf frei. Statt Tucker wurde der Kanadier Mark Carney Gouverneur der Bank of England. Tucker lehrt seitdem in Harvard und wurde 2014 von der Queen für seine Verdienste für das Zentralbanken-System zum Ritter geschlagen. Er gilt als Nachfolgekandidat für Carney, der im nächsten Jahr abtritt.

Paul Tucker
Quelle: François Wavre für BILANZ

Auch sonst haben die Notenbanker ihre Macht stark ausgebaut.
Sie investieren in grossem Stil in Aktien und Anleihen und sind damit ein dominanter Marktteilnehmer – die EZB etwa hält mehr als 20 Prozent der europäischen Staatsanleihen. Hinter all diesen Käufen steht immer ein Auswahlprozess, etwa wenn die Nationalbank Aktien von Apple statt von Amazon kauft. Damit macht sie sich zum Richter über Gewinner und Verlierer am Finanzmarkt – ohne genügende demokratische Legitimation. In der Finanzkrise wurden gewisse Institute – Bear Stearns oder UBS – gerettet, andere wie Lehman Brothers nicht – das ist Willkür. Die Notenbanken steuern über den Hypothekarzins auch den Immobilienmarkt. Die Negativzinsen, wie sie auch hier in der Schweiz existieren, sind de facto eine Art Steuer auf Geldhaltung. Doch Steuern werden in einer Demokratie eigentlich vom Parlament, also von gewählten Volksvertretern, erhoben.

Wie sollte man die Macht beschränken?
Die Notenbanken müssen sich wieder auf Geldpolitik konzentrieren. Die Politik muss die Macht beschneiden und viel klarere Zielsetzungen geben. Und die Notenbanken müssen transparenter werden und eine offene Diskussionskultur pflegen.

Was braucht es dazu?
Wichtig ist, dass die Führung der Notenbanken eine richtige Grösse hat, um Diskussionen zuzulassen und wahre Abstimmungen zu ermöglichen. Deswegen ist die Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle so zentral: Sie liefern der Öffentlichkeit ein Abbild der Diskussionskultur. Auch sollten die Notenbanken mehrmals im Jahr vor dem Parlament Rechenschaft ablegen.

Wie steht da die Schweizer Nationalbank im internationalen Vergleich da?
Es hat mich sehr erstaunt, dass im Land der direkten Demokratie die Unabhängigkeit der Nationalbank nicht via eine Volksabstimmung festgelegt wurde.

Sie veröffentlicht auch ihre Protokolle nicht.
Das ist ein Fehler. Sie sollte das tun.

«Bei einem Gremium, das über Jahre hinweg angeblich immer einer Meinung ist, stimmt irgendetwas nicht.»

Paul Tucker

Das Direktorium besteht nur aus drei Mitgliedern. Eine gute Zahl?
Das Team sollte grösser sein. Bei der Bank of England sind es neun Mitglieder, das mag für die Schweiz zu gross sein, für Grossbritannien ist es passend. Den EZB-Rat mit 25 Mitgliedern halte ich dagegen für zu gross. Für ein Land in der Grösse der Schweiz scheinen mir fünf Direktoriumsmitglieder eine gute Zahl. Bei drei Mitgliedern ist die Gefahr gross, dass es persönlich wird, wenn sich zwei gegen einen verbünden – da kommen schnell zu viele Emotionen ins Spiel. Man muss sich auch komfortabel fühlen, in einer Minderheit zu sein. Aber Transparenz ist wirklich wichtig. Wenn die Öffentlichkeit die Meinungsverschiedenheiten sieht, dann sieht sie auch, was diskutiert wurde.

In der Schweiz gilt der Präsident schon aufgrund seiner langen Erfahrung als deutlich mächtiger als seine beiden Mitstreiter im Direktorium.
Bei einem Gremium, das über Jahre hinweg angeblich immer einer Meinung ist, stimmt irgendetwas nicht. In Grossbritannien wurde der Governor zu meiner Zeit manchmal überstimmt. Das ist gut. Die Macht der Zentralbanken ist eher neu etwa im Vergleich zur Macht der Judikative, in vielen Ländern muss sich das noch austarieren. Der Präsident sollte dem Gremium vorstehen, aber kein Diktator sein. Bei der Bank of England hatten wir in den zwanziger Jahren einen Governor, der viel zu mächtig war und dessen Amtsführung sich im Nachhinein als verheerend entpuppte. Montagu Norman war sein Name. Die Moral ist: Man sollte nie zu viel Macht in eine Hand geben.

Reicht das, um die Macht zu beschränken?
Grundsätzlich gilt: Der Auftrag muss klar definiert sein. Je vager der Auftrag, umso grösser die Möglichkeit, sich als Politiker aufzuspielen. Das gilt nicht nur für die Notenbanken, sondern auch für die Regulatoren. Wenn man einem unabhängigen Regulator nur ein sehr vages Ziel gibt mit drei oder vier Zielsetzungen, dann wird er der wahre Politiker.

Paul Tucker und Dirk Schütz

Im Gespräch: Paul Tucker und BILANZ-Chefredaktor Dirk Schütz.

Quelle: François Wavre für BILANZ

Diese Vorwürfe machen immer mehr Politiker hierzulande auch der Finma.
Der Regulator definiert dann in der Praxis eigenmächtig, was sein Ziel ist, so ist es auch in Grossbritannien oder den USA. Das ist nicht gut, und der Unmut der Betroffenen steigt.

Zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise ist auch die Macht dieser Super-Behörden gross wie nie.
Am Anfang war das nötig, aber es wäre besser gewesen, wenn diese Macht durch eine klare Zielsetzung der Politiker begründet worden wäre.

Was lässt sich dagegen tun?
Auch sie sollten transparenter sein. In England haben wir etwa das Financial Policy Committee, das publiziert seine Sitzungsprotokolle. Doch die ihm unterstellte Finanzaufsicht PRA macht das nicht. Sie sollte mehr publizieren, damit wir die verschiedenen Sichtweisen sehen. Auch sollte der Regulator jedes Jahr für das Budget zum Parlament zurückgehen, das ist ein gesunder Prozess.

«Notenbank-Chefs sollten sich fernhalten von Themen, die nichts mit ihrer Verantwortung zu tun haben.»

Paul Tucker

Wie weit sollten sich Notenbank-Chefs in aktuelle Debatten einschalten? Der Bank-of-England-Gouverneur Mark Carney gab sich als offener Gegner des Brexit.
Sie sollten sich fernhalten von Themen, die nichts mit ihrer Verantwortung zu tun haben. Der frühere Governor der Bank of India etwa äusserte sich zu Hindu-Moslem-Themen. Das war ein Fehler, der ihn wohl den Job kostete. Die Ex-Fed-Chefin Janet Yellen sprach über Ungleichheit in den USA, ebenfalls ohne Verbindung zur Fed oder zur Geldpolitik. Das brachte ihr Kritik im Kongress ein.

Also hätte Carney zum Brexit besser schweigen sollen?
Es gehört zu den Aufgaben der Zentralbank, Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung zu machen. Die englische Notenbank hatte nur die Wahl, ob sie sich auf eine Prognose festlegte oder vor allem mit Szenarien ohne Empfehlung arbeitete. Sie sprachen sich klar gegen den Brexit aus. Einige Beobachter hielten es für fantastisch, andere für sehr schlecht.

Geholfen hat es nicht.
Es hat das Ergebnis nicht beeinflusst.

Vielleicht war es sogar kontraproduktiv.
Auf viele Engländer mag es befremdend gewirkt haben, dass multinationale Organisationen wie IMF, OECD, aber auch ausländische Politiker und ungewählte britische Offizielle gegen den Brexit kämpften.

Wurde die Bank of England als arrogant angesehen?
Das kann ich nicht sagen. Ich komme aus Mittelengland. Meine Erfahrung ist, dass die Engländer eine sehr hohe Toleranzschwelle haben, wenn sie allerdings überschritten wird, kommt es zu einer harten Reaktion.

Schwarz oder weiss, Herr Tucker?

Inflation oder Deflation?
In Europa immer noch Deflation, aber weniger als in den letzten Jahren. In den USA: Inflation.

London oder Boston?
London – viel internationaler.

Draghi oder Powell?
Beides gute Männer.

Genf oder Zürich?
Ich muss Zürich sagen, denn ich bin bei der Swiss Re im Board.

Bier oder Wein?
In der Jugend Bier, jetzt Rotwein: Pinor noir.

Berg oder Meer?
Wasser, ich bin Brite: Mittelmeer.

Wie würde die Abstimmung heute ausgehen?
Unmöglich zu wissen. Die Umfragen suggerieren, dass das Ergebnis das gleiche wäre. Aber man weiss eben nicht, wie die Kampagnen aussehen würden. Die Brexit-Kampagne wäre wohl sehr ähnlich, die Remain-Kampagne dagegen sehr anders. Die Verhandlungen sind sicher viel schwieriger, als die Brexit-Befürworter gedacht haben. Wenn man fast 50 Jahre in einer Organisation dabei war und so stark verflochten ist, ist die Trennung sehr schwierig.

Grösstes Hindernis ist die Irland-Frage.
In einem Seminar in den USA sagte ich direkt nach dem Referendum: Die Irland-Frage wird ein riesiges Problem. Viele Zuhörer waren überrascht. Aber so ist es jetzt. Ich bin da kein Experte. Mein Land hat eine sehr spezielle Beziehung zu Irland. Kurzfristige Prognosen will ich da nicht wagen, sie sind ohnehin fast immer falsch.

Wie sollte sich Europa langfristig entwickeln?
Europa sollte zu einem System der konzentrischen Kreise werden. Darin befände sich im innersten Zirkel eine hoch integrierte Fiskal- und Monetär-Union, darum herum würde sich ein tiefer Binnenmarkt mit Personenfreizügigkeit bilden und darum herum eine Form von Freihandelssystem, für die wir keine freie Migration von Arbeitsplätzen benötigen. Da würden dann Grossbritannien und die Schweiz hineinpassen, aber auch die Türkei oder die Ukraine. Heute verlangt die EU leider zu viel bei ihren Eintrittskonditionen, vor allem bei der Personenfreizügigkeit. Dahinter steckt noch immer die Vision vom ultimativen Endpunkt einer politischen Union, von einer Art europäischem Bundesstaat. Doch das ist unrealistisch.

Gibt es eine Achse zwischen Grossbritannien und der Schweiz?
Es gibt Parallelen. Wir sind wie die Schweiz ein grosser Handelspartner der EU. Allerdings hat die Schweiz den grossen Vorteil, dass sie ihre Beziehungen zur EU über Jahre langsam aufgebaut hat.

Wie schlimm wird der Brexit für die britische Wirtschaft?
Ich war ein Remainer. Aber dennoch sollten wir die negativen Folgen nicht überschätzen. Für den Wohlstand eines Landes sind zwei Faktoren entscheidend: Die Offenheit der Volkswirtschaft und die Verfügbarkeit der Arbeitskräfte. Das ist das Erstaunliche seit dem Zweiten Weltkrieg: Deutschland war zerstört, Frankreich und Italien lagen am Boden, Grossbritannien war de facto bankrott, die USA und die Schweiz dagegen nicht sehr stark betroffen. Die Ausgangspunkte waren also sehr unterschiedlich. Doch wenn man das Wirtschaftswachstum zwischen 1946 und 2000 analysiert, so sind die Ergebnisse fast identisch – obwohl die Systeme so verschieden sind. Das heisst: Langfristig sollte man die EU-Frage nicht überschätzen. Zentral ist die Offenheit der Volkswirtschaft – sie müssen unsere Politiker verteidigen.

Ist der Brexit nicht vor allem ein Entscheid gegen diese Offenheit?
Das muss er nicht sein. Wir haben eine grosse Tradition des Freihandels in Grossbritannien. Doch ob offen oder geschlossen: Das sind Entscheidungen von gewählten Politikern. Und nicht von Technokraten in Super-Behörden.

Dieses Interview erschien in der Juli-Ausgabe 07/2018 der BILANZ.

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