Wenige Leute könnten die Spratly-Inseln, Fessan oder Narwa im Atlas lokalisieren. Dennoch drohen die Inselgruppe im Südchinesischen Meer, die libysche Provinz und die estnische Stadt an der Grenze zu Russland im nächsten Jahr prominent in den Krisennachrichten aufzutauchen.

Wenn Experten über mögliche böse Überraschungen im nächsten Jahr debattieren, tauchen bestimmte Szenarien immer wieder auf: ein Konflikt zwischen China und einem seiner Nachbarn wegen einiger spärlich besiedelter Inseln, ein erneuter Vorstoss islamischer Rebellen aus dem Süden Libyens nach Westafrika, ein Vordringen Russlands ins Baltikum, ein israelischer Schlag gegen den Iran und ein weiter anhaltender Verfall beim Ölpreis, der Länder von Russland bis Venezuela destabilisiert.

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Wenige sahen die Ukraine-Krise kommen

«Man kann nie die nächste Krise vorhersagen, aber wir können einige Regionen erkennen, die gute Voraussetzungen dafür haben», sagt Michael Clarke, Generaldirektor beim Forschungsinstitut Royal United Services Institute in London. «Wir wissen nicht, wo die Maus herausspringt, aber wir wissen, wo die Fallen aufgestellt sind.»

Nur wenige Analysten prognostizierten, dass das von der Regierung Janukowitsch nicht unterzeichnete Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der Europäischen Union sich zum heftigsten Konflikt mit Russland seit dem Ende des Kalten Krieges entwickeln würde. Und die Stärke der Terrororganisation Islamischer Staat wurde in vielen Ländern unterschätzt, bevor sie im Irak erfolgreich angriff.

Eingefrorene Konflikte beschäftigen auch 2015

«Geopolitische Risiken werden im nächsten Jahr vorherrschen: Keiner der Konflikte aus diesem Jahr, ob Ukraine, Mittlerer Osten oder Streitigkeiten zwischen China und Japan, sind beigelegt worden», erklärt Russ Koesterich, Chef-Investmentstratege bei BlackRock Inc. in New York. «Diese eingefrorenen Konflikte werden uns noch einige Zeit lang erhalten bleiben und sie werden immer wieder auftauchen, wie sie es schon 2014 getan haben.»

Politische Turbulenzen könnten auch aus Parlamentswahlen in Griechenland und Grossbritannien erwachsen. In beiden Ländern könnten Parteien vom Rande des politischen Spektrums die etablierte Ordnung durcheinanderzubringen.

Wetten gegen Venezuela

Der fallende Ölpreis hat den russischen Rubel in diesem Jahr um 52 Prozent nach unten gedrückt, der venezolanische Bolivar ist um 65 Prozent eingebrochen. Swap-Händler setzen mit überwältigender Mehrheit auf einen Zahlungsausfall des südamerikanischen Landes.

«Ein Dezember, in dem wir uns über so viele Risiken Sorgen machen mussten, ist mir kaum erinnerlich», sagte Barry Pavel, Direktor des Brent Scowcroft Centers für Internationale Sicherheit beim der US-Denkfabrik Atlantic Council.

Das chinesische Meer und Osteuropa

In den Gewässern vor China - wichtigen Handelsrouten - stehen sich Streitkräfte so vieler verschiedener Länder gegenüber wie sonst nirgendwo. China streitet sich mit Japan, Korea, Vietnam, Taiwan, den Philippinen, Malaysia und Brunei um Inseln und Souveränitätsrechte über Seegebiete.

Die Spannungen in Osteuropa könnten ebenfalls zu Verwerfungen führen. «Die Krise in der Ukraine wird sich vielleicht nicht mehr verschärfen, aber es besteht das Risiko, dass Russland auf andere Länder Druck ausübt, entweder auf NATO- Mitglieder im Baltikum oder mittelasiatische Länder, die Vorbehalte gegen die Eurasische Wirtschaftsunion haben», kommentiert Stefano Silvestri, Präsident des Instituts für Internationale Angelegenheiten in Rom.

In Regionen von Estland, Lettland, Moldawien und Kasachstan gibt es grosse russische ethnische Minderheiten, beispielsweise in der estnischen Stadt Narwa.

Was bewirkt der Ölpreis in Russland?

Dabei kann auch der Einbruch des Ölpreises eine Rolle spielen. Wenn Russland durch den Verfall beim Ölpreis destabilisiert werde, könnte die Regierung sich entscheiden, von der schlechten wirtschaftlichen Lage durch eine Verschärfung des Konfliktes in der Ukraine abzulenken und auf die Nationalismus- Karte zu setzen, beschreibt Geoffrey Pazzanese, Fondsmanager bei Federated Investors Inc. in New York.

Nachdem sich ein grosser Teil Europas immer noch von der Euro-Schuldenkrise erholt, wäre eine Verschlimmerung der Lage in der Ukraine «das Ereignis, das die weltweiten Märkte am stärksten durcheinanderbringen könnte», erläuterte Paul Christopher, Chef-Stratege für internationale Investments bei Wells Fargo Advisors LLC.

IS bleibt eine Bedrohung

Die Krise zwischen Russland und der Ukraine wurde in einer Bloomberg-Umfrage unter 84 Volkswirten als das grösste geopolitische Risiko für 2015 gesehen. Auf den zweiten Platz kam die Lage im Mittleren Osten mit dem Islamischen Staat.

Die Terrororganisation, die im Sommer 2014 von ihrer Basis in Raqqa einen grossen Teil des Iraks überrannte, ist zwar von den Luftangriffen der USA und ihrer Verbündeten geschwächt worden. Dennoch verfolgt sie weiterhin die Absicht, ihr Kalifat weiter auszudehnen, und hat eine destabilisierende Wirkung in der Region. Rund 3000 Kämpfer aus Westeuropa haben sich dem Islamischen Staat angeschlossen, was die Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen durch Rückkehrer erhöht.

Was die positiven Meldungen sein könnten

Trotz aller Probleme gibt es jedoch auch die Chance auf gute Nachrichten im kommenden Jahr. Der seit drei Jahrzehnten anhaltende Konflikt zwischen dem Iran und den USA könnte durch eine Einigung über das Atomprogramm des Irans beigelegt werden.

Und die führenden Politiker in China und Russland wissen als gute Schachspieler wahrscheinlich, wann es an der Zeit ist, sich von Konflikten an der Landesgrenze zurückzuziehen. Beim Islamischen Staat könnte genau die von der Organisation verfolgte Strategie extremer Gewalt zu ihrem Ende führen - genauso, wie es mit der Vorläuferorganisation im Irak geschah.

(bloomberg/gku)