Touristen wenden sich manchmal an ortskundige Berliner mit der Frage: «Entschuldigung, ist das jetzt hier Westen oder Osten?» Gemeint ist: West- oder Ostdeutschland vor dem Fall der Mauer. Dass die Spurensuche Probleme bereitet, zeigt: Der Verlauf des «antifaschistischen Schutzwalles» ist heute im Stadtbild Berlins nur noch wenig sichtbar. Der 155 Kilometer lange Koloss aus Stahlbeton, der bis am Sonntag vor 25 Jahren die Welt teilte, ist nur noch mit gutem Willen aufzuspüren.

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Dabei ist andererseits die Mauer präsenter denn je – und zwar in Denkmälern auf der ganzen Welt. In 40 Ländern stehen heute 140 Erinnerungsstätten, in denen Originalteile verbaut sind. Mauersegmente erinnern in Tirana in Albanien an die Schrecken des Kommunismus, sind hinter dem Europäischen Parlament in Brüssel und vor dem Hard Rock Café in Orlando, Florida, platziert. Auch in der Schweiz ist ein Mauerbrocken im Olympischen Museum in Lausanne ausgestellt. Und, ja: Einige Mauerteile zieren die Wände eines Männerklos in Las Vegas (siehe Bildergalerie oben).

Die Mauer ist ein Millionengeschäft

«Die Mauer boomt», sagt Wieland Giebel, Gründer des Berlin Story Verlages. In den drei Filialen im Zentrum der deutschen Hauptstadt und per Webshop verkauft Giebel Literatur zur deutschen Teilung – und Teile der Berliner Mauer. Seit fünf Jahren steigt das Interesse bei seiner Kundschaft stark an, so Giebel, jetzt vor dem 25. Jahrestag würden die wichtigsten Bücher «zu Hunderten» nachbestellt.

Auch der Verkauf von Mauerstückchen läuft gut. Das Volumen ist nicht zu unterschätzen: Rund zwei Millionen Euro pro Jahr nehmen allein die Berliner Anbieter nur durch den Verkauf von Original-Betonstücken ein, sagt Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und Herausgeberin des Sachbuches «Die Berliner Mauer in der Welt». «Und das ist konservativ geschätzt.»

Der Handel mit Teilen der Mauer floriert seit den ersten Tagen nach dem Mauerfall, wie Historiker Ronny Heidenreich in einem Kapitel des Werkes analysiert. Mit Hammer und Meissel sicherten sich viele private Mauerspechte ihren Anteil am historischen Beton. Findige US-Touristen transportieren ihre wertvolle Beute gleich zentnerweise ins Ausland – Weihnachten 1989 fanden die Brocken reissenden Absatz in amerikanischen Grossstädten.

Die DDR-Führung verdiente zwei Millionen D-Mark

Auch die DDR-Führung kam bald auf die Idee, mit den lukrativen Geschäften ihre klamme Staatskasse aufzufüllen. Der Plan ging nicht auf: Zwar nahm die scheidende Regierung bis Mitte 1991 rund zwei Millionen D-Mark ein und das westdeutsche Verteidigungsministerium sogar sechs Millionen. Dem gegenüber standen aber an die 170 Millionen D-Mark, die der Abriss des Grenzstreifens den Fiskus gekostet hat.

95 Prozent der Mauersegmente wurden geschreddert und im Strassenbau wiederverwandt. Doch bei rund 45'000 Mauersegmenten insgesamt bleibt da noch immer eine Menge übrig. Rund 500 der Mauerteile wurden bis heute ins Ausland geliefert. Und das Interesse ist noch immer gross: Verlagsgründer Wiebel hat erst vergangene Woche drei Mauersegmente verkauft. Kostenpunkt: 7000 Euro in unbemaltem Zustand und 11'900 Euro mit (nachträglich aufgebrachtem) Graffito.  Zwei der Mauerteile bleiben in Berlin und schmücken bald den dortigen Standort der Wirtschaftsberatung PriceWaterhouseCoopers. Ein Segment geht nach Washington, D.C., ins Museum für Spionage.

Die Mauer eliminieren

Das Geschäft mit der Mauer war von Anfang an  umstritten. Zwar wünschten sich die Berliner Anfang der 90er-Jahre, das ungeliebte Bauwerk aus dem Stadtbild zu eliminieren. Der Gedanke an einen Erhalt als Denkmal erschien zwar vielen absurd. Doch dass private Verkäufer Geld an dem zerlegten Monument verdienten, sorgte für Unmut.

Auch für Wissenschaftlerin Anna Kaminsky ist die Art des Gedenkens von Bedeutung. «Ich kann das Bedürfnis, ein Teil der Mauer zu besitzen, menschlich zwar nachvollziehen. Ich stehe dem Handel mit Mauerteilen dennoch sehr zwiegespalten gegenüber.»

«Als Botschaft für den Freiheitswillen»

Wichtig sei, dass die exportierten Mauersegmente in den richtigen Kontext gestellt und auch erläutert würden.  «Die meisten Mauerdenkmäler sind als Botschaft für den Freiheitswillen in die Welt gereist, damit haben sie ihren Zweck erfüllt», sagt Kaminsky. Es gebe aber leider auch Segmente, die im Enthusiasmus nach dem Mauerfall installiert wurden und deren Bedeutung in Vergessenheit gerät.

In dieser Hinsicht hat Berlin aufgeholt. Lange tat sich die Stadt schwer mit dem Erinnern an die Teilung. Jetzt kümmern sich Dutzende Stiftungen und Einrichtungen darum. Seit dem 20. Jahrestag im Jahr 2009 ist unter anderem die Gedenkstätte Bernauer Strasse ausgebaut worden – der einzige Ort in Berlin, wo die Mauer noch in voller Tiefe zu sehen ist, mit Wachweg und Sicherungsystemen. 

Mauerverlauf per App

Auch am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie informiert nun eine interaktive Chronik über die Zeit der Teilung, und wer den Verlauf der Mauer vollständig nachvollziehen möchte, kann das per App oder mit dem Fahrrad auf einem ausgebauten Rundweg tun.

«Vor zehn Jahren hätte ich gesagt, dass ich nicht zufrieden mit dem Gedenken an die Mauer bin», sagt Kaminsky. «Doch jetzt sind wir auf einem guten Weg.»