Nach den Anschlägen in Paris steigt in Europa die Angst vor weiteren Terrorattacken. In der Schweiz stellen sich viele Menschen die Frage, ob sich solche brutale Szenen auch hierzulande abspielen könnten.

Aus Sicht des Bundes ist die Terrorgefahr in der Schweiz zuletzt leicht gestiegen – die Schweiz sei aber kein «Hauptziel» von Terrororganisationen, heisst es. Bundesrat Ueli Maurer sagte, ein Anschlag in der Schweiz «vorstellbar», konkrete Hinweise gebe es aber keine.

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Das Risiko von Anschlägen in der Schweiz bestehe, sagt dagegen Sicherheitsexperte Alexandre Vautravers, die Politik habe das Problem aber zu lange nicht Ernst genommen. In fast keinem anderen Land gebe es so wenige Polizisten pro Einwohner, so der Wissenschaftler, der am Genfer Zentrum für Sicherheitsstudien GCSP forscht. Im Interview erklärt er, an welcher Stelle Nachbesserungen nötig sind. 

Alexandre Vautravers, kann ein solcher Anschlag wie in Paris auch in der Schweiz stattfinden?
Alexandre Vautravers*: Das Risiko besteht. Viele Terrornetzwerke haben Verbindungen zur Schweiz – beispielsweise hatten zwei der Attentäter, welche im Januar die Pariser Redaktion von Charlie Hebdo angegriffen haben, einen Schweizer Mentor. Es ist ein Fakt, dass französische Terrorgruppen Kontakte zur Schweiz pflegen.

Der IS hat den Anschlag in Paris aber mit Frankreichs Kampf gegen die Terrormiliz begründet.
Wenn Sie die terroristische Propaganda der Islamisten lesen, sehen Sie, dass der Westen an sich ein Angriffsziel ist. Die Schweiz ist politisch und wirtschaftlich Teil des Westens. Terroristen suchen sich einfach angreifbare, prominente Ziele mit symbolischem Wert. Solche gibt es auch in der Schweiz, zum Beispiel internationale Organisationen.

Geht eine Gefahr von den rund 70 Schweizer Dschihad-Reisenden aus?
Sie stellen eine der Gefahren dar. Die Gruppe potenzieller Terroristen in der Schweiz ist aber deutlich grösser – jede dieser Personen hat Unterstützer und Sympathisanten.

Unternimmt die Schweiz genug, um terroristische Anschläge zu verhindern?
Unser Sicherheitssystem ist nur für Schönwetterperioden vorbereitet. Frankreich kann innert Kürze 8000 Polizisten und 12'000 Soldaten aufbieten – die Schweiz schafft das nicht einmal innert einer Woche. In fast keinem anderen Land gibt es so wenige Polizisten pro Einwohner. Die Politik hat in den letzten Jahren das Risiko kleingeredet. Sicherheit kostet Geld.

Es braucht grössere Anstrengungen?
Der Nachrichtendienst arbeitet aus politischen Gründen immer noch wie in den 80er Jahren. Er muss mit modernen Mitteln arbeiten können – und doch wird nun über das neue Nachrichtengesetz ein Referendum abgehalten. Auch auf gesetzgeberischer Ebene besteht Handlungsbedarf. Terrorismus wird vom Gesetz immer noch als Akt von Einzelnen behandelt, obwohl solche Anschläge oft von Gruppen ausgehen.

Muss Europa mit weiteren Anschlägen rechnen?
Wie bei einem Erdbeben sind auch hier Nachbeben wahrscheinlich. Die Sicherheitsmassnahmen und die politische Reaktion auf das Attentat könnten neue Attentate begünstigen. Zudem sind diese Terrororganisationen sehr anpassungsfähig. Nach den Anschlägen in Paris letzten Januar sind neue Instruktionen aufgetaucht, wie bei Attentaten vorzugehen ist. Die Unterschiede waren bereits letzten Freitag zu sehen:  Im Januar hatten die Terroristen Handfeuerwaffen benutzt – jetzt waren sie mit kugelsicheren Westen und schweren Waffen ausgerüstet. Kommt es zu einem weiteren Attentat, wird dieses vermutlich wiederum nicht 1:1 wie die Pariser Anschläge verübt werden.

*Alexandre Vautravers ist Professor für Internationale Beziehungen an der Webster University in Genf und forscht am Genfer Zentrum für Sicherheitsstudien GCSP.