Mit Hilfe von Sensoren, Trackern und mobilen Technologien stehen Kunden immer mehr Daten zur Selbstvermessung und zum Selbstmonitoring zur Verfügung. Big Data sowie die Veränderung im Nachfrageverhalten treiben auch die Versicherungswirtschaft um. Denn, wenn sie über genauere Informationen verfügen, können Versicherer das Risikoprofil eines Individuums präziser einschätzen, Kunden individueller ansprechen und sowohl in den Preisen als auch im Dienstleistungsangebot stärker differenzieren.

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So haben Versicherungsgesellschaften begonnen, mit Konzepten wie «Pay as you drive» oder «Pay as you live» zu experimentieren. Zurzeit sind vor allem Rabatte zu beobachten, beispielsweise für «sicheres» Autofahren («Axa Drive Check», «Allianz BonusDrive») oder für einen «gesunden» Lebensstil («Helsana +», «CSS mystep», «Swica Benevita», «Sanitas Active»-App). Diese sind oft mit Ansätzen individualisierter Informationen zu Prävention oder Früherkennung verbunden.
 

Unerwünschte Diskriminierung

Der Trend zur Personalisierung im Versicherungsmarkt hat gleichzeitig Kritik und Fragen aufgeworfen. Konsumentenschutzvertreter monierten kürzlich im Zusammenhang mit dem Bonusprogramm «Helsana+», dass kranke, unsportliche, technisch nicht versierte Personen oder solche, die Wert legen auf Datenschutz, mit diesem Bonusprogramm diskriminiert würden. Das Solidaritätsprinzip sei in Gefahr. Auch am Leader Forum des Schweizerischen Versicherungsverbands (SVV) stand die Frage, inwiefern Big Data und Digitalisierung das Solidaritätsprinzip in der Assekuranz gefährden, bei den CEOs der Mitgliedsgesellschaften auf der Agenda.

Ob Big Data zu einer Entsolidarisierung und somit zur Aushöhlung des Geschäftsmodells Versicherung führt, wurde im Rahmen einer Bachelorarbeit an der ZHAW School of Management and Law im Gespräch mit Experten untersucht. Dass sogenannte «risikogerechte» Prämien als ungerecht oder diskriminierend gesehen werden, ist nicht neu. Im März 2011 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass unterschiedliche Versicherungstarife für Männer und Frauen unzulässig sind. Das heisst beispielsweise für die Motorfahrzeugversicherung, dass das Geschlecht nicht mehr als Risikofaktor berücksichtigt werden darf, obwohl Frauen statistisch gesehen im Strassenverkehr weniger und auch weniger schwerwiegende Unfälle als Männer verursachen. Mit dem Diskriminierungsverbot ändert sich das Prinzip von der Risikoäquivalenz zur Risikosolidarität. Big Data hat nun die Diskussion um Gerechtigkeit, Diskriminierung und Entsolidarisierung neu entfacht.

 

Unterschiedliche Solidarprinzipien

Um die Fragen zu beantworten, ob Entsolidarisierung droht und was die Konsequenzen von Big Data für das Geschäftsmodell der Versicherer sind, muss der Begriff Solidarität kurz beleuchtet werden, denn die Perspektive treibt mitunter die normative Gewichtung des Begriffs. In der Privatversicherung kommt der Begriff Solidarität zum Tragen, wenn es um den Beitrag der Mitglieder zum Versicherungskollektiv geht. Soll jeder Versicherungsnehmer die individuell zu erwartenden Versicherungsleistungen im Minimum vollständig decken, kommt das Prinzip der aktuariellen Fairness oder das Äquivalenzprinzip zur Anwendung. Privatversicherer benutzen diesbezüglich auch den Begriff der «risikogerechten» Prämie. Dabei geht es nicht darum, dass jeder Versicherte seine Schäden selbst finanziert, sondern darum, dass im Minimum der Gesamtschadenbedarf des Kollektivs gedeckt wird. Der Schadenbedarf des Einzelnen ist und bleibt zufällig in Bezug auf Eintritt und Höhe. In der Sozialversicherung dominiert hingegen ein Solidaritätsverständnis, das primär Aspekte der Umverteilung zwischen Alt und Jung, Kranken und Gesunden, Ledigen und Familien in den Vordergrund rückt. Das individuelle Risiko hat keinen oder einen geringen Einfluss auf die Prämienhöhe.

Somit liegen der Privat- und der Sozialversicherung unterschiedliche Solidarprinzipen zugrunde. Trotzdem dreht sich die Diskussion in beiden Sparten im Kern um die Frage, ob die «schlechten Risiken» bestraft werden sollen, falls die «guten Risiken» mit niedrigeren Preisen belohnt werden.Denn auch mit immer kleineren Tarifsegmenten gilt als Grundvoraussetzung für die finanzielle Stabilität des Versicherers, dass die kollektive Prämie über die Zeit den Schadenbedarf des Kollektivs abdecken muss.

Kommt es also zum «Cherry-Picking» der guten Risiken seitens der Versicherer? Bedeutet dies in der Konsequenz, dass Personen, die weniger gut Auto fahren oder weniger gesund leben, zukünftig mit hohen Prämien belastet oder gar aus dem Versicherungskollektiv ausgeschlossen werden? Werden Broker oder andere Intermediäre spezifische Risikogruppen bündeln und für diese bessere Bedingungen aushandeln?

 

«Selbst»-bewusste Kunden

Die interviewten Experten sind sich einig, dass die Zunahme an individuelleren Daten eine verstärkte Kundensegmentierung zur Folge hat. Allerdings ist es wichtig, die Brücke zwischen aktuarieller Kundensegmentierung und den Marktbedürfnissen herzustellen. Denn mobile Geräte, Sensoren, Apps und risikoindividuelle Versicherungen sowie deren Akzeptanz bei Kunden treiben die Marktdynamik. Die technologischen Möglichkeiten machen Kunden selektiver, «selbst»-bewusster und insgesamt anspruchsvoller. Darüber hinaus müssen Produkte Emotionen und Identifikationspotenziale erzeugen, in denen sich Kunden als Individuen wiedererkennen können. Somit müssen unterschiedliche Kundentypen auch mit differenzierten Produkten angesprochen werden, sind sich die befragten Experten einig.

Den Fokus einseitig auf die Preissensitivität zu legen, wäre der falsche Weg. Zwar können Versicherer, die einen Pionier- und Technologievorsprung haben, ihre Marge durch erhöhte Nachfrage und Kundenbindung mittelfristig verbessern, der Effekt ist aber zeitlich begrenzt, bis die Wettbewerber nachziehen. Das heisst, Versicherer werden vermehrt mit modulareren, flexibleren oder längerfristigen Produktangeboten sowie mit neuen Dienstleistungskomponenten Akzente setzen. Hierfür bietet Big Data viel Potenzial.

Der Kunde oder Patient wird autonomer, eigenverantwortlicher und selbstbestimmter, da er selbst Daten über sich sammeln und sich zusätzliches Wissen aneignen kann. Telematik- oder Vitality-Daten könnten sich so auch positiv auf die Prävention auswirken und den Schadenbedarf insgesamt senken. Dies hätte einen positiven gesellschaftlichen Nutzen. Ob dies die Solidarität wiederum stärken würde, sehen die Experten allerdings unterschiedlich. Denn Solidarität aus Kundensicht habe zwei Gesichter: Einerseits geht es um das Mitfinanzieren von (schlechten) Risiken, andererseits um die Schadensminimierung durch Verhaltensanpassung. Ambivalent sind auch die Meinungen bezüglich digitalem Monitoring. Auch wenn es über das Potenzial verfügt, das Verhalten der Versicherten zu verändern oder Ansatzpunkt für Dienstleistungen ist, kann es von Kunden schnell als übersteigerte Überwachung und Einmischung verstanden werden.

 

Neues Rollenverständnis

Die befragten Experten sind sich einig: Versicherer werden sich nebst der Aufgabe als Finanzierer vermehrt als Dienstleister und Coaches differenzieren und mit geeigneten Kooperationspartnern zusammenarbeiten müssen. Bereits absehbar ist, dass technische Entwicklungen wie beispielsweise selbstfahrende Autos heutige Versicherungsmodelle obsolet machen. Die Welt der Kunden wird zunehmend prädiktiv, präventiv, personalisiert und partizipativ. Die Veränderung im Kundenverhalten und die Verfügbarkeit von Daten werden die Rolle der Versicherer in den Ökosystemen von Kundenbedürfnissen verändern. Die Diskussion um Entsolidarisierung sollte nicht rein versicherungstechnisch betrachtet geführt werden, sondern auch unter Berücksichtigung der Nachfrage, des Wettbewerbes und des gesellschaftlichen Diskurses.

 

 

BOJANA SCHEUNER ist Fachspezialistin Personenversicherungen bei Kessler & Co. AG. DR. ANGELA ZEIER RÖSCHMANN ist Dozentin am Zentrum für Risk & Insurance der ZHAW School of Management and Law.