Auf die Frage des Besuchers, ob er angesichts des warmen Spätsommertages seine Jacke ausziehen dürfe, setzt der Hausherr ein jungenhaftes Lachen auf und antwortet mit der Gegenfrage, ob es dem Gast etwas ausmache, wenn er keine Krawatte trage. Berndt Hauptkorn steht der Sinn sowieso nicht danach, sich sogleich im Sitzungszimmer am Tessiner Hauptsitz von Bally zum Gespräch hinzusetzen.

Viel lieber führt er zuerst die neusten Schuhkreationen vor. Etwas zappelig präsentiert er unter anderem ein paar weisse Stiefeletten und ebenso weisse Ballerinaschuhe, die das eben eröffnete Geschäft in Wien als «Sissi-Kollektion» verkaufen soll. Doch eigentlich würde der Jungmädchentraum in Weiss eher in die Regale eines H&M-Geschäfts passen als in die luxuriös-kühl gestylten Bally-Verkaufsräume.

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Mit einem Leuchten im Gesicht sieht Hauptkorn den Besucher beifallheischend an. Und als von diesem keine Reaktion kommt, sagt der Bally-Chef das, was er gerne hätte hören wollen: «Sie spüren es, Bally ist für mich weitaus mehr als nur ein Arbeitgeber, die Marke liegt mir am Herzen.» Als er sich an den mächtigen Sitzungstisch setzt, wirkt er zierlich. Und ohne die markante, schwarze Hornbrille sieht Hauptkorn, obgleich 42 Jahre alt und Vater von drei Kindern, das jüngste eben geboren, wie ein kaufmännischer Lehrling aus.

Seine Stimme ist leise, aber klar. Doch er kann auch laut werden. Etwa als die Frage fällt, was ihn denn befähige, Bally zu leiten, schliesslich habe er als Absolvent eines Studiums der Betriebswirtschaft mit Mode nichts am Hut; er sei, überspitzt formuliert, eigentlich ein Erbsenzähler.

Da erhebt sich Berndt Hauptkorn leicht aus seinem Stuhl, fixiert den Besucher und sagt überlaut: «Ich bin kein Erbsenzähler», holt kurz Luft und stösst gepresst heraus, «obwohl ich wahrscheinlich Erbsen besser und schneller zähle als viele andere.» Nach einer Pause meint Hauptkorn wieder leise, fast zu sich selbst: «Ich bin eher ein Marketingmensch als ein Erbsenzähler.» Das war das einzige Mal im zweieinhalbstündigen Gespräch, dass der Deutsche aus sich herauskam.

Hauptkorn war als Siebenjähriger mit seiner Familie aus Rumänien nach München gezogen. Zu seinem Chefposten bei der Traditionsfirma Bally kam er unverhofft. Nach Jahren als Berater bei der Boston Consulting Group warb ihn Peter Harf ab. Harf, auch er früher bei Boston, investiert das Geld der deutschen Milliardärsfamilie Reimann spürbar gewinnbringend. 2007 gründete er in Wien Labelux und setzte Hauptkorn als CEO ein (siehe «Diskreter Luxus» unter 'Weitere Artikel').

Bally war Hauptkorns teuerster Einkauf für Labelux. Im Frühling 2009 schmiss der damalige Bally-CEO Marco Franchini das Handtuch. Bis heute liegen die Gründe im Dunkeln; der gebürtige Italiener wohnt im Tessin, doch seit Monaten nimmt er das Telefon nicht ab, auch Bekannte wissen nicht, was er treibt. «Marco hat einen Superjob gemacht. Doch als mit Labelux ein neuer Shareholder kam, wollte er sich neu orientieren. Mehr ist hinter seinem Abgang nicht zu suchen», sagt Hauptkorn, um Spekulationen die Spitze zu brechen.

In der Pflicht. Nach Franchinis unerwartetem Auszug fühlte sich Berndt Hauptkorn in der Pflicht; er übernahm ad interim die Führung. Erst sechs Monate danach wurde ein neuer CEO präsentiert: Berndt Hauptkorn.

Herr Hauptkorn, sind Sie eine Notlösung? «Der Labelux-Verwaltungsrat hat diverse Optionen geprüft und sich danach für mich entschieden», entgegnet dieser. «Ich glaube, das war richtig.» An Selbstbewusstsein mangelt es dem Jungmanager jedenfalls nicht. Er lebt seit rund zwei Jahren mit der Familie in Norditalien, einige Kilometer von der Grenze und dem Bally-Hauptsitz in Caslano entfernt.

Bei der Tessiner Firma fand er, was er bei Boston Consulting und Labelux vermisst hatte: operativ ein Unternehmen zu führen. «Bally ist eine fantastische Marke. Doch für mich war das auch eine schlafende Schönheit. Was ist reizvoller für einen Manager, als eine schöne Prinzessin wachzuküssen», schwärmt Hauptkorn. Dass Bally wachgeküsst werden muss, dem hätte wohl der damalige Chefdesigner heftig widersprochen: Brian Atwood, 2007 von Franchini zu Bally geholt. Der Stil des hoch talentierten Schuhmachers aus Chicago, turmhohe Stilettos und extravagante Pumps, entsprach zwar nicht gerade dem Bally-Credo. Dafür war in kürzester Zeit das verstaubte Image des Schuh- und Handtaschenproduzenten wieder auf Hochglanz poliert. Die internationale Modepresse überschlug sich bei der ersten Atwood-Kollektion vor Lob, schrieb von «neuer Sexiness» und dem «Ende schweizerischer Biederkeit».

Eine der ersten Handlungen des neuen CEO war der Rausschmiss Atwoods. «Die graue Maus Hauptkorn und der Paradiesvogel Atwood, diese Mischung konnte nicht gut gehen», meint eine Modejournalistin. Hauptkorn will von Rausschmiss nichts wissen, doch de facto war es einer. Denn er verlangte von Atwood, dass der sich nur noch auf Bally konzentriere, also seine eigene Schuhkollektion aufgebe. Hauptkorn wie Branchenkennern war klar, dass der Amerikaner dem nie zustimmen würde – er ging. «Brian sagte, seine eigene Marke sei ihm sehr wichtig», meint Hauptkorn emotionslos. Bally sei doch kein Freizeitjob, murmelt er noch.

Das Superduo. Also machte sich der Bally-Chef auf, über Headhunter einen neuen Kreativdirektor zu suchen. Und wurde fündig in London – mit Graeme Fidler und Michael Herz gleich im Duopack. Zwar war Hauptkorn anfänglich nur an einem Designer interessiert, wollte dann aber, nachdem er beide getroffen hatte, das «Superduo» nicht sprengen. Fidler und Herz lernten sich vor sieben Jahren bei Aquascutum in London kennen. Aquascutum nennt sich ein wasserabstossender Stoff, dessen Erfindung die Basis für den Erfolg der britischen Traditionsfirma bildete.

Michael Herz befasste sich bei Aquascutum mit Frauenkollektionen, Graeme Fidler als eine Art Gegenpol mit Männermode. Und dies mit Erfolg. «Sie haben gute Arbeit geleistet. Das britische Label erlebte auch dank den beiden Designern einen Hype und eine Verjüngung», zollt Silvia Binggeli, stellvertretende Lifestyle-Chefin der Modezeitschrift «Annabelle», Beifall. Doch obwohl ihre Kollektionen in der Modewelt gut ankamen, «gehören sie nicht zu den bekanntesten Designern», so die Modejournalistin.

Berndt Hauptkorn hat den Briten goldene Brücken gebaut. So wurde kurzerhand das gesamte Bally-Designzentrum von Mailand nach London verschoben. Inzwischen entwerfen und zeichnen «zwei Handvoll» Designer im «Creative Hub» in London. «Ich wollte Graeme und Michael nicht verpflanzen, das hätte auf ihre Kreativität einen schlechten Einfluss haben können», erläutert Hauptkorn in fast schon väterlichem Ton. In Mailand belassen wurden einzig die Showräume, wo neue Kollektionen präsentiert und Bestellungen entgegengenommen werden.

Seit diesem Frühjahr können die neuen Bally-Boys zeigen, was in ihnen steckt. Sie haben kaum angefangen, da attestiert ihnen die Firmenleitung bereits «einzigartiges Verständnis für die Traditionsmarken des Hauses». Das Kreativ-Duo verdankt die Vorschusslorbeeren mit Euphorie. «Das ist eine aufregende Gelegenheit, um unsere Erfahrungen als Designer zusammenzuführen. Nun haben wir die Chance, mit einem Team nicht nur an saisonalen Kollektionen zu arbeiten oder Fashionshows vorzubereiten, sondern auch bei Werbekampagnen mitzureden», schwärmt Michael Herz.

Berndt Hauptkorn wird nicht müde zu betonen, Bally sei weder ein amerikanischer noch ein italienischer Schuhfabrikant. Vielmehr solle wieder eine nordeuropäische Handschrift zu erkennen sein. Ob das Luxuslabel mit den Kollektionen des neuen Designerteams bei den Kunden ankommt, muss sich erst noch weisen. Ersten Arbeiten von Fidler/Herz hat die Modewelt applaudiert. So haben sie, gleich nach ihrem Antritt, eine Männerlinie für Frühling/Sommer 2011 entworfen. «Die erste Kollektion ist modern und jung, hat dennoch Klasse und verkörpert sehr gut den Geist des Hauses Bally», schwärmt Sithara Atasoy, Chefredaktorin von «Bolero». Und sie fügt an: «Eine beachtliche Leistung, denn die beiden hatten nur fünf Wochen Zeit.»

Als Handicap erweisen könnte sich dagegen, dass Fidler wie auch Herz keine Erfahrung im Schuhdesign mitbringen – und dies bei einem Unternehmen, das seinen Ruhm auf Schuhen begründet und damit bis heute die Hälfte des Umsatzes macht. Darüber machen sich die beiden Londoner keine Gedanken. «Wir sind überzeugt, dass wir unsere Ästhetik, unsere kreativen Visionen in allen Produktbereichen anwenden können. Zudem verfügt Bally über hoch talentierte Handwerker, die unsere Vorstellungen umsetzen können», sagt Graeme Fidler. Auch Berndt Hauptkorn gibt sich betont gelassen: «Wesentlich bei einem Designer sind sein Geschmack sowie die Besessenheit, eigene kreative Ideen umzusetzen. Das ist viel wichtiger, als einige tausend Schuhe vorweisen zu können.»

Eine Verschnaufpause bringt die Tradition des Edelschusters, Aussenstehende mit dem Entwurf von Kollektionen zu beauftragen. Daraus können spannende Kreationen entstehen. So die Damenschuhe, die Studenten des Central Saint Martins College of Art and Design in London für Bally entwarfen. Oder die unter der Bezeichnung Ballylove an der Art Basel präsentierte Kollektion, gestaltet vom Schweizer Künstler Philippe Decrauzat. Nur lassen sich damit auf Dauer allfällige Schwächen beim firmeneigenen Schuhdesign nicht übertünchen.

Nicht ungefährlich ist, dass Herz/Fidler bislang primär Textildesign kreierten. Schon mehrere Bally-Chefs sind der Versuchung erlegen, mit dem Ausbau der Textilsparte den Umsatz hochschrauben zu wollen. Alle sind auf die Nase gefallen. «Bally steht für Schuhe und Handtaschen. Von da ist der Weg weit zu einem Textilbrand», sagt Josef Ming, Partner und Konsumgüterexperte bei Bain & Company Switzerland. Ming muss es wissen; er leitete für Bally in den neunziger Jahren das Nord- und Südamerikageschäft.

Das Polster. Die Ausgangslage für eine Neupositionierung der Marke Bally ist, zumindest finanziell, gut. Während die Luxusgüterbranche die letzte Rezession mit voller Wucht zu spüren bekam, ist Bally gut über die Runden gekommen. 2008 und 2009 konnte der Umsatz gehalten werden, in diesem Jahr dürfte er um einige Prozente zulegen. Wachstumstreiber sind Schuhe und Taschen, Ballys Kerngeschäft. Fragen nach Zahlen begegnet Berndt Hauptkorn mit einem sturen «Dazu will ich nichts sagen». Auf Basis der letzten bekannten Zahlen jedoch lässt sich hochrechnen, dass Bally etwa 510 Millionen Franken Umsatz erwirtschaftet (siehe «Auf grossem Fuss» im Anhang).

Die Mutter Labelux scheint gewillt, Bally finanziell wieder gesund zu spritzen. Seit der Übernahme hat die Luxusholding gemäss CEO Reinhard Mieck, der bei Bally als Verwaltungsratspräsident zum wichtigsten Anlagewert von Labelux schaut, «zweistellige Millionenbeträge» nach Caslano geleitet. Den grössten Teil verschlingt die Verkaufsfront; seit Monaten werden in grossen Städten Europas unter Hochdruck Läden grosszügig umgebaut oder neue eröffnet. Gut aufgestellt ist Bally in Asien. «Wichtigster Treiber für die Luxusindustrie bleibt Asien, und da vor allem China», meint Scilla Huang Sun, Portfoliomanagerin des Julius Bär Luxury Brands Fund. In weiser Voraussicht hat Bally bereits früher in China und Japan unabhängige Bally-Franchisenläden im Dutzend zurückgekauft.

Auch beim Werbeauftritt richtet sich Bally neu aus. Nicht rütteln mag Hauptkorn an der Kernbotschaft. «Bally Switzerland, das ist und bleibt die Message in all unseren Kampagnen.» Diese Botschaft steckte auch hinter den Kampagnen mit Christy Turlington oder Til Schweiger. Doch wenn eine Zeitung wie «The Times» Bally als «Italian fashion house» bezeichnet, lässt sich daran ablesen, dass die Werber noch einiges zu tun haben.

Bally hat seit der Gründung von 1851 viele Höhen und Tiefen durchgemacht. In den letzten Jahrzehnten überwogen die Tiefen; vom Ausstieg der Bally-Familie und vom Verkauf an Werner K. Rey über unzählige Restrukturierungen bis zu weiteren Besitzerwechseln. Und alle haben sie am Luxusbrand herumgepfuscht. Für Kenner ist es fast ein Wunder, dass die Marke nicht tiefere Blessuren davontrug. Weitere Abstürze verträgt das Label allerdings nicht. «Die Marke Bally hatte einst sieben Leben, doch jetzt sind nicht mehr viele übrig», sagt Josef Ming von Bain.

Berndt Hauptkorn muss achtgeben, dass die letzten Leben nicht auch noch verloren gehen. Eine Gruppe scheint sich da wenig Sorgen zu machen: die Bally-Familie, von denen sich 300 Mitglieder jüngst in Schönenwerd, einst Firmenhauptsitz, zum Familientreffen einfanden. «Wir sind zufrieden mit der Entwicklung der Firma. Die Marke Bally hat über die letzten Jahre ihr verstaubtes Image abzustreifen vermocht und spielt wieder in der Topliga der internationalen Modewelt», sagt Claudia Bally, Ururenkelin des Firmengründers Carl Franz Bally.