Vor etwas über einem Jahr gab sich der amerikanische DJ und Musikproduzent Marshmello im Videospiel «Fortnite» die Ehre. Er spielte ein virtuelles Konzert im Game. Fast elf Millionen Menschen weltweit nahmen an der virtuellen Performance im Spiel selbst teil, geschätzt rund doppelt so viel sahen den Livestream des Events auf Twitch, einer Art Netflix für Gaming-Begeisterte. Und rund dreissig Millionen Menschen sahen sich die Aufzeichnung der Performance auf Youtube an.

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Marshmellos Show war ein globaler Mega-Event, ganz ohne Konzerthalle. Er fand auf Abermillionen Smartphones und Computern statt. Das Online-Magazin «The Verge» kommentierte: «Das war ein Vorgeschmack auf die Zukunft.»

Milliardengeschäft Live-Unterhaltung

Die Gegenwart in der Musikbranche sieht dagegen ganz anders aus. Aktuell prägen abgesagte oder verschobene Tourneen und Konzerte ein tristes Bild. Ticketverkäufer, Konzertveranstalter und Hallenbetreiber sorgen sich um ihre Finanzen, einige gar um ihr Überleben.Die Musiker sehen sich wegen der Corona-Krise ihrer wichtigsten Einnahmequelle beraubt. Und dabei geht es um richtig viel Geld.

Sängerin Pink, Entertainer Elton John und der Teenie-Schwarm Ed Sheeran nahmen allein im vergangenen Jahr mit ihren Konzerten je über 200 Millionen Dollar ein (siehe Grafik rechts). Weitere neun Künstler und Bands scheffelten je mehr als 100 Millionen Dollar. Im Zeitalter des Musik-Streamings sind die allermeisten Musikerinnen und Musiker finanziell darauf angewiesen, Live-Konzerte zu geben. Nur diese lassen die Kassen noch klingeln. Streaming-Tantiemen sorgen allenfalls für eine Extraschicht Butter auf dem Brot. Der Verkauf von physischen Tonträgern dagegen finanziert höchstens noch das Cellophan drum herum.

Nun aber, im wohl noch eine Weile andauernden Lockdown, entdecken Musiker, Komiker, TV-Stars und Orchester die Verlockungen der virtuellen Welt. Egal ob in der Schweiz oder anderswo: Überall bemühen sich die Künstlerinnen und Künstler, ihren Fans die Zeit in der Heimisolation mit unterschiedlichsten Darbietungen zu versüssen. Das Teatro La Fenice, das Opernhaus von Venedig, hat beispielsweise bereits verschiedene Konzerte vor leeren Rängen per Live-Streaming übertragen. Technisch ist das, wie sich nun auch für die breite Masse zeigt, ohne grossen Aufwand möglich.

Und genau das bietet Chancen. Den Künstlerinnen und Künstlern, aber auch der Live-Entertainment-Industrie als Branche. Das Problem ist einzig, dass die Unternehmen gestreamte Events nicht als Business erkannt haben. Sie waren der Branche bislang zu «nischig», wie es Cherie Hu, eine der besten Kennerinnen der Musikbranche, formuliert. Sie sagt: «Live-Streaming ist keine Strategie mehr, die noch im Entstehen begriffen ist. Live-Streaming ist ein Gebot der Zugänglichkeit. Und ein potenzieller Katalysator für andere Arten von virtuellen Innovationen.»

Interessant für die Werbewirtschaft

Man stelle sich einmal vor, Pop-Superstar Lady Gaga würde ihr in diesem Jahr erscheinendes Album «Chromatica» nicht bloss auf Spotify oder anderen Plattformen veröffentlichen, sondern die neuen Songs mit ihren Musikern live spielen und gleichzeitig in die Welt streamen. Um bei einem solchen Event dabei zu sein, würden die Fans auch ein virtuelles Eintrittsticket kaufen. Es dürfte wohl nicht so teuer sein wie eine Karte für ein «reguläres» Konzert. Es müsste aber nicht gratis sein. Und es könnte Fans weltweit ansprechen. Selbst interaktive Elemente wären ohne Weiteres denkbar. Die Fans könnten live darüber abstimmen, welchen Song Lady Gaga als Zugabe spielen soll. Und unter den Teilnehmenden der virtuellen Show könnten Karten für die reale Tournee verlost werden.

Ähnliche Geschäftsmodelle wären auch für Musik-Openairs wie das Glastonbury Festival oder die Bregenzer Festspiele denkbar. Dank einer potenziell globalen Teilnehmerschaft liessen sich die Kosten über Ticketeinnahmen einspielen. Oder über Partnerschaften mit Sponsoren oder der Werbewirtschaft. Ihr bieten solch virtuelle Events ein attraktives Tummelfeld: fast unbegrenzte Möglichkeiten, eine wohl meist junge Zielgruppe anzusprechen.

Marcel Speiser Handelszeitung
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