«Corona bietet den Regierungen eine tolle Erklärung für ihre Eingriffe»

Sie reisten von Houston nach Zürich. Wie oft wurden Ihre Daten gespeichert? Brittany Kaiser: Das will ich mir gar nicht vorstellen – zu oft. Auch in der Schweiz? Vermutlich schon. In der Schweiz werden die Corona-Daten nur national gespeichert und nicht mit anderen Ländern geteilt. In der EU ist das anders. Ich würde sagen, dass die Schweiz bei der Datensicherheit zur Topgruppe gehört. Es gibt hier ein Datenschutzgesetz, was in vielen anderen Ländern nicht der Fall ist. Und es ist recht rigide. Brittany Kaiser war von 2015 bis 2018 Direktorin für Geschäftsentwicklung bei Cambridge Analytica respektive deren Muttergesellschaft SCL. Sie wurde zur «Whistleblowerin», nachdem Informationen über den Missbrauch von Facebook-Daten herauskamen, die sich womöglich auf die US-Wahlen 2016 und auf die Brexit-Abstimmung ausgewirkt hatten. Vor dem Einstieg bei Cambridge Analytica hatte Kaiser, geboren 1988 in Texas und Doktorin der Philosophie, unter anderem für das Wahlkampfteam von Barack Obama und für Amnesty International gearbeitet. Rigider als in den USA? Absolut. In den USA gibt es auf nationaler Ebene überhaupt kein Gesetz. Bei euch dagegen ist es nicht erlaubt, Daten zu modellieren und miteinander zu kombinieren. Es ist entsprechend viel schwieriger, Daten zu missbrauchen. In den USA können staatliche Behörden ihre Daten mit anderen Behörden teilen, sogar mit Privatfirmen oder politischen Parteien. Sie waren lang bei der Analysefirma Cambridge Analytica, die Daten missbrauchte. Dann traten Sie als Whistleblowerin auf. Nun sind Sie Datenschutzaktivistin. Ihre Lieblingsrolle? Ich bin Aktivistin, setzte mich früh für Menschenrechte ein, für Umweltschutz. Als ich merkte, was bei Cambridge Analytica schieflief, habe ich ausgesagt. Heute setzte ich mich für Datensicherheit ein. Eine Aufgabe, die gerade jetzt nicht einfach ist. Überall werden Daten gehandelt, verkauft, gehackt. Der Widerstand gegen mehr Sicherheit und Privatsphäre ist sehr gross, aber: Es verstehen immer mehr Menschen, wie sie sich schützen können. Sie können auf Verschlüsselungsmethoden zurückgreifen, auf Plattformen ausweichen, die Verschlüsselungen zulassen oder eine hohe Privacy garantieren. Es sind Staaten, welche die Persönlichkeitsrechte aushebeln. Die Software Pegasus etwa wird eingesetzt, um Bürger zu überwachen. Etwa in China. Corona bietet Regierungen eine tolle Erklärung für ihre Eingriffe und ihren Zugriff auf Daten. Das heisst, in den letzten anderthalb Jahren hat sich das Problem der Datensicherheit verschärft. Wo setzen Sie an? Bei der Sensibilisierung. Viele Leute haben verstanden, wie wertvoll ihre persönlichen Daten sind. Sie wissen auch, dass Plattformen Daten abgreifen und weitergeben – ungefragt. Selbst in den USA ist die Sensibilisierung stark gestiegen, es gibt viele, die ein nationales Gesetz für Datensicherheit fordern. Gesetze gibts erst in ein paar Bundesstaaten wie Kalifornien oder Virginia. Was verlangen Sie? Wir sind Teil einer lange Wertschöpfungskette. Da profitieren die Datensammler, die Vermittlerinnen, Analysten oder Firmen, die Daten weiterverkaufen. Aber die Datenproduzenten, also wir, werden für unsere Daten, die kommerziell weiterverwertet werden, nicht entschädigt. Das muss geändert werden. Es geht nicht darum, Geschäftsmodelle zu zerstören, aber wir müssen incentiviert werden. Und die Freiheit haben, das zu tun oder abzulehnen. Sie haben es auf Facebook abgesehen? Mir geht es nicht darum, dass Facebook keine Daten sammeln darf. Aber ich will einen legalen Rahmen und dass die Firma dem auch nachlebt. Ich verlange: Anerkennt den Wert der Daten, die ihr von den Usern kriegt, und bezahlt dafür. Wie viel? Ich rede von einer Datendividende. 10 bis 20 Prozent von dem, was eine Plattform damit verdient, halte ich für fair. Zuckerberg, der härteste Gegner? Ja, weil Facebook unglaublich viele User-Daten hat. Und man hat es ja gesehen bei der Einmischung von Russland in den US-Wahlkampf. Zuckerbergs Reaktion war: Ich weiss von nichts. So agiert er auch bei der Datenhoheit. Er ignoriert das Problem. Er und Sheryl Sandberg verfolgten eine Strategie des Verneinens, aber sie geht nicht auf. Google hat viel mehr Datenmengen, kündigt jedoch an, dass es für unsere Daten, die für Werbung benutzt werden, etwas zahlen wird. Braucht es eine nationale Gesetzgebung? Noch besser eine supranationale, die von möglichst vielen Staaten ratifiziert wird. Aber in der Realität wirds schwierig. Das sieht man bei den Menschenrechten oder beim Privateigentum. Diese sind zwar von der UNO geschützt, werden aber nicht durchgesetzt. Europa orientiert sich an Menschenrechten, China am Willen der Regierung, die USA wollen Privatfirmen Wachstum ermöglichen. Europa führte die General Data Protection Regulation (GDPR) ein. Sinnvoll? Ein guter Anfang, der die Privatsphäre absteckt. Auch ist die Zweckbindung wichtig, damit Daten nicht unrechtmässig weiterverwertet werden können. Dieses Prinzip aus der EU wurde auch in New York eingeführt. Wer setzt sich durch? Europa, China, die USA? Eine wachsende Anzahl von Staaten sehen, dass Dateneigentum etwas mit Privateigentum zu tun hat. Das ist gut und richtig. Denn Eigentumsrechte haben vor Gerichten einen hohen Stellenwert. Basierend auf dem Privateigentumsprinzip gibts Debatten über ein Datendividenden-Gesetz, etwa in New York, in Kalifornien, aber auch in Indien, Südkorea oder Mexiko. So soll die Ungleichheit zwischen Konzernen und Privatpersonen verkleinert werden. Gerade ärmere Länder sind an einer Datendividende interessiert, weil Privatpersonen nicht gegen mächtige Firmen prozessieren können. Staatliche Regulierung führt letztlich zu mehr Kontrolle und Zensur. Warnt der russische Dissident Alexei Nawalny. Das ist eine Gratwanderung. Aber für mich ist mal klar, dass der Aufruf zu Gewalt oder Manipulation von Wahlen illegal ist – und von den Behörden verfolgt werden muss. Twitter oder Facebook müssten diese Gesetze eigentlich auch einhalten. Könnte Blockchain weiterhelfen? Blockchain ist der einfachste Weg, um Dateneigentum zu klären. Mit Smart Contracts kann ich entscheiden, wem ich welche Daten wann geben will. Am Schluss kriege ich in Form von Token automatisch einen Gegenwert in mein digitales Wallet. Die Daten sind erst noch verschlüsselt und anonymisiert. Haben Sie bei Cambridge Analytica auch für Schweizer Firmen oder Schweizer Parteien gearbeitet? Es gab einige Anfragen von Firmen und Parteien, aber da die Datengesetze in der Schweiz strikt sind, kam es nie zu einer Zusammenarbeit. Das heisst, es gab in meiner Zeit keine Projekte mit der Schweiz, hingegen haben wir mit über fünfzig anderen Ländern zusammengearbeitet. Das nächste Problem ist Face Recognition? In San Francisco ist sie auf öffentlichen Plätzen und Strassen verboten, weil die Tech-Leute, die diese Tools erfunden haben, die Risiken sehen und nicht ständig überwacht werden wollen (lacht). Ihre Meinung? Es bestehen Missbrauchsrisiken. Ich lebte einige Jahre in London, da gibts so viele Überwachungskameras wie nirgends im Westen, zur Abwehr von Terroranschlägen. Dagegen kann man nichts einwenden. Wenn aber Dissidenten oder Andersgläubige das Ziel sind, ist das verwerflich. In der Realität sind wir schon sehr weit: Die Softwarefirma Clearview AI aggregiert sämtliche verfügbaren Bilder und Videos im Internet und stellt ihre riesige Datenbank Behörden und Firmen zur Verfügung. So kann das Bewegungsverhalten von Personen über Jahre nachvollzogen werden. Ein hochproblematisches Profiling. Beim chinesischen Videodienst Tiktok sind Sie abonniert? Nein, aus Sicherheitsgründen nicht, dito auch nicht bei Wechat. Die Jungen haben damit offenbar kein Problem. Es ist erschreckend, wie leichtfertig Leute mit ihren Daten umgehen. Sie müssen wissen, dass sie so den Behörden Chinas globalen Zugriff auf ihr Gesicht, ihr Bewegungsmuster, ihre Stimme und andere Daten bieten. Und es geht nicht nur um die eigene Privatsphäre, sondern auch um jene der ganzen Familie.