Datenhürden lähmen Schweizer Pharmaforschung

In Manhattan hat die Zukunft schon begonnen. Beim Unternehmen Flatiron, vor drei Jahren für 1,9 Milliarden Dollar von Roche übernommen, werden Daten von Krebsbehandlungen amerikanischer Patientinnen und Patienten ausgewertet. Das Team um die beiden Co-Gründer Nat Turner und Zach Weinberg arbeitet an so fancy Sachen wie synthetischen Kontrollarmen für klinische Studien. Das heisst, die Placebo-Gruppe, die es immer auch braucht, um die Wirksamkeit und Sicherheit einer neuen Therapie zu testen, wird nicht mehr aus wirklichen Patienten, sondern aufgrund von Daten gebildet – ein medizinischer und ethischer Quantensprung. Daten basierend auf PatientendossiersDamit lässt sich vermeiden, dass schwerkranke Patienten Zucker statt eines vielversprechenden neuen Medikaments bekommen. Basis dafür sind die elektronischen Patientendossiers, die in den USA ab Beginn der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Barack Obama, also von vor gut zehn Jahren, flächendeckend eingeführt wurden. 2000 Stellen hat Roche in den vergangenen drei Jahren seit der Übernahme in New York geschaffen. Das sind zehn stattliche Schweizer KMU. «Wir investieren Milliarden in Big Data», sagt Roche-Konzernchef Severin Schwan. «Doch solche Dinge sind in Europa nicht möglich, dafür müssen wir in die USA gehen.» Die Topleute – Informatikerinnen, Mathematiker und Data Analysts –, die es für solche Datenprojekte brauche, gebe es dank den beiden ETH und guter Universitäten zwar auch in der Schweiz; «aber wenn die Daten nicht vorhanden sind, dann fehlt eben ein entscheidendes Puzzleteil».Big Data trifft Big Pharma Manhattan Love Story: Warum Roche Flatiron kauft. Das Problem: Vielerorts in Europa werden Gesundheitsdaten nicht oder nur mangelhaft erfasst, die Daten sind stark fragmentiert und lassen sich nicht standardisieren. Besonders prekär ist die Situation im Pharma-Land Schweiz, wo diffuse Vorbehalte und ein ausufernder Kantönligeist seit Jahren sinnvolle Lösungen verhindern. Der alte Kontinent verliert an BedeutungEuropa und die Schweiz nehmen sich bei der Pharma-Forschung selbst aus dem Spiel. Während mehr als eines Jahrhunderts Topdestination der weltweiten Medikamentenforschung, verliert der alte Kontinent seit drei Jahrzehnten dramatisch an Terrain; vor allem gegenüber den USA, aber zunehmend auch gegenüber China. Die Zahlen dazu sind alarmierend. In den USA haben sich die Forschungsinvestitionen in den vergangenen drei Jahrzehnten fast verzehnfacht, von 6,8 Milliarden Dollar 1990 auf 62,2 Milliarden 2018. In Europa kam es im gleichen Zeitraum nicht einmal zu einer Verfünffachung: von 7,8 auf 36,3 Milliarden Euro. Europa steht sich bei der Pharmaforschung selber im Weg. Das zeigt auch das Beispiel der klinischen Studien, wo eine 2014 ausgearbeitete Verordnung noch immer nicht in Kraft ist. Auch hier ging es um Digitalisierung, aber auch um die Möglichkeit, klinische Studien dezentral durchführen zu können. Das mag abstrakt klingen, doch für Patientinnen und Patienten, die peripher wohnen und für welche die Teilnahme an einer klinischen Studie, gerade bei Krebs, oft die letzte Hoffnung ist, kann es sehr wohl einen Unterschied machen, ob sie für ihre Untersuchungen jedes Mal zum nächsten Unispital reisen müssen oder ob ein Besuch beim Hausarzt reicht. Europäische Patienten haben das NachsehenNun ist das regulatorische Werk, das vor sechs Jahren verabschiedet wurde, überholt und nicht mehr «fit for purpose», ohne dass es je umgesetzt worden wäre. Derweil sind dezentrale Studiensettings in den USA längst gang und gäbe. Doch auch bei den zugelassenen Therapien haben die europäischen Patienten und Patientinnen oft das Nachsehen. Die einst vorbildliche European Medicines Agency (EMA) tut sich zunehmend schwer damit, neue Therapien zeitnah zugänglich zu machen. Im Median brauchte die EMA in den vergangenen Jahren 365 Tage, um eine neue Therapie zuzulassen, bei der US-Arzneimittelbehörde FDA waren es nur gerade 242 Tage. «Wir stellen fest, dass die EMA immer häufiger ins Hintertreffen gerät», sagt Sabine Atzor, Head EU Regulatory Policy bei Roche. Die Governance der EMA sei etwas in die Jahre gekommen, insbesondere die systematische Vertretung aller Mitgliedstaaten in der Mehrzahl der EMA-Gremien sei angesichts der wissenschaftlichen Komplexität innovativer Arzneimittel und deren Verzahnung mit neuen Technologien nicht mehr zeitgemäss. Sparringspartner der Industrie«Wir sind klar der Meinung, dass die richtige Expertise künftig das Set-up der EMA bestimmen sollte», sagt Atzor. Auch hier hat die FDA vorgelegt: Die US-Behörde versteht sich heute immer stärker als Sparringspartner für die Industrie und hat sich die Kompetenzen aufgebaut, die es braucht, um neue Technologien wie Gentherapien, Crispr oder RNA beurteilen zu können.Flatiron – die Big-Data-Spezialisten für Krebs aus New York Flatiron wurde 2010 von den beiden damals gerade 24 Jahre alten Jungunternehmern Nat Turner und Zach Weinberg gegründet. Die beiden hatten ich an der University of Pennsylvania kennengelernt, wo sie auch ihr erstes Unternehmen aufstarteten – einen Online-Essensdienst für Studenten, der jedoch floppte. Dafür lösten sie mit dem Verkauf eines Unternehmens für digitales Marketing an Google 80 Millionen Dollar.Flatiron ist ein führendes Big-Data-Unternehmen im Gesundheitsbereich. Es wertet die Daten von Krebsbehandlungen in den USA auf Basis von elektronischen Patientendossiers aus.2017 wurde das damals 500 Mitarbeiter zählende Unternehmen für 1,9 Milliarden Dollar vom Basler Pharmakonzern Roche aufgekauft. Heute beschäftigt es 2500 Mitarbeiter, darunter Software-Ingenieurinnen, Datenwissenschaftler, Epidemiologinnen, Kliniker und andere Experten. 1500 dieser Mitarbeiter sind mit der Datenerhebung beschäftigt.Flatiron ist als Industrielösung aufgesetzt. Das heisst, das Unternehmen arbeitet nicht nur für Roche, sondern für über 15 weitere führende Entwicklung onkologischer Therapeutika. Bis heute ist das Unternehmen Partnerschaften mit über 280 kommunalen Krebskliniken mit rund 800 Versorgungszentren in den USA eingegangen. Es arbeitet mit sieben grossen akademischen Forschungszentren, dem National Cancer Institute, der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA und dem National Comprehensive Cancer Network zusammen.Das Unternehmen unterhält Enhanced Datamarts für 21 Krebsarten mit insgesamt mehr als 250 000 Patienten. Flatiron-Daten wurden bereits in mehr als 380 Publikationen verwendet. Inzwischen logieren Nat Turner und Zach Weinberg nicht mehr beim Flatiron-Building, das ihrem Unternehmen den Namen gegeben hat, sondern in Soho. Die EMA tut sich schwer, mitzuhalten. Das zeigt sich auch daran, dass die Europäer anders als etwa die Kanadier nicht Teil von Orbit sind – einem Projekt, das von der FDA lanciert wurde, um die internationale Zusammenarbeit unter den Zulassungsbehörden zu fördern. Europa sei in der Pharma-Forschung immer stark gewesen, sagt Nathalie Stieger, Leiterin Government Affairs bei Roche. Doch nun riskiere der Kontinent wegen Kompetenzproblemen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten und unflexiblen regulatorischen Prozessen immer mehr an Bedeutung zu verlieren. Neue Pharmastrategie aus BrüsselOb es dabei bleibt oder ob Europa zu seiner alten Form zurückfindet, entscheidet sich unter anderem an der neuen Pharmastrategie, über welche Brüssel zurzeit brütet. Gut sieht es nicht aus. Die Vorschläge der Kommission orientieren sich erneut am Primat des Zugangs zu Medikamenten, also am Preis und weniger an der Innovation. In einer ungewöhnlich deutlichen Stellungnahme fordert Roche deshalb, Europa bis Ende des Jahrzehnts als «globales Zentrum der medizinischen Innovation wieder zu etablieren». Unterstützung kommt dabei von Novartis. Das Unternehmen fordert einen «permanenten Dialog mit der EMA» und ein «robustes regulatorisches Framework». Mal sehen, was die beiden Schweizer Konzerne in Brüssel bewegen können.

Datenhürden lähmen Schweizer Pharmaforschung

Datenhürden lähmen Pharmaforschung – zum Schaden der Patienten