Es ist ein trüber Tag, dieser 10. September: nur über Mittag etwas Sonne, ansonsten wolkenverhangen und grau. Ein Montag. André Dosé, seit einigen Monaten Crossair-Chef, ein hoch gewachsener Mann mit einem jugendlichen, Vertrauen einflössenden Gesicht, ist aufgeboten zum Vieraugengespräch bei seinem Vorgesetzten Mario Corti. Das verheisst nichts Gutes. Trübe ist denn auch die Stimmung, die der einsame Besucher im Privatdomizil Cortis am Zürichberg vorfindet.

Bis spät in die Nacht sitzen sie zusammen, und was Dosé zu hören bekommt, ist in der Tat keine freudige Botschaft. Die finanzielle Situation bei der Swissair sei dramatisch, eröffnet ihm der Konzernchef, so dramatisch, dass man das Schlimmste befürchten müsse: Der serbelnden Airline könnte das Geld ausgehen – innert weniger Tage schon. Fast beschwörend meint der Chef, nun müsse sofort etwas passieren, sonst sei die Airline am Boden. Doch was ist zu tun? Die Swissair und die Crossair zusammenführen, um mit einem gemeinsamen Kraftakt wieder an Höhe zu gewinnen? Ein möglicher Weg, sind sich beide einig. Eine neue Strategie müsse her, das Topmanagement sei zu entrümpeln, denn zwei Drittel der Topmanager, urteilt Corti, seien unbrauchbar. Und er, Dosé, solle sich über einen Neuanfang Gedanken machen. Etwas ratlos gehen die beiden Männer zu später Stunde schliesslich auseinander.

Am nächsten Tag überstürzen sich die Ereignisse. Dosé lässt das nächtliche Tête-à-Tête mit Corti nicht los. Es ist Vormittag, als er schliesslich zum Telefonhörer greift und die Nummer seines engsten beruflichen Vertrauten, Moritz Suter, wählt. Von diesem ist André Dosé jahrelang gefördert und schliesslich zum Nachfolger als operativer Chef der Crossair gekürt worden. An diesem Morgen zieht Dosé seinen Mentor ins Vertauen, schildert ihm sein Vieraugengespräch mit Corti in allen Details. Beiden ist klar, dass die Swissair unmittelbar vor der Pleite steht. Und es meldet sich Moritz Suters Urinstinkt, der aktiv wird, sobald der Crossair-Gründer sein Lebenswerk in Gefahr wähnt. Das ist in der Vergangenheit schon oft der Fall gewesen: etwa damals, als Suter aus purer Not die Mehrheit seiner Crossair an die Swissair verkauft hat, weil er sonst in den finanziellen Kollaps geflogen wäre. Oder Anfang 2001, als nach dem Abgang von Philippe Bruggisser bei der Muttergesellschaft ein Führungsvakuum entstanden war und Suter fürchten musste, ein Neuer könnte Hand an seine Crossair legen: Lieber hat er den Job des Swissair-Chefs gleich selber gemacht und parallel dazu das ebenfalls vakante Verwaltungsratspräsidium der Crossair für sich beansprucht. So, hat er sich damals gedacht, sei seine Basler Fluggesellschaft auch in den turbulenten Zeiten nach Abbruch der Hunter-Strategie gegen feindliche Übernahmeattacken gesichert.

Der 11. September beschleunigt den Konkurs
Auch an diesem historischen 11. September 2001 liegt ihm das Wohl der Crossair nah am Herzen, und nach dem Gespräch mit seinem CEO Dosé weiss Suter, dass er sofort handeln muss. Schon den ganzen Sommer lang hat er mit Sorge den trudelnden Kurs der nationalen Airline verfolgt und seine Gedanken immer wieder um die Frage kreisen lassen, was zu tun wäre für die Crossair, wenn die Swissair kollabieren sollte. Jetzt, nach den jüngsten Informationen aus Zürich, weiss er, dass diese Frage keine theoretische mehr ist. Doch nur Stunden nach dem Telefonat mit Dosé erschüttert ein Ereignis die Welt, das selbst Moritz Suter, den «Crossair-Übervater» – so das Urteil der «Basler Zeitung» –, vorübergehend handlungsunfähig macht und die Airlinebranche weltweit in eine existenzgefährdende Krise stürzt. Um 8 Uhr 45 New-Yorker Zeit rast eine Boenig 767 der American Airlines in den Nordturm des World Trade Center, achtzehn Minuten später eine Maschine der United Airlines in den Südturm. Beide Maschinen werden von Terroristen geflogen.

Am Tag nach den Terroranschlägen ist die Welt nicht mehr, wie sie war. Der Flugbetrieb über den Nordatlantik ist eingestellt, die Airlines müssen Millionenverluste verbuchen. Die Carrier in den USA reagieren umgehend, streichen Zehntausende von Arbeitsplätzen und legen überzählige Flugzeuge still. Als eine der ersten Fluglinien schlägt die zweitgrösste der Welt, United Airlines, Alarm. Ihr Chef, James Goodwin, kündigt in einem Brief an die Mitarbeiter gar an, die Mammut-Airline könnte nach dem Terroranschlag gar Pleite gehen, sollte es ihr nicht gelingen, die steigenden Kosten in den Griff zu bekommen.

Und auch in Zürich, in der Swissair-Zentrale am Balsberg, rotieren die Manager. Corti beruft eine dringliche Sitzung der Konzernleitung ein. Das Wort führt Jacqualyn Fouse, Finanzchefin und «Cortis Kopilotin», so der «SonntagsBlick». Sie konstatiert, dass nun eine neue Zeitrechnung begonnen hat: Die Auswirkungen der Attentate auf die Liquidität der Swissair müssten umgehend eruiert werden und es sei abzuklären, mit welchen Mindereinnahmen zu rechnen sei, fordert sie. Und die Amerikanerin kündigt an, dass sie das Cash-Management zukünftig zentralistisch führen werde. Sie hat keine andere Wahl: Ohne drastische Massnahmen und den Verkauf von wesentlichen Unternehmensteilen innert spätestens 14 Tagen, urteilt die Zahlenmeisterin in ihrem breiten texanischen Akzent, sei der Konzern spätestens Ende Monat zahlungsunfähig. Ein Schock für die meisten in der Runde. Jedes Konzernleitungsmitglied verfügt ohnehin nur noch über eine knappe Kasse, und nun hat sich die Situation nach den Terroranschlägen in den USA nochmals massiv verschärft.

Kaum sind diese Informationen nach Basel gedrungen, ist Moritz Suter klar: Die Swissair braucht so dringend Bares, dass auch ein Blitzverkauf des 70-prozentigen Crossair-Anteils nicht mehr auszuschliessen ist. Suter handelt rasch. Drei Tage später, an einem Samstag, bietet er Vertraute aus seiner Crossair-Zeit zu einer dringlichen Sitzung auf. Vier Herren finden sich ein an einem malerischen Ort, dem Viersternhotel Bad Schauenburg im Baselbieter Jura, wenige Kilometer von Liestal entfernt. Moritz Suter und André Dosé, flankiert von Thomas Hanke, verantwortlich für Strategie und Netzwerk bei der Crossair, und Richard Heidecker, ehemaliger Marketingchef und heutiger Crossair-Berater, nisten sich ein in diesem über dreihundertjährigen Anwesen, um über der Zukunft der Crossair zu brüten.

Mental ist Moritz Suter auf den nun eingetretenen Fall seit Jahren vorbereitet. Bereits am 30. Mai 1993, mitten in den Verhandlungen um das von ihm vehement bekämpfte Fusionsprojekt Alcazar, brachte er unter dem Codenamen «Phoenix» ein Programm zu Papier, an das er nun anknüpfen kann. Damals hat Suter die Aufsplittung der Schweizer Airlineindustrie in eine A-Airline, die Swissair, und eine B-Airline, seine Crossair, vorgeschlagen. Die Regionalairline hätte nach diesem Modell einen Grossteil der Mittel- und Langstrecken der Swissair übernommen und wäre zum eigentlichen Schwergewicht der schweizerischen Luftfahrt aufgestiegen. Die Swissair mit ihren wesentlich höheren Kosten hätte sich auf den Betrieb von wenigen Strecken mit, so steht es in Suters Papier, «hohem Verkehrsvolumen und hohem Ertragsniveau» zurückgezogen. Vor acht Jahren hatte Moritz Suter mit diesem Konzept jedoch keine Chancen.

Der Zusammenführungsplan
Am 15. September 2001 ist sich das im Baselbiet tagende Quartett einig, dass der Einschnitt radikaler ausfallen müsse als vor acht Jahren, wenn Suters Crossair die Turbulenzen um die Swissair heil überstehen wolle. Und was die Herren nach eingehender Diskussion ins Auge fassen, bedeutete in der Tat eine Deblockierung jahrzehntelang gewachsener mentaler Barrieren. Suter will in seiner Not nicht mehr gegen die Swissair agieren, sondern eine Brücke schlagen von seinem Hauptsitz im Dreiländereck zum Zürcher Balsberg. Unter dem historischen Schriftzug «Swiss Air Lines», mit dem die Swissair in ihrer über siebzigjährigen Geschichte zeitweise ihre Flieger beschriftet hat, soll nun eine nagelneue Airline entstehen. Und die Herren, die an diesem Septembertag gemeinsam am Tisch sitzen, beweisen erst noch – unbewusst vielleicht – Sinn für die Historie: So wie am 26. März 1931 aus der Fusion der Zürcher Fluggesellschaft Ad Astra Aero und der Basler Balair die nationale Airline Swissair entstanden ist, soll in der neuen Swiss Air Lines der Flugbetrieb einer Basler und einer Zürcher Airline zusammengeführt werden.

Ein Schritt mit Folgen: Die Crossair müsste ihre unternehmerische Selbstständigkeit aufgeben und ihre Kurzstreckenflieger mit jenen der Swissair zusammenlegen. Moritz Suter weiss, dass er mit dieser Absicht seinen Basler Freunden im Verwaltungsrat der Crossair eigentlich eine Ungeheuerlichkeit zumutet. Jahrelang sind sie Schulter an Schulter mit dem Crossair-Gründer durch dick und dünn gegangen, jahrelang haben sie die Abgrenzungskämpfe des Moritz Suter gegen den Sog vom Zürcher Balsberg im Hintergrund unterstützt. Suter weiss, dass er gute Argumente braucht, um die nun anvisierte Schubumkehr in seinem Aufsichtsratsgremium durchzubringen. Immerhin soll mit André Dosé Suters Topmanager, ein Crossair-Mann also, im unternehmerischen Cockpit der neuen Airline Platz nehmen.

Auch die Swissair müsste empfindlich Federn lassen. Jeder vierte Langstreckenjet mit dem Schweizerkreuz an der Heckflosse müsste stillgelegt und der Rest ebenso in die neue Firma integriert werden wie Teile des Caterers Gate Gourmet und der Swissair-Technik. Ein Kulturschock auf beiden Seiten wäre jedenfalls programmiert.

Finanzchefin schenkt reinen Wein ein
Doch für Sentimentalitäten ist kein Raum mehr: Die Runde beschliesst, das Konzept Swiss Air Lines umgehend in einen strategischen Businessplan zu giessen und diesen mit einem Topjuristen auch rechtlich abzusichern. Die Wahl fällt, wohl nicht zufällig, auf Peter Böckli, den prominenten Basler Aktienrechtler, Professor an der Alma Mater am Rheinknie und Anwalt in der Kanzlei Böckli, Bodmer & Partner. Zudem Verwaltungsrat der Grossbank UBS. Dort amtet Marcel Ospel als Präsident. Ausserdem ist Böckli Aufsichtsrat beim Nahrungsmittelmulti Nestlé. Dort hatte Mario Corti als Finanzchef gewirkt, bevor er als Troubleshooter bei der Swissair eingestiegen ist. Und Böckli ist auch Vorsitzender der Stiftung Patronatskomitee Kunstmuseum Basel. Dort amten Moritz Suter als Vizepräsident und Bankier Marcel Ospel als einfaches Mitglied.

Während die Basler bereits eifrig an den Plänen für eine Zukunft der Schweizer Airlineindustrie unter Führung der Crossair schmieden, kommt Konzernchef Mario Corti in Zürich immer stärker unter zeitlichen Druck. Offensichtlich wird dies an einer Sitzung der Konzernleitung, die am 19. September, einem Mittwoch, in Zürich stattfindet. Um Corti herum sitzt eine Männerschar, die längst nicht mehr als geeinte Mannschaft mit gemeinsamem Team-Spirit auftritt. Zu sehr haben die dramatischen Vorgänge der vergangenen Wochen und Monate auch in dieser Runde ihre Blessuren hinterlassen. Zu sehr macht sich jeder Topmanager auch Gedanken über die eigene berufliche Zukunft, und manch einer ahnt wohl, dass er in dieser Konzernleitung bald überzählig werden könnte.

Es sitzen am Tisch neben Mario Corti: André Dosé, ein gradliniger Typ und pragmatisch handelnder Manager. Er hat seit Cortis Amtsantritt an Profil gewonnen und geniesst inzwischen das Vertrauen des Chefs. Wolfgang Werlé, der joviale Hesse, einst engster Mitarbeiter von Philippe Bruggisser und Architekt des globalen Catering-Geschäfts Gate Gourmet. Ein ehemals gefeierter Topmanager, aber wohl nicht mehr uneingeschränkt motiviert, seit ihn Mario Corti vor wenigen Wochen zum Senior Executive Officer ohne operative Funktionen wegbefödert hat. Ähnlich Rolf Winiger, ehemals Chef SAirServices und damit oberster Technik-Chef. Auch ihn hat Corti zum Senior Executive Officer ohne operativen Einfluss zurückgestutzt. Matthias Mölleney, ehemaliger Lufthansa-Mann, erst seit April als oberster Personalchef in der Swissair-Konzerleitung. Er muss bei einer massiven Verkleinerung des Fluggeschäft damit rechnen, an Gewicht zu verlieren. Beat Schär, ehemaliger Militärpilot, seit zehn Jahren bei der Swissair und im Zuge der diversen Personalrochaden schliesslich zum CEO der Swissair avanciert. Sollte es zu massiven Veränderungen im Flugbetrieb kommen, muss er damit rechnen, dass sein Job zur Disposition steht. Henning Boysen, Chef des immer noch gewichtigen Caterers Gate Gourmet. Ihm brechen die Umsätze weg, seit die US-Airlines, seine gewichtigsten Kunden, nach dem Terroranschlag ihre Flugbewegungen drastisch reduzieren. Hans Ulrich Beyeler, Chef der Swissair Technics, die weltweit noch immer den Ruf geniesst, der Primus der Branche zu sein. Und schliesslich Klaus Knappik, Chef des Cargo-Bereichs, der Logistikfachmann, der unter Bruggisser bis in die Geschäftsleitung aufstiegen ist.

Vor diese Männertruppe tritt an diesem Tag Finanzchefin Jacqualyn Fouse und übermittelt den Herren eine einfache und klare Message: Die Situation sei nun so, dass man nicht weiterarbeiten könne. Was als Warnung für die desolate finanzielle Situation des Konzerns gedacht war, mündet in eine kleinliche Diskussion ums Geld. Manch einer der Anwesenden treibt die Angst vor der drohenden Illiquidität dazu, wenigstens für den eigenen Bereich mehr Bares zu fordern. Eine absurde Situation: Der Konzern ist praktisch pleite, aber die Abteilungsleiter hoffen trotzdem noch auf Finanzspritzen der Muttergesellschaft. Die Nerven liegen blank, auch bei Mario Corti. Es gelingt ihm kaum, die Sitzung in geordneter Manier weiterzuführen.

Ein «Phoenix» wird über Nacht berühmt
Schliesslich ist es André Dosé, der den Konzernchef um ein sofortiges Gespräch unter vier Augen bittet. Die Konzernleitungsrunde wird derweil in eine Pause geschickt mit der Auflage, sich konstruktive Gedanken zur Rettung der Swissair zu machen. In Cortis Büro muss Dosé schlagartig klar geworden sein, dass der Konzernchef nicht nur unter einem gewaltigen Druck steht, sondern dass dieser auch mit seinem Latein am Ende ist. In drei Tagen schon, am 22. September, eröffnet ihm der Konzernchef, müsse er vor dem Bundesrat antreten, um die Möglichkeiten einer finanziellen Hilfe durch den Bund zu sondieren. Klar sei, dass die Regierung einen solchen Schritt nur dann in Erwägung ziehe, wenn ein überzeugendes Konzept auf dem Tisch liege. Einmal mehr ist Dosé gefordert: Bis am nächsten Tag um elf Uhr müsse das Konzept vorliegen, lässt ihn Corti wissen, ein weiteres Zuwarten sei nicht möglich. Der Crossair-CEO wird sofort aktiv, involviert neben Suter auch Crossair-Berater Heidecker und den Juristen Georg Wiederkehr. Dieser ist Partner bei der Zürcher Kanzlei Wiederkehr & Forster. Dort sitzt auch Alfred Wiederkehr, der seinerzeit, bei der Gründung, Crossair-Präsident gewesen war und ein enger Vertrauter Suters ist. Über Nacht stellen diese Männer das Konzept fertig, das im Wesentlichen auf die Pläne zurückgeht, die Dosé und Suter bereits vor Tagen im «Bad Schauenburg» gewälzt hatten: eine gemeinsame Fluglinie Crossair/Swissair mit reduziertem Streckennetz sowie eine Integration von Teilen der Gate Gourmet und der Swissair-Technik. Im Europaverkehr solle die Swissair auf ihre Airbus-Jets A-319 und A-321 verzichten und dafür die Crossair-Flotte mit kleineren Embraer-Jets ausgebaut werden. Bis ins Jahr 2005 müsse die Flotte der gemeinsamen Airline von 152 auf 136 reduziert und die Sitzplätze sollten von 11 300 auf 9900 zurückgefahren werden. Als Folge davon, darin sind sich die Autoren des Papiers einig, müssten am Balsberg, am Hauptsitz der Swissair, zahlreiche Stellen abgebaut werden.

Diesen strategischen Wurf präsentiert André Dosé seinem Chef Mario Corti fristgerecht wie abgemacht am Vormittag des Donnerstags, des 20. September 2001. Klar ist, dass bei diesem Vorgehen die Swissair in ihrer historisch gewachsenen Form zu existieren aufhörte und die kleinere Crossair die Führung in der schweizerischen Luftfahrt übernähme. Und klar ist auch, dass dieses Konzept nur mit dem Crossair-Mann André Dosé an der Spitze realisierbar wäre. Beiden Männern ist bewusst, dass dies eine völlige Umkehrung der bisherigen Stärkeverhältnisse zwischen der Muttergesellschaft Swissair und der 70-prozentigen Tochter Crossair nach sich zöge. Ein kultureller Schock für die bisher unangefochtene nationale Airline Swissair.

Keine Alternativen in sicht
Dennoch akzeptiert Mario Corti Dosés Vorschlag – wohl auch mangels echter Alternativen. Während die beiden Männer noch diskutieren, springt Corti auf und wählt die Nummer von Lukas Mühlemann, Chef der Credit Suisse und Swissair-Verwaltungsrat (siehe den Artikel «Ganz unten» auf Seite 40), und verlangt, dass eine Verwaltungsratssitzung einberufen werden müsse. Und zwar sofort und per Telefon. Um 16 Uhr 30 ist die Sache beschlossen: Der Swissair-Verwaltungsrat stimmt der Verschmelzung der beiden Fluggesellschaften unter der Leitung von André Dosé zu.

Tags darauf, am 21. September, beruft Crossair-Präsident Moritz Suter eine dringliche ausserordentliche Sitzung des Verwaltungsrates der Basler Airline ein, um die neue Strategie auch von diesem Gremium absegnen zu lassen. Die Sitzung findet statt im Konferenzraum der Anwaltskanzlei von Aktienrechtler Peter Böckli an der St.-Jakobs-Strasse 41 in Basel. Anwesend ist auch Mario Corti. Einziges Traktandum der Sitzung: Aufgabe der Eigenständigkeit der Crossair und Verschmelzung mit der Swissair mit dem Ziel einer Rettung der nationalen Airline. Es entbrennt eine heftige, emotionsgeladene Diskussion darüber, ob die Crossair zu Gunsten der Swissair ihre unternehmerische Selbstständigkeit preisgeben solle.

Der Widerstand im Verwaltungsratsgremium ist beträchtlich. «Man fürchtete in Basel», wird Tage später die NZZ notieren, «eine weitere Marke in einer Fusion nach Zürich zu verlieren.» Um diese Ängste auszuräumen, ergreift schliesslich Mario Corti das Wort. Er bietet den anwesenden Verwaltungsräten an, dass die Swissair den 14 000 Minderheitsaktionären der Crossair ein faires Übernahmeangebot machen wird, das mit Hilfe von Bundesgeldern finanziert werden könne. Auch als 100-prozentige Tochter der Swissair und als in die neue Swiss Air Lines eingegliederter Carrier wird die Basler Regionalfluggesellschaft ihren Markennamen und ihren Hauptsitz in Basel behalten. Und Corti gibt, wie bereits tags zuvor beschlossen, Crossair-Chef André Dosé per sofort für die Chefposition der Swiss Air Lines frei. Nicht zuletzt dank diesen Zusicherungen willigt der Crossair-Verwaltungsrat schliesslich in den schwer wiegenden Entscheid ein, zu Gunsten der Swissair auf die eigene unternehmerische Selbstständigeit zu verzichten und den Flugbetrieb mit jenem der Swissair zusammenzulegen.

Dennoch bleibt zumindest bei der Crossair ein schaler Nachgeschmack. Zwei Wochen später, als Moritz Suter in einem mehrseitigen Brief an den «lieben Mario» seine Sicht der Dinge darlegt, fährt er im Zusammenhang mit dieser Sitzung schweres Geschütz auf. Wörtlich schreibt der Crossair-Chef: «Du hast an dieser Sitzung teilgenommen und angeboten, dass die SAirGroup die Minderheitsaktionäre der Crossair auskauft und die finanzielle Machbarkeit im Rahmen des mit Hilfe des Bundesrates zu schnürenden Pakets bekräftigt. Du hast zu diesem Zeitpunkt allerdings schon gewusst, dass die SAirGroup kein Geld mehr dafür hatte, ohne allerdings den Verwaltungsrat der Crossair über den vollen Ernst der finanziellen Lage zu informieren; der Crossair-Verwaltungsrat ist in diesem Punkt nicht in klarer und vollständiger Weise orientiert worden. Ich möchte betonen, dass der grundsätzliche Zustimmungsentscheid des Verwaltungsrates nur nach einer äusserst heftigen Diskussion zu Stande gekommen ist und bei vollumfänglicher Offenlegung der Finanzlage der SAirGroup wohl nicht so gefasst worden wäre.»

Das Rad ist jedoch nicht mehr zurückzudrehen. Über das Wochenende vom 22./23. September bricht hektische Betriebsamkeit aus: Mario Corti fährt nach Bern, um dem Bundesrat das Konzept Swiss Air Lines zu präsentieren. Die Regierung ist geschockt über die desolate Situation bei der Swissair und spricht sich gegen einen Kredit des Bundes aus.

Derweil ist Dosé damit beschäftigt, für den Montag eine Pressekonferenz zu organisieren, um den Rettungsplan und die daraus folgenden personellen Konsequenzen auf der Ebene des Topmanagements publik zu machen. Am Sonntagnachmittag bietet Corti die nun überzähligen Topmanager telefonisch und einzeln an den Balsberg auf, um ihnen die dramatischen Veränderungen persönlich mitzuteilen. Aufgeboten sind unter anderen Wolfgang Werlé, und Rolf Winiger, die beiden Senior Executive Officers, Matthias Mölleney, der Personalchef, Beat Schär, CEO der Swissair, sowie zwei weitere Topmanager. Es ist eine gespenstische Szenerie, welche die Aufgebotenen am Balsberg vorfinden. Das Sekretariat ist verwaist an diesem Sonntag, im Sitzungszimmer der Konzernleitung sitzen Corti, Dosé und Finanzchefin Fouse versunken in Bergen von Arbeit.

Die Illiquidität droht
Corti bittet die Ankommenden in sein Büro, erklärt ihnen kurz das Konzept Swiss Air Lines und eröffnet ihnen, dass sie fortan in der Konzernleitung nicht mehr gebraucht würden. Für die meisten kommt der personelle Kahlschlag zum jetzigen Zeitpunkt völlig überraschend, und manch einer tut sich schwer mit dem Entscheid.

Beat Schär, dessen Job mit der Ernennung von André Dosé zum CEO der neuen Swiss Air Lines dem Rotstift zum Opfer fällt, fasst seine Gefühle in einem Abschiedsbrief an seine Mitarbeiter in Worte: «Die Zielrichtung und die Absichten finde ich grundsätzlich richtig. Der eingeschlagene Weg hat mich jedoch überrascht und sehr getroffen und in ein extrem belastendes Dilemma gestürzt.» Aus diesen Worten spricht wohl auch die persönliche Kränkung darüber, dass nicht er, der Swissair-CEO, Chef der neuen Airline wird, sondern sein Gegenspieler bei der Crossair, André Dosé.

Corti hat sich diesen Entscheid nicht leicht gemacht, seit Wochen hat er gewusst, dass er sich in dieser Personalangelegenheit festlegen muss. Den Ausschlag haben schliesslich zwei Gründe gegeben: Corti, der Dosé schon früh ins Vertrauen gezogen hat, ist von dessen pragmatischem Handeln beeindruckt. Er traut es diesem Manager zu, die Unternehmenskulturen von Crossair und Swissair in der neuen Airline zu vereinen. Und es ist auch eine Geste in Richtung Basel. Corti weiss, dass dem Basler Regionalcarrier in der Swiss Air Lines die entscheidende Führungsrolle zukommen wird. Mit Dosé an der Spitze wird auch nach aussen hin deklariert, dass der bisherige Juniorpartner nun zum Motor der Schweizer Luftfahrt werden soll.

Auch Moritz Suter beugt sich der dramatischen Entwicklung der letzten Tage. Als Verwaltungsratspräsident einer nun in der Swiss Air Lines aufgegangenen Crossair werden seine Einflussmöglichkeiten in Zukunft arg beschnitten sein, dessen ist sich der Crossair-Gründer bewusst. Er ringt sich in diesen Tagen dazu durch, dieses Amt in Kürze abzugeben. Und er folgt dem Rat seiner Berater, vorübergehend abzutauchen. Am Montag, 24. September, zieht er sich mit seiner Ehefrau in die Provence zurück.

Der Aufenthalt an der frischen Luft in Frankreich ist jedoch von kurzer Dauer. Schon nach einem Tag, nach der ersten Sitzung unter dem neuen Chef André Dosé, erreichen Suter neue Hiobsbotschaften aus Zürich. Dosé kabelt in die Provence, dass nach seiner Einschätzung der Swissair die sofortige Illiquidität drohe. Das hat gravierende Auswirkungen auf die Crossair. Sämtliche Banken des Basler Regionalcarriers, eröffnet Dosé seinem Präsidenten, lehnten das Konzept Swiss Air Lines ab, da dadurch die Bonität der Basler Airline klar verschlechtert werde.

Sofort bricht Suter seine halb erzwungene Untätigkeit in der französischen Provinz ab. Am 25. September ist er wieder in der Schweiz. Gewillt, seine letzte Trumpfkarte zu zücken, die ihm noch bleibt: den 70-prozentigen Anteil der Crossair wieder aus der Swissair herauszulösen. Dazu, das ist ihm bewusst, müssen ihm seine zahlreichen Freunde unter die Arme greifen.

Damit geht der Überlebenskampf des Swissair-Konzerns in die letzte, dramatische Runde.

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