Bill Tilman und Eric Shipton planten ihre Expeditionen «on the back side of an envelope». Die beiden britischen Abenteurer und Bergsteiger erachteten eine darüber hinausgehende Planung und Vorbereitung ihrer bis zu einem halben Jahr dauernden Forschungsreisen durch unbekannte Gebiete des Himalajas und Zentralasiens als unnötig. Auch ihre Ausrüstung war spartanisch. Als Tilman gefragt wurde, wie man denn zu einer Expedition komme, antwortete er: «Put your boots on and go.»

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Tilman und Shipton erforschten in diesem Stil zahlreiche weisse Flecken auf der Landkarte. Als Tilman älter wurde und sich als nicht mehr fit genug für die Höhe erachtete, befuhr er mit einem kleinen Segelboot die Meere der Arktis und der Antarktis. Auf seiner letzten Reise wollte er seinen 80. Geburtstag feiern. Sein Schiff verschwand auf der Fahrt zu den Falklandinseln.

«They don’t make men like that anymore», meinte ein wettergegerbter Schotte, den ich am Chimborazo traf. Ja tatsächlich, schon Chris Bonington verwendete 1975 bei der Erstbesteigung der Südwestwand des Everest einen portablen Computer. Und seither haben wir es noch viel weiter gebracht. Wir sind hilflos ohne Guidelines und Flow-Sheets; die Entlassung eines Patienten aus unserem Spital ist heute ein so komplexer Prozess, dass dessen Abwicklung gemäss einer zehnseitigen Weisung abläuft.

Natürlich gibt es auch eine fünfseitige Weisung für die Erstellung von Weisungen. Auch das Qualifikationssystem und die Mitarbeiter-gesprächskultur wurden von Spezialisten zu ungeahnter Qualität entwickelt. Während 1974 meine Abgangsqualifikation vom Universitätsspital Zürich noch aus einem 30-Sekunden-Gespräch bestand, sind heute mit jedem Mitarbeiter mindestens halbjährlich mindestens 30 Minuten Gespräch samt Protokoll zu führen, und auch eine Note ist zu erteilen.

Hier allerdings wird einem die Aufgabe leicht gemacht. Die Behörde schreibt vor, dass die Noten von A bis E nach Gauss zu verteilen seien: Die meisten Mitarbeiter sollen gemäss Amtsmeinung mit C beurteilt werden, also gute Leistung, einige wenige mit B oder D, aber fast nie mit A, also exzellent, oder E, «nur teilweise brauchbar». Nicht Exzellenz ist gefragt, sondern Mittelmass wird gefordert: Die gemäss Leitbild wertvollste Ressource des Unternehmens, der Mitarbeiter, wird nach Jakobinerart, die alles Vorstehende einen Kopf kürzer machte, in das Bett des Prokrustes gezwängt. Prokrustes, ein grimmiger Riese, beschnitt, wer zu gross, und streckte, wer zu kurz war.

Ersonnen haben dies Zürcher Beamte, deren Zahl im Jahr 2003 unerklärlicherweise noch einmal um 500 gestiegen ist. So manche dieser Ehrenwerten nicht Richtlinien und Vorschriften ersinnen oder über philosophische Inhalte ihrer Politik brüten, denken sie darüber nach, worüber sie in langen Sitzungen nachdenken könnten, und veranstalten zur Sinnsuche mehrtägige Seminare, um im industriellen Stil Arbeitszeit zu vernichten – gut genütztes Steuergeld. Damit verglichen, wirkt der CEO von Coop, Hansueli Loosli, recht unzeitgemäss: Lauthals fordert er, dass seine Mitarbeiter und sein Unternehmen ganz an die Spitze kommen sollten. Er will seine Leute als Superstars. Die Wachstumsraten des Unternehmens sind entsprechend.

Gesetze, Urteile und Verordnungen helfen in den schwierigsten Situationen. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA verbietet es, psychisch Kranke hinzurichten, wenn sie den Grund für die Hinrichtung nicht verstünden. Gleichzeitig wird aber die Zwangsmedikation für die Geisteskrankheit verordnet. Darum verstand Charles Singleton, der Schizophrene, schliesslich, warum er die Giftspritze erhalten sollte, und erhielt sie am 7. Januar 2004 in Arkansas.

Sorgfältiges Ausbrüten kluger Lösungen und Richtlinien findet sich auch zu Brüssel. Bei einem Symposium im Nachgang zum Lawinenwinter 1999 hörte ich einen eloquenten Brüsseler Beamten erklären, wie man in Brüssel mittels Kommission und viel Betons das Lawinenproblem in den Alpen zu lösen gedenke. Er machte mich innerhalb von drei Minuten zum überzeugten EU-Gegner. Unlängst wurde die Empfehlung der seither tagenden EU-Expertenkommission publiziert. «Man solle die Naturgefahren stärker berücksichtigen», so die Erkenntnis.

Hätten nur Tilman und Shipton etwas sorgfältiger geplant, so wären sie beim Planen geblieben und hätten sich alle Strapazen erspart. Aber damals wurden noch solche Männer gemacht, und glücklicherweise gibt es sie vereinzelt auch noch heute.

Prof. Dr. med. Oswald Oelz Der BILANZ-Kolumnist ist Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital, Zürich, und Extrembergsteiger