Die Diskussionen über einen allfälligen Brexit wurden in den letzten Monaten intensiver, und viele britische Unternehmer und Spitzenmanager stehen einem Ausstieg positiv gegenüber. Wie präsentiert sich die Situation für die britischen Banken?
Graham Mather*: Zurzeit möchten die meisten gestandenen Spitzenmanager, dass Grossbritannien fest in der EU verankert bleibt. Die Grossunternehmen, und dazu rechne ich auch die Grossbanken, sind jedoch eher zurückhaltend, wenn es darum geht, eine deutliche Meinung zu formulieren. Sie wollen ihre Kunden, ihre Aktionäre und andere Stakeholder, die eine gegenteilige Auffassung haben, nicht «vergraulen». Viele ausländische Banken in London betrachten Grossbritannien heute als einen wichtigen Türöffner zur EU. Andere sind besorgt, weil eine straffere Regulierung in London und eine allfällige Erhöhung der Bankensteuer es notwendig machen werden, dass nach attraktiveren Standorten Ausschau gehalten werden muss.
Wie muss man die Meinung von Mark Carney, Governor der Bank of England, interpretieren, der offenbar ein Verbleiben in der EU bevorzugt, wobei er allerdings der Meinung ist, dass gewisse Regulierungsreformen vorgenommen werden müssen?
Wie gesagt, viele gestandene Persönlichkeiten des britischen öffentlichen Lebens befürworten Reformen der EU in dem Sinn, dass der europäische Binnenmarkt für Dienstleistungen effizienter wird und dass unnötige Regulierungen wieder gekippt werden. Mit dieser Arbeit hat auch Frans Timmermans als Erster Vizepräsident der Europäischen Kommission bereits begonnen. Auch sollte man nach Möglichkeiten suchen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaft zu verbessern. Hier geht es um mittelfristige Zielsetzungen, welche die kurzfristigen, die Schatzkanzler George Osborne in seiner Berliner Rede erwähnt hat, ergänzen: So will Grossbritannien unter anderem, dass das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten in der Eurozone und denjenigen ausserhalb korrigiert wird, damit es für alle besser funktioniert. Denn mit zunehmender Integration des Euroraums ist es wichtig, dass Länder ausserhalb der EU nicht systematisch benachteiligt werden. Übermässige Einflussnahme durch die Mitglieder der Eurogruppe soll es nicht mehr geben.
Würde ein Austritt Grossbritanniens aus der EU den britischen Banken Wettbewerbsvorteile bringen, im Sinn, dass sie sich von gewissen nun einengenden Regulierungen befreien könnten?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die britischen Banken aus einem Brexit Vorteile schlagen könnten. Unter den derzeitigen organisatorischen Gegebenheiten sind sie viel stärker in die bankenregulatorischen Entscheidungen der EU eingebunden, als dies bei ihren US- oder internationalen Gegenspielern der Fall ist. Ausserdem betrachtet sich Grossbritannien als gut organisiertes und reguliertes Finanzzentrum. Deshalb wäre im doch eher unwahrscheinlichen Fall eines Brexit kaum zu erwarten, dass eine signifikante Reduktion des bestehenden Regulierungswerks für die Banken und den weiteren Finanzdienstleistungssektor des Vereinigten Königreichs erfolgen wird. Die aufgrund der Empfehlungen der unabhängigen Bankenkommission (Vickers Report) von der Regierung errichtete «Brandmauer» zeigt auch, dass Grossbritannien bei der Regulierung eher auf der strengen Seite steht. Schliesslich würde ein Ausstieg dermassen viele Unsicherheiten mit sich bringen, dass nur sehr kurzfristige Strategien überhaupt möglich wären. Ein Alternativszenario fehlt (noch).
Wie sehen Sie die Zukunft der Eurozone in Bezug auf deren Nachhaltigkeit?
Ich bleibe bei meiner Auffassung, dass die Eurozone kein optimaler Währungsraum ist, und wie die Erfahrungen mit Griechenland zeigen, werden die Spannungen hinsichtlich der Währungsstruktur bestehen bleiben. Ich wäre zuversichtlicher hinsichtlich der Zukunft der Eurozone, wenn der Stabilitäts- und Wachstumspakt wirklich umgesetzt wäre. Die Tendenz, gesetzliche Anforderungen immer wieder zu umgehen, ist eine äusserst unbequeme Situation für eine auf Recht und Gesetz fussende Gemeinschaft wie die EU. Wie sich auch in anderen politisch relevanten Bereichen zeigt, verlässt sich die Eurozone viel zu viel auf eine hauptsächlich von Deutschland gesteuerte politische Ausrichtung. Beispiele sind das für Griechenland geschnürte Rettungspaket und das Quantitative-Easing-Programm der Europäischen Zentralbank.
Wird der Rückfall ins nationalstaatliche Denken, welches sich vor allem in der derzeitigen Flüchtlingskrise manifestiert, anhalten, und wird damit auch die Existenz der Eurozone gefährdet?
Tatsächlich stimmt es, dass die nationalstaatlichen Interessen, insbesondere durch die Flüchtlingskrise, wieder stärker zu Tage treten. Hier zeigt sich einmal mehr, dass das deutsche Vorprellen in dieser Thematik für kleinere Staaten mit geringerem Einfluss auf die Politik der EU ernsthafte Schwierigkeiten mit sich bringt. Das Schengen-System – wie die Eurozone – droht einzuknicken: Hier infolge der grossen Anzahl von Flüchtlingen. Viele Briten betrachten es deshalb als eine weise Entscheidung, dass Grossbritannien für den Euro und das Schengen-Abkommen eine Opting-Out-Klausel erwirken konnte. Damit bleibt die nationale Souveränität des Landes, wenn es um heikle Fragen, wie die Aufsicht über die eigene Währung und jene über die eigenen Grenzen, geht, erhalten. Die Auffassung, dass die EU stark und effizient genug ist, um ihre Aussengrenzen schützen zu können, zeugt wohl von zu grossem Optimismus, wie sich im Fall von Griechenland zeigt.
Mit seinem zweiten Quantitative-Easing-Programm möchte Mario Draghi die kranke europäische Volkswirtschaft ankurbeln. Die derzeit niedrigen – ja negativen – Zinssätze bedrohen aber die Existenz der Banken und die Sparbücher der Bürger. Wie müssen sich die Nationalbanken verhalten, damit sie aus dieser Lage herauskommen können?
Die niedrigen, negativen Zinssätze machen das Arbeiten im Bankensektor tatsächlich ausserordentlich schwierig. Die Banken haben aber länger als erwartet durchgehalten. Zähneknirschend bleibt den Banken – übrigens genauso wie Einzelpersonen – nichts anders übrig, als zu versuchen, mit den Veränderungen in den Finanzmärkten fertigzuwerden. Wollen die Nationalbanken einigermassen unbeschadet aus dieser schwierigen Phase herauskommen, so geht das nur durch strukturelle Reformen der europäischen Volkswirtschaften, das heisst durch Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und höhere Produktivität. Nur dann wird auch das Zinsniveau sich wieder normalisieren.
Welche strukturellen Reformen muss man denn anstreben, um die Eurozone zum ursprünglich angestrebten Inflationsziel von 2 Prozent zurückbringen zu können?
Da gibt es viele. Arbeitsmarktreformen sind in vielen Ländern dringend notwendig. Auch die Privatisierung von staatlichen Unternehmungen, was eine heikle, aber dringend nötige Aufgabe ist. Zudem müssen die Produktemärkte von den Wettbewerbsbehörden und von den Regulatoren gründlich durchleuchtet werden, damit allfällige wettbewerbsverzerrende Schutzbestimmungen und Kartellabsprachen aufgehoben werden können.
Die Banken sprechen im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit vermehrt von «Nachhaltigkeit». Was bedeutet Ihrer Meinung nach diese Nachhaltigkeit, wenn man im 21. Jahrhundert von erfolgreichen Banken spricht?
Ich interpretiere diese Auffassung so, dass sich die Finanzinstitute von der ausschliesslichen Zielsetzung der Gewinnmaximierung wegbewegen müssen hin zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit. Da gibt es verschiedene Szenarien, aber ich betrachte es als unvernünftig, wenn Banken zu sehr diversifizieren. Um das Vertrauen in den Finanzdienstleistungssektor vollständig wiederherstellen zu können, braucht es noch einiges. Die Kunden haben Anrecht darauf, zu wissen, dass die Banken genügend Eigenkapital haben, dass sie keine risikoreichen Transaktionen anstreben und dass das Management einen hohen Ausbildungsgrad hat und nach hohen ethischen Massstäben handelt. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für die Banken der Zeitpunkt gekommen, um breitere sozialpolitische Fragen anzugehen.
Könnte mit weiteren regulatorischen Massnahmen die Nachhaltigkeit gefördert werden?
Die meisten Beobachter sind der Meinung, dass die nach der Finanzkrise am Anfang dieses Dezenniums getroffenen regulatorischen Korrekturmassnahmen zuerst einmal auf ihre Wirkung überprüft werden müssen. Die Europäische Kommission hat dazu aufgerufen, und ich rate allen Banken, die Kommission darüber im Detail zu informieren. Nur so kann eine kluge Bewertung erfolgen und ein regulatorisches Gleichgewicht für die Zukunft gefunden werden.
* Graham Mather ist Präsident des Londoner European Policy Forums und war von 1994 bis 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments.
Dieses Interview und viele andere Themen lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der «Schweizer Bank», seit Freitag im Handel.