Erst kostet auf Zalando eine Jeans 200 Euro. Wenig später bestellt jemand anderes das identische Exemplar für nur 80 Euro. Ungerecht? Willkommen in der Welt des Dynamic Pricing.  

Bei vielen Online-Händlern sind ständig wechselnde Preise längst Realität. Software-Programme vergleichen laufend die Preise der Konkurrenz und passen die eigenen an. Amazon variiert sie mehrmals täglich. Der Marktforscher Metoda hat auf dem Online-Marktplatz bereits vor zwei Jahren 3,6 Millionen Preisschritte pro Monat ausgemacht. Wie normal Preisschwankungen heute sind, zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie der Verbraucherzentrale Brandenburg: 15 von 16 grossen deutschen Online-Shops ändern regelmässig die Preise. So kostete etwa bei Mediamarkt innerhalb des untersuchten Zeitraums (34 Tage) ein bestimmtes Handy plötzlich 220 Euro mehr.

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American Airline hat angefangen

Dynamische Preise sind keine Spezialität von Online-Händlern. Angefangen hat damit American Airline in den 80er-Jahren. Sie reagierte als mit dem Aufkommen der Billigfliegerei die Preise unter Druck gerieten. Heute setzt praktisch jede Fluggesellschaft auf schwankende Preise. Kunden haben sich längst daran gewöhnt. Das gilt auch für die Hotels, für Reisen im TGV oder Flixbus, für Fahrten mit Uber. Sogar die SBB haben mit den Sparbilleten ein dynamisches Preissystem eingeführt.

Neu kommen Skigebiete auf den Geschmack: Andermatt setzte vergangenen Winter erstmal dynamische Preise ein für den Skipass – der Umsatz stieg um 6,8 Prozent. Kommenden Winter zieht St. Moritz nach: Wer eine Tageskarte bis 15 Tage im Voraus kauft, zahlt 30 Prozent weniger. Und die Tagespreise hängen davon ab, wie viele Gäste bereits ein Billett gelöst haben.

Detailhändler experimentieren schon

Die Preise schwanken also nicht nur bei Online-Shops. Sie variieren überall dort, wo sich Unternehmen, Betreiber und Veranstalter eine bessere Auslastung erhoffen, sich im letzten Moment vielleicht noch ein paar Plätze verkaufen lassen. Ein dynamisches Modell à la Zalando fehlte jedoch bisher im klassischen Handel.

Das wird sich früher oder später ändern. Überzeugt davon ist Michael Grund, der das Center for Marketing & Sales der Zürcher Hochschule für Wirtschaft HWZ leitet und sich schon länger mit dem Thema beschäftigt. «Für den Handel können dynamische Preise attraktiv sein, um mit günstigen Preisen Kunden zu Randzeiten in die Filialen zu locken», sagt er. So koste dann am Montagmorgen die Waschmaschine weniger als am Donnerstagabend. Solche Tests habe es bereits gegeben; auch wenn das die Händler am liebsten verschweigen.

Individualisierte Preise

Grund sieht zudem bereits Ansätze im Lebensmittelhandel, etwa wenn Coop und Migros die Waren mit den roten Rabattklebern versehen. «So kostet ein Salat oder Sandwich am Morgen mehr als am Abend.» Doch schwankende Preise sind nur ein erster Schritt. Wirklich interessant wird es für Händler, wenn sie die Preise auch individualisieren.

Besonders im tiefmargigen Lebensmittelhandel bringt das ein gewaltiger Vorteil für die Händler: Sie können die Kunden so auf Produkte mit höherer Marge lenken. In letzter Konsequenz schliesslich geht es darum, die höchstmögliche Zahlungsbereitschaft abzuschröpfen. Wer ständig Bananen kauft, der zahlt letztlich für Bananen mehr, als jemand der Bananen kaum je anrührt.  

Klingt nach ferner Zukunft. Ist es aber nicht. Es laufen bereits Experimente in diese Richtung: Vor zwei Jahren hat Migros individuelle Cumulus-Coupons eingeführt. Kunden erhalten an der Kasse einen auf das jeweilige Konsumverhalten zugeschnittenen Rabatt-Coupon.

«Im schlechtesten Fall zahlt der Kunde mehr»

Ursula Uttinger, Präsidentin des Datenschutz-Forums Schweiz, sagt, der einzelne Kunde werde mit Rabatten gezielt beeinflusst. «Migros kann mit den individuellen Cumulus-Rabatten immer genauer herausfinden, ab wann jemand bereit ist, ein Produkt zu kaufen.» Kauft er beispielsweise immer normale Schokolade, gibt der Händler Rabatte für Pralinen und sieht dann, ab welchem Preis der Kunde anbeisst. «Konsumenten geben wertvolle Daten preis, um von einem minimen Rabatt zu profitieren, obwohl sie kaum wissen, was der Anbieter mit den Informationen macht», sagt Uttinger. «Im schlechtesten Fall bezahlt der Kunde am Schluss sogar mehr.»

Bei Migros sammeln 2,8 Milllionen Personen Cumulus-Punkte – 80 Prozent der gesamten Kundschaft. Migros-Sprecher Luzi Weber verteidigt die individuellen Cumulus-Coupons: «Die hohe Einlöserate zeigt, dass unsere Kundinnen und Kunden das Programm sehr schätzen. Das ist insofern nachvollziehbar, als die Kunden durch die Personalisierung Angebote erhalten, die für sie auch wirklich relevant sind.»

Ein Hundehalter freue sich über ein Angebot auf Hundefutter, eines auf Katzennahrung wäre für ihn völlig irrelevant. Die Migros löst damit tatsächlich ein Wunsch vieler Kunden ein: Laut einer im August veröffentlichten Studie von Deloitte zu Loyalitätsprogrammen wie Cumulus, Supercard und Co. erwarten 58 Prozent der Befragten, dass Rabattprogramme ihr individueller Lifestyle berücksichtigen.

Supercard

Coop gibt Rabatte für spezifische Gruppen, Migros gibt sogar individuelle Cumulus-Rabatte.

Quelle: Keystone

Individuelle Rabatte standen zwar auch bei Coop zur Diskussion. Sprecher Urs Meier sagt aber: «Coop hat sich gegen personalisierte Rabatte entschieden, weil wir alle Kunden gleich behandeln wollen.» Allerdings bietet Coop zielgruppenbezogene Coupons an. So bekämen junge Eltern, die Mitglieder im «Hello-Family-Club» sind, beispielsweise Coupons auf Windeln und Mondovino-Mitglieder Coupons auf ausgewählte Weine. «Hier sprechen war aber immer von grossen Zielgruppen, die in der Regel mehrere tausend Supercard-Kunden umfassen», sagt Meier.

Kampf mit schrumpfenden Umsätzen

Migros und Coop betonen beide, dass die Einführung von dynamischen Preisen nicht zur Diskussion stehe. Allerdings kämpft der gesamte Detailhandel gegen schrumpfende Umsätze. Von 2010 bis 2014 stagnierten sie noch bei rund 96 Milliarden Franken, seither geht es bergab: Sie sanken von Jahr zu Jahr auf zuletzt 92 Milliarden, wie Zahlen des Marktforschers GFK zeigen. Im Online-Handel geht es hingegen nur aufwärts: Seit 2010 sind die Umsätze von 5, 1 Milliarden Franken auf zuletzt 8,6 Milliarden geklettert – praktisch jene Summe also, die dem stationären Handel weggebrochen ist.

Entgegen den Online-Shops sträuben sich die stationären Händler, dynamische und individuelle Preise einzuführen – zu gross sind die Ängste vor Reputationsschäden. Wie lange noch? Die stationären Händler sammeln ebenso fleissig Kundendaten. Und sie wissen: Es wäre wahnsinnig, diese nicht stärker zu nutzen und Dynamic Pricing allein den Online-Händlern zu überlassen, die ihnen ohnehin immer mehr das Wasser abgraben. Die Frage ist nur, wie lange es dauert, bis sich Konsumenten überall auf schwankende Preise einstellen müssen.

Schleichender Wandel

Michael Grund von der ZHW sagt: «Dass Preise dynamischer und individueller werden, ist praktisch unausweichlich.» Er glaubt jedoch nicht, dass sie sich schon in den nächsten Jahren breitflächig durchsetzen. «Es ist aber gut möglich, dass Läden wie ein Avec oder Coop Pronto digitale Preisschilder einführen und damit experimentieren.» So dass etwa ein Red Bull am Freitagabend teurer ist als sonst.

Der Wandel hin zu dynamischen Preisen wird schleichend voranschreiten. Mit ausgeklügelten Rabattsystemen, mit immer schnelleren Preisschwankungen bei einzelnen Produkten. Der Konsument wird sich daran gewöhnen. Und neue Taktiken zur Schnäppchenjagd entwickeln.