Seine Stimme zitterte leicht. Immer wieder stolperte er über Wörter, verhaspelte sich im Text. Nur selten hob er den Blick, und wenn, dann senkte sich sein Kopf sofort wieder über das Manuskript. Rudolf Wehrli war noch nie ein glänzender Redner gewesen. Diesmal lag es jedoch nicht am Mangel an Rhetorik; er hatte einfach nicht genügend Zeit gehabt, sich in seine Rede einzulesen. Denn die Einladung für die vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse am Mittwoch, dem 19. Juni, auf elf Uhr angesetzte Pressekonferenz war erst vier Stunden vorher per Mail versandt worden.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Die Nervosität des Verbandspräsidenten hatte wohl auch damit zu tun, dass er seinen eigenen Rücktritt bekanntgeben musste. «Mein Amt ist erheblich anspruchsvoller geworden über die letzten Monate, viel zeitintensiver, als das vor Jahresfrist absehbar war», begründete Rudolf Wehrli seinen Schritt. Ende August, an der Jahresversammlung von Economiesuisse, wird er den Hut nehmen.

Ernste Lage. Dass Rudolf Wehrli das Handtuch wirft, war allgemein erwartet worden. Überraschend dagegen der gleichzeitig bekanntgegebene, überstürzte Abgang des Direktors Pascal Gentinetta, offiziell «wegen unterschiedlicher Auffassungen bezüglich der strategischen Ausrichtung». «Wir haben uns im gegenseitigen Einverständnis getrennt», betonte Verbandspräsident Wehrli. Und er beeilte sich zu sagen, dass von einem Zerwürfnis keine Rede sein könne. Es komme in vielen Firmen vor, dass der CEO und der Verwaltungsrat unterschiedlicher Auffassung seien. «Konstruieren Sie nicht einen Eklat, wo kein Eklat ist», ermahnte Wehrli die anwesenden Journalisten eindringlich.

Stimmt, das war kein Eklat, sondern ein echter Big Bang. Und einer, der innert kürzester Zeit über den Verband hereingebrochen ist. Noch am Freitag, also fünf Tage vor der Pressekonferenz, wusste Pascal Gentinetta nichts von seiner bevorstehenden Entmachtung – nichts anderes war es schliesslich. Keine Spur von «gegenseitigem Einverständnis», wie das Wehrli der Öffentlichkeit weismachen wollte. Am Wochenende wurde Gentinetta kurz und bündig mitgeteilt, dass er per sofort freigestellt sei. «Er war völlig überrascht, dass wir da mit aller Härte vorgegangen sind», sagt einer aus dem Vorstandsausschuss.

Gentinetta hatte offensichtlich den Ernst der Lage nicht erkannt – bis es zu spät war. Dabei hatte es an der Verbandsspitze schon lange rumort und der Direktor zunehmend die Rückendeckung der drei Vizepräsidenten Hans Hess, Christoph Mäder und Patrick Odier verloren. Hess’ spitze Bemerkung an der Pressekonferenz, der Economiesuisse stünde künftig etwas mehr Bescheidenheit gut an, war laut Insidern klar auf Gentinetta gemünzt. Christoph Mäder schlug in dieselbe Kerbe mit dem Seitenhieb, man könne seine Standpunkte «auch ohne protziges Auftreten äussern». In der Öffentlichkeit kam der langjährige Direktor Gentinetta ebenfalls nicht allzu positiv an, ja er galt manchem Bürger als zu arrogant.

Zu hitzigen Diskussionen Anlass gab seit Wochen vor allem die Neupositionierung, die nach Meinung der Verbandsspitze nach der im März verlorenen Abstimmung der Minder-Initiative nötig geworden war. «Gentinetta hat sich von Anfang an quergelegt», plaudert ein Vorstandsmitglied. Man habe zwar eine Abstimmung verloren, doch vorher viele gewonnen, eine Strategieänderung sei nicht nötig, entgegnete der Verbandschef. Gentinetta fand kein Gehör, worauf er «höchst widerwillig mitarbeitete bei der Ausarbeitung der Neupositionierung». Ihm widerstrebte vor allem die geplante «Fokussierung auf gesamtwirtschaftlich relevante Themen» sowie die «effektivere Arbeitsteilung mit anderen Verbänden». «Da war auch dem Hintersten und Letzten von uns klar, dass Pascal Gentinetta nicht mehr tragbar ist», sagt ein Mitglied des Vorstandsausschusses. In erster Linie die beiden Vize Hans Hess und Christoph Mäder forderten die sofortige Freistellung, sprich den Rausschmiss.

Am Montagmorgen wurde am Hauptsitz von Economiesuisse kurzfristig eine Sitzung angesetzt, ohne Traktandenliste und ohne dass im Voraus gesagt wurde, was es zu besprechen gab. «Da wussten wir, dass es geknallt hat», meint einer der Teilnehmer. Geladen war auch Rudolf Minsch, Geschäftsleitungsmitglied und Chefökonom des Verbands. Ihm wurde der Job des Direktors angetragen, wenn auch nur interimistisch. Nach kurzem Zögern akzeptierte der 46-Jährige (siehe Interview «Der einzige Weg»). Ihn scheint sein vorübergehender Status nicht gross zu kümmern. Und aus den eigenen Reihen ist ihm Beifall gewiss: «Ich erachte es als positiv, dass sich Rudolf Minsch ad interim für dieses Amt zur Verfügung gestellt hat», lobt Bruno Frick, Economiesuisse-Vorstandsmitglied und Ex-CVP-Ständerat.

Gleichentags wurde Wehrli von allen Seiten bestürmt, sein Vorhaben eines frühzeitigen Ausstiegs fallen zu lassen. Es war zwar längst ein offenes Geheimnis, dass der erst vor knapp einem Jahr ins Amt gewählte Verbandspräsident der falsche Mann für diesen Posten war. Dennoch wollte der Verband einen doppelten Abgang um jeden Preis vermeiden; der Imageschaden wäre beträchtlich. Wehrli jedoch wollte von einer Zusatzschlaufe bis ins nächste Jahr nichts wissen. So entschlossen sich die drei Vizepräsidenten am Dienstag zum Ende mit Schrecken, um klare Verhältnisse zu schaffen. Am nächsten Tag wurde kurzfristig zur erwähnten Pressekonferenz geladen.

Desolater Zustand. «Inhaltlich und organisatorisch liegt Economiesuisse total am Boden. Und das in einer Zeit, wo für die Wirtschaft wichtige Abstimmungen anstehen und die Schweiz an vielen Fronten zu kämpfen hat», meint ein Manager des Verbands. Dass gleich die zwei wichtigsten Leute praktisch auf einen Schlag wegfallen, zeigt die desolate Verfassung von Economiesuisse. Und Gentinetta hat, jedenfalls bis auf die Neupositionierung, sehr gute Arbeit geleistet. Das bescheinigt ihm auch Bruno Frick: «Ohne ihn wäre der Verband nicht dort, wo er heute steht.»

Nun sollen die beiden Posten so rasch als möglich wieder besetzt werden. Dazu wurde eine Findungskommission eingesetzt unter Führung des Vorstandsmitglieds Rolf Soiron. Der angesehene Verwaltungsratspräsident des Baustoffherstellers Holcim und des Chemiekonzerns Lonza sucht, entgegen den allgemeinen Erwartungen, nicht einen Politiker für das höchste Amt bei Economiesuisse. «Der neue Präsident muss in erster Linie in der Wirtschaft eine hohe Glaubwürdigkeit besitzen. Das ist weitaus wichtiger, als wenn jemand nur eine politische Laufbahn vorweisen kann.»

Die Suche ist kein leichtes Unterfangen. Nach den Ereignissen der letzten Monate und der Medienschelte will sich kaum jemand mit diesem Posten die Finger verbrennen. Dessen ist auch Soiron gewahr. «Wer das Amt des Präsidenten übernimmt, muss sich bewusst sein, dass er in der Öffentlichkeit nicht mit Samthandschuhen angefasst wird. Doch genau das sind viele profilierte Unternehmer nicht gewohnt.» Via Medien haben denn auch schon eine ganze Schar von Unternehmern, aber auch Politiker ihr Desinteresse an diesem Posten bekundet. Bereits abgewinkt haben beispielsweise FDP-Nationalrat Ruedi Noser, FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter oder Coop-Präsident Hansueli Loosli. Auch der für diesen Job geeignetste Mann, Alt-SVP-Nationalrat und Stadler-Rail-Besitzer Peter Spuhler, will nicht auf dem Präsidentensessel von Economiesuisse Platz nehmen.

Nadel im Heuhaufen. Dennoch zeigt sich der Multi-Verwaltungsrat Rolf Soiron optimistisch, die geeignete Person letztlich doch noch zu finden. Auf den Einwand, dies könne bei den als konservativ geltenden Schweizer Unternehmern zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen auswachsen, kann er kaum noch an sich halten: «Gopfriedstutz, wäre das ein Armutszeugnis für unsere Wirtschaft, wenn wir nicht einmal fähig wären, eine Person aus unseren eigenen Reihen zu nominieren.» Zum unpopulären Amt gesellt sich, dass der Präsidentenstuhl nicht gerade vergoldet wird. Dem mag der Hobby-Headhunter Rolf Soiron nur teilweise zustimmen: «Das Salär des Präsidenten ist nicht überbordend, aber auch nicht knapp. Es ist jedenfalls grösser als jenes, das manch andere Person für ein Vollamt erhält», orakelt er.

Wie gross der Lohn letztlich ist, wissen sogar bei Economiesuisse nur wenige Personen. Im Verband wird geschätzt, dass Wehrli für sein 30-Prozent-Pensum etwa 100 000 Franken erhält. Der neue Präsident muss deutlich mehr Zeit für den Dachverband aufwenden, etwa 50 bis 60 Prozent. Das ergäbe also gegen 200 000 Franken. Im Vergleich zu VR-Mandaten in der Privatwirtschaft keine üppige, aber auch keine magere Entschädigung. Hans Hess beispielsweise erhält für sein 40-Prozent-Pensum als Präsident des Verbands Swissmem lediglich Gottes Lohn – und vielleicht noch ein Schulterklopfen.

Ökonom und Manager. Weitaus besser bezahlt ist das Amt des Direktors von Economiesuisse. Zwar werden auch hier die Zahlen unter Verschluss gehalten. Den in der Presse mehrmals genannten Schätzungen eines Jahressalärs von 500 000 bis 600 000 Franken hat die Verbandsspitze jedoch nie widersprochen. Und da es sich hierbei um einen Vollzeitjob handelt, dürfte dieser weit weniger schwer zu besetzen sein als das Präsidentenamt. Auch die Anforderungen sind hier klarer umrissen. Hans Hess: «Er sollte einen guten Background als Ökonom aufweisen und versiert in wirtschaftspolitischen Fragen sein. Zudem muss er Managementfähigkeiten besitzen, schliesslich hat er einen grossen Verband zu leiten.» Der starke Mann bei Economiesuisse will auch die alte Hierarchie wiederherstellen, die unter Rudolf Wehrli auf den Kopf gestellt wurde. «Der Präsident ist der Aussenminister, der den Verband in der Öffentlichkeit repräsentiert. Der Direktor dagegen muss den Verband managen, er ist die klare Nummer zwei», stellt Hess klar.

Bis im Herbst, so heisst es aus dem Wirtschaftsdachverband, sollte der Posten des Direktors wieder besetzt sein. Spätestens Ende Jahr dürfte auch der neue Präsident sein Amt antreten. Und falls sich partout kein Nachfolger für Wehrli finden lässt? Darauf hat niemand im Verband eine Antwort. Zumindest nicht offiziell. Mehrere Vorstände jedoch meinen, dann müsse die graue Eminenz der Economiesuisse in die Hosen steigen: Hans Hess. Der Königsmacher, auf dessen hauptsächliches Betreiben hin Pascal Gentinetta abgeschossen wurde, betont zwar bei jeder Gelegenheit, dass er kein Interesse an der Spitzenfunktion im wichtigsten Schweizer Verband habe. «Ich bin durch und durch ein Industrieller, zudem erst zwei Jahre und sehr gerne Präsident von Swissmem», beschied er BILANZ schon vor Monaten.

Doch je länger sich die Suche hinzieht, desto mehr gerät Hess unter Druck – nicht zuletzt auch verbandsintern. Ihm wird zugetraut, den Dachverband Economiesuisse wieder zu alter Macht und Grösse zurückzuführen. Nicht zuletzt deshalb stösst seine ablehnende Haltung in Wirtschaftskreisen zunehmend auf Unverständnis. Schlussendlich war es Hess, der die Führungskrise beim Verband verschärft hat.