Jetzt sprechen die Top-Bezüger unter den Ärzten

Seit sechs Jahren gibt es den Pharma-Kodex, auf dem die Offenlegung der Zuwendungen der Pharmaindustrie basiert. Und immer wieder hat die «Handelszeitung» versucht, mit Ärzten, die durch grosse Zuwendungen auffielen, ins Gespräch zu kommen. Nun ist es so weit: Sechs der Top-10-Bezüger. (Details zu den Bezügen der Top 10 weiter unten) waren bereit, Fragen die beantworten. Fazit: Die Ärzte sind sich der Fallstricke, die die Zusammenarbeit mit der Industrie sehr wohl bewusst und unternehmen viel – teilweise mehr als sie müssten – um Interessenkonflikte zu vermeiden. In Sachen Pharmagelder ist ein Kulturwandel im Gange. Wie frei sind sind Ärzte und Ärztinnen in Wahl von Therapien, wenn sie von der Pharmaindustrie zu Kongressen eingeladen werden? Wie frei sind sie in ihren Entscheidungen, wenn sie von Unternehmen als Referenten engagiert werden? Die Fragen stellen sich. Insgesamt bezahlte die Pharmaindustrie vergangenes Jahr rund sechs Millionen Franken direkt an medizinisches Personal. Sei es etwa als Honorare oder als Spesenbeteiligung für die Teilnahme an Ärztekongressen (mehr dazu hier). 2020 erhielten die Spitzenbezüger zwischen 30'000 und 50'000 Franken ausbezahlt. In den Jahren davor beliefen sich die Vergütungen bei einzelnen Ärzten auf mehr als 100'000 Franken. Am meisten Geld erhielt Oliver Distler ausbezahlt (Details zu den einzelnen Personen auch am Ende des Textes). Insgesamt bezog er 56'207 Franken, davon 50'772 von Boeringer Ingelheim. Distler ist ist Direktor der Klinik für Rheumatologie am Universitätsspital Zürich Die Zuwendungen seien für wissenschaftliche Beratungen zur Entwicklung von Medikamenten, sagt Distler. Dabei gehe es etwa um das Studiendesign, also Fragen wie: Wird bei einer klinischen Studie gemessen, was gemessen werden soll? Wird das Medikament an der richtigen Patientengruppe getestet? Oder: Braucht es noch Laboruntersuchungen, bevor man ein neues Medikament an Patienten und Patientinnen getestet werden kann? Diese Beratungen würden oft in kleinen Gruppen mit anderen internationalen Experten durchgeführt, sogenannten «key opinion leaders», schreibt der Rheumatologe. Die entsprechenden Verträge würden von der Universität genehmigt, «damit sie mit den Anstellungsbedingungen der Universität übereinstimmen und alle rechtlichen Vorgaben erfüllt sind». Die Honorare würden internationalen Vorgaben entsprechen, «und liegen übrigens meist weit unter den Honoraren, welche die amerikanischen Kollegen für wissenschaftliche Beratungen von Firmen erhalten». Zudem erhalte er Honorare für Vorträge bei Fortbildungsveranstaltungen und Symposien, die alle «ausschliesslich in meinem Spezialgebiet» liegen, sagt Distler. Bei diesen klinischen Fortbildungen liege die Auswahl der Inhalte ausschliesslich bei ihm. Das Thema werde gemeinsam mit dem Unternehmen besprochen, sagt Distler und stellt klar: «Stimme ich der Themenwahl nicht zu, lehne ich den Vortrag ab». Mit seiner Policy bei der Teilnahme von Kongressen geht Distler weiter als die meisten seiner Kollegen: Eine solche lasse er sich schon seit Jahren nicht mehr von der Industrie mehr finanzieren, sagt er. «Ich mache das aus der Überzeugung heraus, dass Kongressteilnahmen nicht von der Industrie finanziert werden sollten», weil hier, anders als bei Beratungen und Vorträgen, keine Gegenleistung erfolge. Die Teilnahme an Kongressen müsse anders finanziert werden. Und wenn er an einem Kongress ein Symposium hält, dann übernimmt die organisierende Firma nur die Anreise und die Hotelspesen, die für das Symposium erforderlich seien. «Bleibe ich zur eigenen Fortbildung länger an einem Kongress, übernehme ich die restlichen Übernachtungen privat», sagt Distler. Die Zuwendungen seien vor allem für wissenschaftliche Vorträge, sagt Andrea Rubbert-Roth. Sie ist Leitende Ärztin für Rheumatologie am St. Galler Kantonsspital und, mit Zuwendungen von 53832 Franken, neben der Anti-Aging-Spezialistin Marva Safa, die einzige Frau auf der Liste der Top-10-Bezüger. Auch bei ihr sind es die klinischen Studien, die den Ausschlag geben. Sie engagiere sich seit über 20 Jahren in verschiedenen klinischen Studien, auch international, und werde deshalb oft als Rednerin angefragt. Interessenkonflikte gebe es keine, sagt sie. Denn: «Würde sich bei einer Anfrage ein Interessenkonflikt ergeben, so würde ich die Anfrage ablehnen». Es gebe keine Interessenkonflikte, findet auch Roger Lehmann, Leitender Arzt für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung am Zürcher Unispital. Er entscheide immer aufgrund der medizinischen Gegebenheiten beim Patienten und lasse sich dabei nicht von den Unternehmen beeinflussen. Das meiste Geld stamme von Hausarzt- und Spezialistenkongressen in aller Welt, an denen er referiere. Das Honorar belaufe sich dabei auf jeweils 150 Franken pro Stunde Vortrag und Vorbereitungszeit, «was tiefen Ansätzen entspricht, wenn man die Erfahrung und Expertise berücksichtigt». Häufig flössen zudem Reise- und Kongressspesen in die Gesamtsumme ein und würden nicht separat ausgewiesen, sagt Roger Lehmann. Auch bei Erich Seifritz, Direktor Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (vormals Burghölzli) und Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Zürich, gehen die meisten Zuwendungen auf seine Tätigkeit als Berater für die Industrie zurück. So war Seifritz etwa involviert in die Entwicklung von Ketamin, eines von Janssen, der Pharmasparte von Johnson & Johnson entwickelten Wirkstoffs, der im vergangenen Jahr unter dem Markennamen Spravato zugelassen wurde. Es handelt sich dabei um ein neues Medikament gegen Depressionen, das mit einem Nasenspray verabreicht wird und bei den Patienten Hoffnung verspricht, die auf die Standardtherapien nicht ansprechen. Dass ihn die Tätigkeit für das Unternehmen in einen Interessenkonflikt stürzt, glaubt er nicht. «Mein Interesse liegt nicht darin, ein bestimmtes Medikament zu verschreiben», sagt der Psychiater. Er wolle seinen Patienten helfen und die Psychiatrie als Fachgebiet vorantreiben. Die Zusammenarbeit mit der Industrie sei «extrem wichtig» und inzwischen auch sehr stark reguliert. Für jede Zusammenarbeit mit der Industrie brauche es einen Vertrag, und das sei auch gut so. Der Kulturwandel ist in Gang Die Ärzteschaft ist sensibilisiert, mit Interessenkonflikten wird sehr viel bewusster umgegangen als noch vor ein paar Jahren. Das zeigen auch die Aussagen von Günter Krämer (nicht unter den Top 10). Der 69-Jährige war bis 2013 Chef des Epilepsie-Zentrums der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung in Zürich. Er sagt: «Das Thema Interessenkonflikt gibt es.» Es gebe ja Gründe, warum die Industrie auf die Ärzte und Ärztinnen zukomme. Trotzdem ist der Neurologie überzeugt, dass Ärzte für die Industrie tätig sein können, ohne dass damit ihre Unabhängigkeit tangiert wird. «Beim Epilespie-Zentrum haben wir das jeweils so gehandhabt, dass die Ärzte und Ärztinnen zwar über das Geld verfügen konnten, aber nicht für private Zweck, sondern für spezielle Projekte wie etwa ein Stipendium für einen Assistenzarzt». Es sei also nicht möglich gewesen, sich damit ein teures Auto zu kaufen oder das Geld sonst sachfremd zu verwenden. Bleibt der Erklärungsbedarf bei den drei Top-10-Ärzten und Ärztinnen, die nur einen Geldgeber hatten, und zwar den irischen Botox- und Filler-Hersteller Allergan. Es handelte sich dabei um die beiden Zürcher Schönheitschirurgen Hanspeter Kern und Philippe Snozzi, und ihre Neuenburger Berufskollegin Marva Safa. Alle drei bezogen um die 40000 Franken aus Dublin. Die Honorare seien für Kurse im In- und Ausland, die er im Auftrag von Allergan anbiete, sagt Hanspeter Kern. Und zwar gehe es um die richtige Anwendung von Fillern, also von Mitteln, um Falten zu unterspritzen und damit zu glätten,. Dazu müsse man wissen: Für die Anwendung von Botox, von Fillern oder auch von Hyaluronsäure gebe es keine Ausbildung; was dazu führe, dass diese Mittel unsachgemäss eingesetzt würden und dass es immer wieder zu Zwischenfällen komme wie etwa, dass Patientinnen nach einer Behandlung mit Fillern erblindeten, weil es zu einer Verstopfung der Blutgefässe kommt. «In diese Lücke springt Allergan», so der Schönheitschirurg. Wichtig sei festzuhalten, dass es sich dabei nicht um Werbeveranstaltungen handle. Zwar sei es so, dass im Umfeld der Veranstaltung einer Vertreterin oder ein Vertreter von Allergan anwesend sei, «an den Kursen selbst aber arbeiten wir mit allen Produkten, die auf dem Markt sind, auch mit denjenigen der Konkurrenz». Das sei es ja, was die Zusammenarbeit mit Allergan so attraktiv mache, «dass sie die Ausbildung vom Verkauf der Produkte getrennt haben». Ästhetische Medizin: Besser als gar nichts Zudem widerspricht Kern der Vorstellung, dass er an der Zusammenarbeit mit dem Unternehmen verdiene. «Das Ganze rechnet sich nicht für mich», die Ausfälle, die er dadurch habe, dass er die Praxis schliessen müsse, seien grösser als das Geld, das er von Allergan bekomme. Zudem sei es nicht etwa so, dass er die Produkte günstiger bekomme. «Die verrechnen mir den gleichen Preis wie für alle andren», sagt er. Das ärgere ihn zwar manchmal, «gleichzeitig haben sie recht. Nur so ist das Ganze sauber». Er werde von der Industrie für seine Arbeit im Bereich der Aus- und Weiterbildung von Ärzten bezahlt, sagt auch Kerns Kollege Philippe Snozzi;. So habe er etwa für das Allergan Medical Institute Ausbildungsmodule für Ärzte und Trainer entwickelt. Bei seiner Beratungstätigkeit habe er sich auf das Management von Komplikationen ästhetischer Behandlungen spezialisiert. Er sehe es durchaus kritisch, wenn Fortbildungsveranstaltungen primär von der Industrie organisiert würden. «Interessenkonflikte sind hier leider kaum zu vermeiden». Zudem pflichtet er Hanspeter Kern zu, wenn er sagt: In der ästhetischen Medizin sei die Situation besonders schwierig, weil «dieser Bereich von den akademischen Institutionen bis anhin mehr oder weniger ignoriert wird»; obwohl es sich dabei inzwischen um einen grossen, eigenständigen Bereich der Medizin handle. Aus- und Fortbildungsprogramme fehlten; mit Ausnahme von Holland, das vor zwei Jahren ein mehrjähriges Curriculum für eine Facharztausbildung in allgemeiner ästhetischer Medizin eingeführt habe. Die Industrie nutze dies geschickt, «um in die Bresche zu springen», sagt Snozzi. Und. Vor die Wahl gestellt, gar keine Weiterbildung zu machen oder mit der Industrie zusammen zu arbeiten, stelle Letzeres für viele Ärzte das kleinere Übel dar.Rang 1: Oliver Distler (Universitätsspital Zürich) Bezüge 2020: 56‘207 Fr. Total seit 2015: 199'956 Fr. Grösster Sponsor 2020: Böhringer Ingelheim (50’772 Fr.) Fachgebiet: Rheumatologie Oliver Distler ist Leiter der Rhematologie am Universitätspital Zürich und Professor an der medizinischen Fakultät. Seine Spezialgebiete sind systemische Sklerose, Kollagenosen und Systemerkrankungen. Systemische Sklerose ist eine seltene chronische Erkrankung unbekannter Ursache, die durch diffuse Fibrose und Gefässanomalien in Haut, Gelenken und inneren Organen gekennzeichnet ist. Kollagenose ist eine Autoimmuerkrankung. Rang 2: Andrea Rubbert-Roth (Kantonsspital St. Gallen) Bezüge 2020: 53'832 Fr. Total seit 2015: 97'961 Fr. Grösster Sponsor 2020: Abbvie (22404 Fr.) Fachgebiet: Rheumatologie Andrea Rubbert-Roth ist Leitende Ärztin und stellvertretende Leiterin der Rheumatologie am Kantonsspital St. Gallen. Sie ist neben der Neuenburger Internistin und Anti-Aging-Spezialistin Marva Safa die einzige Frau unter den Top 10 der Bezüger von Zuwendungen der Pharmaindustrie. Rang 3: Rolf A. Stahel (Universitätsspital Zürich, pensioniert) Bezüge 2020: 48'041 Fr. Total seit 2015: 547'002 Fr. Grösster Sponsor 2020: AstraZeneca 15509 Fr. Fachgebiet: Onkologie Rolf A. Stahel zählte während Jahren zu den international führenden Krebsspezialisten. Zwischen 2011 und 2013 präsidierte er die European Society for Medical Oncology ESMO. Bis 2020 war Leiter des Krebszentrums am Zürcher Unispital. Kein andere Arzt hat seit Beginn der Offenlegung so viel Geld von der Industrie bezogen wie er. Rang 4: Erich Seifritz (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich) Bezüge 2020: 45'949 Fr. Total seit 2015: 207'262 Fr. Grösster Sponsor 2020: Janssen Pharmaceutica (Johnson & Johnson, 21'735 Fr.) Fachgebiet: Psychiatrie Erich Seifritz ist Direktor Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und Professor an der medizinische Fakultät in Zürich. Rang 5: Hanspeter Kern (Privatpraxis) Bezüge 2020: 44'688 Fr. Total seit 2015: 76'577 Fr. Grösster Sponsor 2020: Allergan (44'688 Fr.) Fachgebiet: Schönheitschirurgie Hanspeter Kern ist Facharzt FMH für Plastisch-Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie und Handchirurg. Er hat eine eigene Klinik an der Zürcher Dufourstrasse, in der er ein breites Spektrum ästhetisches Medizin anbietet, von Botox-Behandlungen über minimalinvasive Engriffe bis zu Schönheitsoperationen an Gesicht, Brust, Körper und Hand. Ramg 6: Roger Lehmann (Universitätsspital Zürich) Bezüge 2020: 44'562 Fr. Total seit 2015: 132'641 Fr. Grösster Sponsor 2020: Novo Nordisk (22'774 Fr.) Fachgebiet: Diabetologie Roger Lehmann ist Leitender Arzt an der Klinik für Endokrinologie – sie befasst sich mit hormonellen Störungen – Diabetologie und klinische Ernöhrung am Unspital Zürich. Sein Spezialgebiet sind Insulinpumpen und kontinuierliche Blutzuckermessung, Therapie sämtlicher Diabetestypen mit Schwerpunkt Schwangerschaftsdiabetes und Inseltransplantation. Bei der Inseltransplantation wird die Insulinproduktion durch die Transplantation von Zellen aus der Bauspeicheldrüse eines Spenders wieder hergestellt. Rang 7: Philippe Snozzi (Privatpraxis) Bezüge 2020: 43'458 Fr. Total seit 2015: 84'046 Fr. Grösster Sponsor 2020: Allergan (43'458 Fr.) Fachgebiet: ästhetische Medizin Philippe Snozzi ist Mitgründer und ärztlicher Leiter von Smoothline, einer Klinikkette, die sich auf nicht chirurgische Gesichtsbehandlungen zum Beispiel mit Botox und Fillern spezialsiert hat. Rang 8: Ahmad Jalili (Privatpraxis) Bezüge 2020: 40'467 Fr. Total seit 2015: 137'441 Fr. Grösster Sponsor 2020: Leo Pharma (9567 Fr.) Fachgebiet: Dermatologie und Venerologie (Geschlechtskrankheiten) Ahmad Jalili ist Facharzt für Dermatologie und Venerologie. Er hat eine eigene Praxis in Buochs. Rang 9: Marva Safa (Privatpraxis) Bezüge 2020: 31'915 Fr. Total seit 2015: 54'415 Fr. Grösster Sponsor 2020: Allergan (31'915 Fr.) Fachgebiet: ästhetische Medizin Marva Safa ist Internistin und Spezialistin für Anti-Aging-Behandlungen mit Fillern und Toxinen. Sie hat eine eigene Praxis in Neuenburg. Rang 10: Andreas Serra (Hirslanden) Bezüge 2020: 31'776 Fr. Total seit 2015: 75'815 Fr. Grösster Sponsor 2020: Kyowa Kirin Sàrl (30'276 Fr.) Fachgebiet: Nephrologie (Nierenkrankheiten) Andreas Serra ist Facharzt für Nephrologie an der Hirslandenklinik in Zürich. Seine Spezialgebiete sind die Diagnostik und Therapie von komplexen internistischen Erkrankungen, seltene Krankheiten, Zystennieren und tuberöse Sklerose. Tuberöse Sklerose ist Erbkrankheit, die abnorme Wucherungen im Gehirn, Veränderungen der Haut und manchmal die Entwicklung von Tumoren in lebenswichtigen Organen wie dem Herzen, den Nieren und der Lunge, verursachen kann.