Staffelkommandant Andrew D. Green von der britischen Royal Air Force war der erste Mensch, der die Schallmauer durchbrach, am 13. Oktober 1997 in der Wüste von Nevada. Er sass am Steuer der Thrust-Supersonic, des ersten Fahrzeugs, das an Land schneller war als der Schall. Genau 1228 Kilometer pro Stunde. Das ist ziemlich schnell, für den Kilometer braucht man da gerade mal drei Sekunden.

Als man Andy Green hinterher fragte, wie es gewesen sei, sagte er: «Es war wie eine wirklich schnelle Schussfahrt den Cresta hinunter.» Er wisse zwar, fügte er an, dass nur ein Cresta-Rider diese Antwort auch wirklich verstehen könne.

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Green hat Recht. Der Cresta Run in St. Moritz ist für uns Gentleman-Sportler das höchstmögliche Erlebnis an reiner Geschwindigkeit, das es auf diesem Planeten gibt. Eine blanke Eisrinne runter, kopfvoran auf einem kleinen Metallschlitten, den Kopf nur wenige Zentimeter über dem Boden – dies konzentriert die pure Geschwindigkeit pulsierend in unserem Hirn. Ich denke, dass schon deshalb jeder anständige Mann in seinem Leben hier hinunter muss.

Nun kann man einwenden, ein ausserordentliches Tempo-Erlebnis könne man sich auch am Steuer eines Ferrari Testarossa, auf einer Moto Guzzi oder in einem Bobsleigh verschaffen, und dies erst noch viel bequemer und gefahrloser. Mag sein. Ich halte den Cresta Run dennoch für die beste Männersportart in diesem Bereich.

Vielleicht hat meine Einschätzung aber auch mit der einzigartigen Ambiance im St. Moritz Tobogganing Club zu tun, der den Cresta Run betreibt. Immerhin befinden wir uns hier beispielsweise in einem der letzten Refugien dieser Erde, wo es noch strikte heisst: «No women allowed.» Aber darauf kommen wir noch zurück.

Als der Cresta Run 1885 eröffnet wurde, gab es noch keine richtigen Autos und keine Flugzeuge. Nirgendwo sonst also konnte ein Mann auf dieser Welt schneller unterwegs sein als mit 120 Sachen im Eiskanal bei St. Moritz. Es ist logisch, dass dies die sportverrückten Engländer sogartig anzog. Sie machten den Cresta Run zu ihrem kolonialen Aussenposten. Bis heute ist Englisch die einzige Sprache im St. Moritz Tobogganing Club – «toboggan» ist englisch für Schlitten. Und bis heute, sagte einmal Prinz Philip, stehe der Run «in der besten Tradition britischer Exzentrik».

Kann man sagen. Es beginnt schon damit, dass die Beginners, also die Anfänger, sich erst vor einem mannshohen Röntgenbild niedersetzen müssen. Auf dem sind alle Verletzungen eingezeichnet, die man sich auf dem Run holen kann, also von oben, Nackenbruch, bis unten, Knöchelbruch.

Die meisten Verletzungen holt man sich im «Shuttlecock», der gefährlichsten Ecke der Strecke. Gut, übertreiben wir nicht. Die meisten, die im Shuttlecock rausfliegen, und es fliegen viele raus, landen ohne grössere Knochenbrüche im verstreuten Stroh, und der Speaker sagt: «In the straw, apparently unharmed.» Dafür bekommen sie danach eine Krawatte und werden automatisch Mitglied im Shuttlecock Club.

Nun ein Wort zu den Frauen. An all den Partys sind sie gern gesehen, auch an die Club-Bar und auf die Terrasse dürfen sie, das tun sie aber eher selten. Auf den Run dürfen sie nicht, «they are not allowed», ausser am letzten Tag der Saison. Ich glaube nicht, dass dies frauenfeindlich ist, eher männerfreundlich. Ich glaube, es gehört eher zu dieser etwas exzentrisch-britischen Männerbündelei. Es gibt eben Dinge im Leben, wo wir unter uns sein wollen, «respect it, please».

Der Tobogganing Club ist dennoch keine besonders elitäre Institution. Jeder kann mittun, wenn er sich als Beginner anmeldet, doch «social climbers», also Aufsteiger aus der Cervelat-Prominenz, sind nicht gern gesehen. Aufmerksamen BILANZ-Lesern ist aufgefallen, dass ich in dieser Kolumne fast keine Namen nenne, obwohl es interessant wäre, die Mitgliederliste durchzuhecheln. Tut man nicht. Man sagt nicht: «Ich war auf dem Cresta Run und habe dort den Second Lord Barbazon of Tara oder Arnold von Bohlen und Halbach oder Gunter Sachs getroffen.» Man sagt: «Ich war auf dem Cresta Run.»

Nach dem Run die Bar. Die üblichen Wasserlöcher sind die Sunny Bar im Hotel Kulm, die Soldanella-Bar und die Bar im Steffani, vielleicht auch der Dracula Club. Hier lernt man auch Andy Green kennen, und er erzählt ein bisschen davon, wie es war, als er damals in Nevada als Erster die Schallmauer durchbrach. Und wir erzählen ein bisschen davon, wie es war, als wir damals in St. Moritz aus dem Shuttlecock-Corner flogen.