Oft ist nicht klar, was für die Börsen wichtiger ist: Die Person von US-Notenbank-Chef Alan Greenspan oder die Zinsentscheide des Fed. Immerhin erklärte John McCain, George W. Bushs Konkurrent im Rennen um den Präsidentenposten in 2000: «Sollte Greenspan sterben, würde ich ihn aufbahren, ihm eine dunkle Brille aufsetzen und ihn solange wie möglich behalten.»
Bush machte bereits im vergangenen Frühling klar, dass er sich die Dienste von Greenspan weiterhin sichern möchte. Auch an der Wall Street scheint der Gedanke an eine Zeit ohne Greenspan vorerst fern, auch wenn ihn manche im Jahr 2003 gerne abgesetzt gesehen hätten. Vielmehr wird weiterhin versucht, aus den Worten des Herrn über die US-Leitzinsen die zukünftige Entwicklung zu lesen, dies leider nicht immer ganz fehlerfrei.
Der Spott der Kritiker
Besonderen Unmut der Finanzgemeinde erntete der oft als zweitwichtigster Mann der Welt bezeichnete Greenspan im Frühsommer 2003. Damals verleitete er die Märkte zur irrigen Annahme, dass das Fed mit Wertpapierkäufen direkt am Markt intervenieren könnte; damit schickte er die Zinsmärkte auf eine Achterbahnfahrt. Ein gewisses Mass an Schadenfreude schimmerte bei Beobachtern dann vor dem letzten Treffen des Offenmarktausschusses FOMC Mitte Dezember durch. Mit der wiederholten Aussage, die Leitzinsen für einen «beträchtlichen Zeitraum» unverändert zu lassen, habe sich Greenspan, der sonst Hinweise auf Zeiträume jeweils tunlichst unterliess, in eine Sackgasse geredet, spöttelten sie.
Gleichwohl scheint sich der Optimismus der Anleger in eine freudige Zukunftserwartung fortzuschreiben: Die jüngste Umfrage des «Business Roundtable», einer Vereinigung von 150 CEO der grössten US-Unternehmen mit insgesamt über 10 Mio Beschäftigten, zeigte beispielsweise, dass 93% mit einem höheren Umsatz in den nächsten sechs Monaten rechnen.
Mit solch guten Nachrichten rückten bereits Befürchtungen um inflationäre Tendenzen in den Vordergrund sowie die Frage, wann Greenspan diesen mit eiserner Faust und Zinssteigerungen entgegentreten würde. Die Futures-Märkte deuten auf eine etwa 30%ige Wahrscheinlichkeit einer Anhebung der Leitzinsen im März, bereits bei rund 80% liegt sie für Mai.
Doch Greenspan und seine Kollegen vom Offenmarktausschuss dürften sich Zeit lassen. Darauf deutet zum einen die Beibehaltung der Floskel des «beträchtlichen Zeitraums» nach der letzten Sitzung. Wie Merrill Lynchs Chefökonom für Nordamerika, David Rosenberg, in einer Studie zeigte, änderte das Fed in der Vergangenheit jeweils drei bis vier Monate vor einem Zinsschritt seine Formulierungen und gab damit den Märkten Zeit, die Anpassungen zu treffen.
Greenspan will sich nicht in Wahlkampf einmischen
Bleiben die Notenbank-Obrigen diesem Muster treu, steht jedenfalls im März noch keine Zinserhöhung an. Zum andern haben die Amerikaner heuer ihren Präsidenten für die kommenden vier Jahre zu wählen. Rückblicke zeigen, dass Zinsschritte in einem Wahljahr klar die Ausnahme sind. Die Ökonomen von Goldman Sachs verweisen darauf, dass das Fed nicht wünscht, den Präsidentschaftswahlkampf durch seine Geldpolitik zu beeinflussen.
Die wichtigsten Hinweise über das weitere Vorgehen des Notenbankgremiums dürften sich aus ökonomischen Faktoren ablesen lassen. Diese könnten Greenspan & Co. in Wartestellung verharren lassen, möglicherweise durch das ganze Jahr 2004. Dies würde jedenfalls die Ökonomen von Credit Suisse First Boston sowie anderen Banken nicht überraschen.
Ihre Überzeugung gründen sie nicht zuletzt auf das Protokoll zur Oktober-Sitzung des FOMC. Daraus lässt sich ableiten, dass der Grund für die Gelassenheit die weiterhin hohe Arbeitslosenquote sowie die geringe Kapazitätsauslastung in der Industrie sind. Letztere lag im November bei 75,7%, rund 5,5 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt von 1972 bis 2002. Die Arbeitslosenquote bewegt sich um die 6%-Marke, sank aber immerhin um einen halben Prozentpunkt seit dem Höchst im Juni.
Steile Zinskurve ist ein Alarmsignal
Mit so viel Gelassenheit gehen es längst nicht alle an. Während die Fed-Auguren davon ausgehen, dass die Inflation für die nächsten ein bis zwei Jahre tief bleiben könnte, sprechen steilere Zinskurven und das rege Interesse von Anlegern an so genannten «Inflation-Indexed Bonds» (TIPS) eine andere Sprache. Diese Obligationen sind an den Konsumentenpreisindex gekoppelt, sodass die Anleger Coupon und Rückzahlung inflationsbereinigt erhalten. Die Ökonomen von Goldman Sachs sehen in beiden Bereichen ein Überschiessen und erwarten, dass sowohl die Preise für TIPS als auch die Zinskurve am langen Ende eher wieder zurückkommen werden.
Investoren müssen sich allem Optimismus zum Trotz fragen, wie lange sie glauben, dass eine Volkswirtschaft mit so viel Dampf wie im vierten Quartal 2003 wachsen kann. In einigen Research-Abteilungen wird von einer langsameren Gangart in der zweiten Jahreshälfte 2004 ausgegangen. Mit einem gemässigteren Tempo verringert sich die Notwendigkeit, dass das Fed einschreitet. Greenspan wird sich aber so und anders Kritik anhören müssen ob er nun an der Zinsschraube dreht oder nicht. So bemerkte der Herr über die Zinsen in einer Anhörung vor dem Wirtschaftsausschuss des US-Kongresses 1997: «Mir scheint es ironisch, dass unsere Zinserhöhungen 1994/95 von einigen Leuten kritisiert wurden, weil die Inflation nicht anstieg. Dieses Ergebnis hatten wir durch den Zinsschritt angestrebt.»
Die Zinsen in Europa und der Schweiz
Weniger Aufwärtsdruck als in den USA
Die Europäische Zentralbank (EZB) und die Schweizerische Nationalbank (SNB) werden die Leitzinsen später erhöhen als das amerikanische Fed. Frühestens im Sommer könnte es so weit sein.
Noch bewegt aber ein anderes Thema die Anleger: Die EZB macht sich offenbar Sorgen, dass der Euro den Absturz des Dollars auch weiterhin sozusagen alleine tragen muss. Sie streut deshalb diffuse Äusserungen, wonach sie mit einer Zinssenkung Gegensteuer geben könnte. Doch das sind nur leere Drohungen, denn der Boom in gewissen Euro-Ländern erlaubt keine Zinssenkung. So besteht bereits jetzt in Spanien die Gefahr, dass der Immobilienmarkt völlig ausser Rand und Band gerät.
Trotz expansiver Geldpolitik macht sich die SNB noch keine Sorgen über die Inflation. Es sei noch zu früh, um sich über die Preisstabilität den Kopf zu zerbrechen. Weiterhin tiefe Leitzinsen heisst aber nicht, dass auch die langfristigen Sätze stagnieren. Im Gegenteil besteht folgende Gefahr: Immer mehr Anleger kommen zum Schluss, dass die Notenbanken die Inflation auf die leichte Schulter nehmen. Als Folge «verlangen» sie höhere Zinsen, um sich gegen steigende Preise abzusichern. Vor allem in der zweiten Jahreshälfte könnten die Euro-Zinsen kontinuierlich zulegen. Die Bondkurse in Euro und in Franken werden aber längst nicht so stark in Bedrängnis kommen wie Dollarpapiere. (did)