Am Hauptsitz von Longchamp an der Rue Saint-Honoré in Paris: Der Lift fährt langsam, sehr langsam, bis er im zweiten Stock mit einem Ruck hält. Die Tür wird von aussen geöffnet, vom Chef persönlich. Jean Cassegrain – gross, schlank, Bart, Brille – hat einen festen Händedruck und eine ruhige Stimme. Er sagt: «Enchanté, please come in», und schreitet mit langen Schritten voraus in den Showroom.

Dort gibt es vor allem eines zu sehen: Taschen. Aus Leder, aus Nylon, bunte, schwarze, grosse, schlichte, mondäne. Sie haben Longchamp weltberühmt gemacht. In einer Ecke stehen auch ein paar Modepuppen. Eine trägt einen Bleistiftjupe aus Tweed, dazu ein anthrazitfarbenes Twinset und einen kurzen schwarzen Wollmantel, eine andere Wollhose, Seidenbluse und Daunenjacke, alles in Schwarz. Nichts springt hier ins Auge, von einem Lederjäckchen mit Leopardenmuster mal abgesehen. «Die Kollektion ist diskret, und sie ist klein», kommentiert Cassegrain, «genau wie wir.»

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Neues Geschäftsfeld. Longchamp ist in der Luxusgüterindustrie tatsächlich ein Zwerg: Der Jahresumsatz von 250 Millionen Euro beträgt nur ein Sechzigs–tel des Marktführers LVMH. Mehr Zahlen zum Geschäftsgang gibt Cassegrain nicht preis – muss er auch nicht, denn Longchamp ist eine reine Familienfirma. Jean Cassegrain ist der operative Chef, seine Schwester Sophie Delafontaine die Directrice créative. Sein Vater, Philippe, amtet als Verwaltungsratspräsident. Olivier, Jeans jüngerer Bruder, führt das US-Geschäft. Dafür ist er 1998 von Paris nach New York übergesiedelt. Damals war Longchamp in den USA als Marke inexistent. Letzten Sommer, anlässlich der 60-Jahr-Feier von Longchamp, standen dann bereits Stars wie Susan Sarandon, Uma Thurman und Isabella Rossellini auf der Gästeliste, und die Party wurde in sämtlichen People-Magazinen abgefeiert. Michèle Cassegrain, Jeans Mutter, schliesslich hat alle rund 110 Longchamp-Boutiquen unter sich.

Dass dort heute auch Kleiderstangen montiert sind, bezeichnet der 44-jährige Cassegrain als «courageux», als mutig, den Entscheid dafür aber als zwingend. «Die Modeindustrie hat alles verändert», sagt er. «Vor zehn Jahren kauften Frauen eine Tasche, weil sie eine brauchten, heute kaufen sie eine, weil sie sie haben wollen.» Handtaschen haben sich vom Alltagsgegenstand, der vor allem praktisch zu sein hatte, zum Statussymbol gewandelt. «Jeder Modemacher machte plötzlich Taschen», so Cassegrain, «und wir machen jetzt halt auch Mode.» Zweimal im Jahr eine Damenkollektion. Der Entscheid dazu liegt drei Jahre zurück. «Es war keine grosse Investition, hat uns aber viel Nerven gekostet.»

Die erste Kollektion, 2006 lanciert, bestand aus acht Teilen – und war ein Flop. Statt die Übung abzubrechen, suchten die Cassegrains weiter nach dem richtigen Kreativen. «Drei Saisons später hatten wir endlich jemanden gefunden», sagt Cassegrain. Wer es ist, sagt er «aus vertraglichen Gründen» nicht. Nur so viel: «Die Person ist sehr bekannt und renommiert.» Cassegrain ist zufrieden: Der Style stimmt. Den Imagewechsel vom reinen Taschenhersteller zum Modelabel hält der Chef für gelungen. Geld verdient Longchamp im neuen Geschäftsfeld aber keines. «Das war auch nicht das Ziel. Der Schritt ins Modebusiness war nie umsatz- oder profitgetrieben.»

Überhaupt scheinen den Mann Werte wie Eigenständigkeit und unternehmerische Freiheit mehr zu interessieren als Geld. «Ich bin nicht der Typ, der sich Ziele wie eine Umsatzverdoppelung setzt und Dreijahrespläne konstruiert», sagt er denn auch. «Wir machen ein Jahresbudget – und fertig.» Ein Unternehmen ohne Umsatzziele? «Wir haben die klare Strategie, dass die Marke wachsen soll, und wir ergreifen jede passende Gelegenheit, ohne uns darum kümmern zu müssen, was die Börse davon hält.»

Botschafterin Kate Moss. Beispiel Kate Moss: Just als die Handyaufnahmen des kokainschnupfenden Topmodels die Welt empörten und sich grosse Marken wie Burberry und Chanel von ihr abwandten, nahmen die Cassegrains Moss unter Vertrag. «Wären wir an der Börse kotiert, hätte der Verwaltungsrat sicher gesagt, das sei ein zu grosses Risiko», sagt Cassegrain. «Wir haben das in Kauf nehmen können.» Das Engagement wurde für zwei Saisons besiegelt. Inzwischen posiert Kate Moss schon zum siebten Mal in Folge für Longchamp. Cassegrain ist stolz. Sie sei die richtige Botschafterin, sagt er, «ein bisschen romantisch, aber auch ein bisschen Rock ’n’ Roll».

Vor allem ist die Engländerin weltweit bekannt, und wer sie zur Botschafterin hat, wird ebenfalls weltweit bekannt. Auch dieses Kalkül scheint aufzugehen: Longchamp erzielt heute rund 60 Prozent des Umsatzes im Ausland, vor fünf Jahren waren es erst 35 Prozent. Und die Making-of-Videos zu den aktuellen Werbekampagnen verhelfen www.longchamp.com jeden Monat zu Hunderttausenden Besuchern. Den Glamour, der das Label Longchamp dank all den Efforts heutzutage umwabert, nehmen die Cassegrains in Kauf, ihr Ding ist es aber nicht: «Wir sind keine Partylöwen, sondern Familienmenschen», sagt Cassegrain. Man glaubt es ihm aufs Wort.

Zwar tanzt Longchamp heute in Sachen Mode nach dem Takt der Industrie. Aber schon beim Thema Produktion setzt sich die Marke vom grossen Rest der Renommierlabels wieder ab: Cassegrain steht dazu, dass nicht nur in Frankreich, sondern auch in China, Marokko und Tunesien produziert wird. Zwar nur zu 20 Prozent, aber immerhin. «Wir verstecken das nicht», sagt er, «nur dank diesen Kosteneinsparungen halten wir unsere Durchschnittskosten auf einem vernünftigen Niveau.» Damit die Qualität nicht leidet, schickt die Familie nicht nur Prototypen und technische Files zu den ausländischen Herstellern, sondern vom Reissverschluss über die Fäden, den Leim, den Stoff bis zum Leder das gesamte Material sowie auch noch eigene Mitarbeiter. «Wir wissen, wie man die Dinge macht», sagt Cassegrain, «gehen vor Ort, zeigen es und fordern das dann auch ein.»

Den Grundstein zu allem hat Jeans Grossvater gelegt. Dieser hiess ebenfalls Jean und war Besitzer eines Tabakladens. Mit der Idee, Pfeifen in Leder zu kleiden, landete er im Paris der Nachkriegsjahre einen Verkaufsschlager: Alle wollten eine Longchamp-Pfeife haben. Elvis Presley hatte eine, jene des belgischen Chansonniers Jacques Brel ist erst vor kurzem an einer Auktion von Sotheby’s versteigert worden. «Wir sind glücklicherweise schon lange aus diesem Geschäft ausgestiegen», sagt Jean Cassegrain, «sonst hätten wir kaum bis heute überlebt.» Den Anfängen wird heute nur noch in Vitrinen gehuldigt. Allerdings nicht im gestylten Showroom in Paris, sondern in Segré, der Longchamp-Fabrik 200 Kilometer fern von Paris.

Auf ihre 25  000 Quadratmeter grosse Manufaktur sind die Cassegrains mindestens so stolz wie auf ihre hippen Stores an sämtlichen Renommieradressen in den Shoppingmetropolen der Welt. Das zeigt sich spätestens bei der Ankunft vor Ort. Hier gibt es weder Réception noch Réceptionistin, sondern der Patron selbst übernimmt den Empfang: fester Händedruck, «Bonjour, entrez!». Philippe Cassegrain, Sohn des Gründers, Vater von Jean, verbringt die meiste Zeit hier draussen in der Fabrik, wo er bis heute das eine oder andere Design entwirft. Das Büro des 71-Jährigen befindet sich direkt neben dem Eingang und gleicht eher einer Abstellkammer als einem Chefbüro. Berge von Taschen, verstaubte Kartonschachteln, Ledermuster, Papierstapel.

Furore mit Gatsby. Philippe Cassegrain hat der Marke seines Vaters mit zwei markanten Erfindungen neues Leben eingehaucht: In den siebziger Jahren lancierte er den ersten Koffer aus Nylon, und 1993 hatte er die Idee zur Longchamp-Falttasche, der legendären Pliage. «Sie ist zeitlos, kommt nie aus der Mode», sagt Sophie Delafontaine, Tochter von Philippe, Schwester von Jean und Kreativchefin im Haus. Sie hat mit Designs wie den Taschenmodellen Légende und Cosmos für frischen Wind gesorgt und mit der jüngsten Kreation, der Gatsby-Tasche, die von Kate Moss grandios in Szene gesetzt wird, gar für Furore.

Neidisch ist die Konkurrenz aber vor allem auf die Falttasche: Die Pliage mag bescheiden aussehen, ihre Verkaufszahlen sind aber alles andere als das: Sie ist schon über 12 Millionen Mal verkauft worden, dieses Jahr gehen weitere 2,5 Millionen Stück über den Ladentisch – ohne Supermodel, ohne Glanz und Gloria, wie von selbst: «Die Pliage ist leise und erfolgreich», kommentiert Cassegrain. «Genau wie wir.»

Iris Kuhn Spogat
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