Daniel O’Day, mit 54 Jahren kein Jungspund mehr, kurvt mit einem Einradroller durch das Grossraumbüro des Tech-Startups Flatiron und testet sein Gleichgewicht. Seit die New Yorker Firma zu Roche gehört, macht der Pharmachef hier öfter Station auf dem Weg nach San Francisco, dem Standort der US-Tochter Genentech.

Wackelig, aber unfallfrei manövriert der Topmanager in Jeans und Fleece zwischen Stühlen und Tischen – begleitet von kritisch belustigten Softwareingenieuren, von denen viele seine Kinder sein könnten.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

So sieht es aus, wenn Big Pharma auf Big Data trifft. Im Februar hat Roche bei Flatiron den Sack zugemacht und dabei tief in die Tasche gegriffen. 1,9 Milliarden Dollar liessen die Basler für das Unternehmen von Nat Turner und Zach Weinberg, beide 32, und ihre 500 Mitarbeitenden springen. Das sind fast 4 Millionen pro Mann oder Frau.

Solche Summen nimmt auch ein Milliardenkonzern wie Roche nicht aus der Portokasse. Doch der Pharmachef ist überzeugt, dass die Übernahme «ein wichtiger Baustein in unserer Strategie der personalisierten Medizin ist». Die Wette läuft.

Pharmaindustrie Spätzünder in der Digitalisierung

Die Digitalisierung hat die Pharmaindustrie spät erreicht. Die Hürden für disruptive Angreifer waren hoch. Regulierung und Biotech wirkten wie ein Schutzschild. Doch jetzt zeigt sich: Der Druck steigt, das Geschäftsmodell lahmt. Die Kapitalrendite der grössten Pharmakonzerne liegt im Schnitt noch bei gut drei; dreimal tiefer als vor acht Jahren. Neue Therapien erreichen die Umsatzerwartungen immer weniger (siehe Grafik unten). Die Kosten für die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs liegen bei mehr als 2 Milliarden. Milliarden für F&E ausgeben – Milliarden mit Blockbustern einnehmen: Diese Rechnung geht immer weniger auf. Dazu kommt: Die Politik macht nicht mehr mit. Sie will genauer wissen, ob die neuen Therapien auch wirklich halten, was sie versprechen.

Zudem fressen Tech-Konzerne über den Zaun. Die Zahl der Tech-Patente im Gesundheitsmarkt steigt. Es geht also auch darum, wo die 20 Prozent Wertschöpfung künftig anfallen werden, welche die Pharmaindustrie im Gesundheitswesen heute abgreift. In good old Basel oder bei den Tech-Konzernen im Silicon Valley?

Der Druck steigt, die Aktivitäten nehmen zu. Hier eine Partnerschaft, da eine Akquisition, dort eine Kooperation. Berater publizieren Berichte und im Strategie-Sprech der Konzernchefs von Big Pharma ist Life Sciences 4.0 heute eine feste Grösse. Einem aktuellen Bericht von EY zufolge geht es vor allem um End-to-end-Lösungen; Tools wie Diabetes-Apps, die den Patienten das Leben einfacher machen. Oder um Produktverbesserungen. Vieles kratzt erst an der Oberfläche. Nur ein Viertel der Tech-Deals stösst schon ins Herz der Industrie vor: zu Forschung und Entwicklung.

Die Aufholjagd läuft, die Digitalisierung wird konkret

In Manhattan aber, schräg gegenüber dem Flatiron Building, lässt sich erahnen, wie die Pharmawelt aussehen wird, wenn die Digitalisierung wirklich greift. Die jüngste Roche-Tochter ist ein Schaufenster in die Zukunft: Studiendesigns, gegenüber denen sich die heutigen ausnehmen werden wie Postkutschen gegenüber ICE-Zügen, und der 1:1-Abgleich der Studienresultate mit der Wirklichkeit, die Real-World Evidence. Biotech reloaded.

New York, 2010: Nat Turner und Zach Weinberg, damals zarte 24 Jahre jung, haben gerade ihr Unternehmen für digitales Marketing für 80 Millionen Dollar an Google verkauft. Die beiden kennen einander seit ihrem ersten Tag an der Universität von Pennsylvania. An der «Penn» haben sie auch ihr erstes Unternehmen aufgezogen, einen Online-Essen-Orderdienst für Studenten – ein Flop. Doch diesmal wollen sie nicht noch eine Foododer Flirt-App aufstarten; diesmal soll es etwas werden, was einen Unterschied macht.

Zur Onkologie kamen sie über einen Cousin von Nat Turner, der wenige Monate zuvor, erst siebenjährig, an Leukämie erkrankt war. Aus nächster Nähe erlebten sie dessen leidvolle Krankengeschichte mit vier qualvollen Knochenmarktransplantationen. Zuerst dachten die beiden Mittzwanziger an Genomik. «Doch dann wurde uns klar, wie schlecht das Gesundheitswesen technologisch aufgestellt war», erinnert sich Mitgründer und CEO Nat Turner, während zehn Stockwerke tiefer New York ins Wochenende rennt. «Es war kaum zu glauben, aber die Werbung war dem Gesundheitswesen technologisch um Meilen voraus.» Ihre Ambition nun: Die Krebsmedizin technologisch auf Vordermann zu bringen.

Das Umfeld ist günstig, die Zeichen stehen auf Veränderung. Obamacare bringt nicht nur Verbesserungen beim Versicherungsschutz, sondern auch einen Schub in Sachen Technologie. Seit 2009 gibt es Anreize, elektronische Patientendossiers zu führen.

Doch bevor die beiden starten konnten, kam die Recherche. Zwei Jahre lang wateten die beiden Youngsters durch die Untiefen des US-Gesundheitswesens; reisten durchs Land, sprachen mit Experten und schauten Onkologen über die Schulter, wie sie sich auf der Suche nach den besten Therapien für ihre schwerkranken Patienten mühsam durch diverse PDF klickten.

Es gibt viele Daten, aber nur wenige sind gut

Diese Verankerung in der ärztlichen Praxis ist wichtig. Sie ist es, was Flatiron von vielen anderen Datenbanken unterscheidet. Pharmachef Daniel O’Day sagt es so: «Es gibt viele Daten da draussen, aber nur wenige sind gut.» Das Plus der Daten: Aufgearbeitet werden nicht nur – vergleichsweise einfach prozessierbare – strukturierte Daten wie Diagnose, Therapien und Laboruntersuchungen, sondern auch unstrukturierte: Ergebnisse von Radiologie und Pathologie, Informationen aus ärztlichen Notizen zu Nebenerkrankungen und anderem. Auch die Reichweite ist beachtlich. Inzwischen arbeitet Flatiron mit 265 US-Krebszentren mit zwei Millionen aktiven Patienten zusammen. Oder anders: Flatiron hat Daten zu jedem achten Krebspatienten in den USA.

Besonders wertvoll für die Industrie: Das Unternehmen arbeitet auch die Daten zu den immer wichtiger werdenden molekularen Biomarkern auf. Es führt dazu eine aggregierte, anonymisierte Datenbank, in der 30 000 Pateinten mit verschiedenen Tumorarten erfasst sind. Der Partner dabei ist – und hier schliesst sich der Kreis – Foundation Medicine, ein Unternehmen, das zu 56,8 Prozent Roche gehört. Mit anderen Worten: Die Basler halten die Hand auf die Verbindung von Genomik und Big Data – die wohl zukunftsträchtigste Achse überhaupt.

Flatiron tut viel zur Verbesserung der Daten. Mensch und Maschinen kontrollieren sich gegenseitig. Die Maschine lernt von dem, was das Personal in den Krebszentren eingibt. Gleichzeitig überprüft sie, was die Menschen machen, womit wiederum bei der Datenerfassung Standards etabliert werden können. Ein Kreislauf der Verbesserung.

Gewiss, es geht um künstliche Intelligenz. Doch das ist nicht alles. Machine Learning sei «Mathematik, nicht Magie», sagt Maayan Roth, eine leitende Softwareingenieurin. Noch immer sei man regelmässig bei Ärzten, um zu verstehen, wie die Dateneingabe funktioniere und warum sie manchmal fehlerhaft sei. Ihr Kollege Elijah Meerson, der wie sie zuvor bei Google Softwareprogramme für digitale Werbung schrieb, sagt: «In der Werbung geht es darum, im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung zu treffen, die zu 90 Prozent richtig ist. Hier aber brauchen wird 100 Prozent.»

Trotzdem, die Unternehmenskultur atmet den Geist von Tech. Man lebt Slogans nach wie: «Wiederhole dich nicht». Oder: «Automate yourself out of a job so you can scale». Die Atmosphäre ist konzentriert, aber entspannt. Im grossen Eingangsbereich des Unternehmens stehen Sofas und Sessel, die je nach Bedarf gruppiert werden können. Sie haben ihre besten Zeiten bereits hinter sich und auch bei den Arbeitsplätzen riechts nach Gestern. Man spürt: Hier sind andere Dinge wichtiger als die Inneneinrichtung.

Mehr Effizienz bei klinischen Studien

Ziel ist es zum Beispiel, dank den Daten Therapien zu Patienten zu bringen, deren Profil von dem der Patienten abweicht, an denen das Medikament getestet wurde. Die Stärke der Flatiron-Daten dabei: Sie sind dynamisch. Das heisst, man kann sie jederzeit neu befragen.

Aus Sicht der Industrie besonders interessant ist die Bewegung in Richtung klinische Studien, die das Unternehmen gerade macht. Das Problem: Nur 4 Prozent der Krebspatienten nehmen an klinischen Studien teil. Das ist viel zu wenig; gut wären 20 Prozent. Die Zahl der offenen Krebsstudien steigt, allein zwischen 2015 und 2016 wurden mehr als 1100 Studien neu eröffnet. Dazu kommt: Onkologische Studien dauern länger. 63 Prozent der Krebsstudien brauchen mehr als vier Jahre; bei Alzheimer, multipler Sklerose und Asthma sind es nur 41 Prozent. Das heisst, die klinischen Studien müssen deutlich effizienter werden.

Grosse Hoffnungen setzt die Industrie dabei auf synthetische Kontrollarme. Gemeint ist, dass die Kontrollgruppe – also die Gruppe der Patienten, die bei der klassischen Studie mit der Standardtherapie behandelt werden – nur noch virtuell gebildet wird; mit Daten von Patienten, die ausserhalb von klinischen Studien mit der Standardtherapie behandelt wurden. Das ist nicht nur schneller. Es löst auch ein ethisches Problem der klassischen klinischen Studie: dass man nur einen Teil der Patienten mit der potenziell besseren Therapie behandelt.

Dass das funktioniert, zeigt das Beispiel des Krebsmedikaments Alecensa, wo Roche mit den Daten von Flatiron arbeitete. «Das Ergebnis war, dass wir das Medikament in zwanzig Ländern rund ein Jahr früher auf den Markt bringen konnten», sagt Pharmachef O’Day. Zudem hat Flatiron erste Gehversuche in der Real-World Evidence hinter sich; das heisst, es konnte anhand der Daten aus den Krebszentren nachweisen, dass die Realität mit den klinischen Studien übereinstimmte.

Das alles ist Neuland, auch regulatorisch. Ziel von Nat Turner und seinen Leuten ist es deshalb, in den nächsten Jahren in Zusammenarbeit mit der Zulassungsbehörde FDA Standards für die ganze Industrie zu entwickeln. Die Mittel dazu haben sie jetzt. In einem ersten Schritt werden sie ihre Abdeckung in den USA weiter verbessern. Dann kommt das Rollout in Europa. Mit 18 europäischen Ländern sei er bereits im Gespräch, sagt Nat Turner. Zudem soll der Kreis der heute 15 Krebsarten ausgedehnt werden. «Wir haben fast zu allen Krebsarten Daten. Jetzt können wir sie aufarbeiten», sagt Turner.

So gesehen, ist die Übernahme eine grosse Chance. Die Frage ist, ob Flatiron unabhängig genug bleibt, um auch in Zukunft mit anderen Biotech-Firmen zusammenzuarbeiten. Dafür spricht, dass die New Yorker nur mit der FDA im Geschäft sind, wenn sie mit der ganzen Industrie zusammenarbeiten. «Nur so sind wir gegenüber den Behörden glaubwürdig», sagt Nat Turner. Einen Test hat die Konstellation bestanden. Soeben hat Flatiron mit Bristol-Myers Squibb (BMS) einen Zusammenarbeitsvertrag über drei Jahre unterzeichnet. BMS ist einer der härtesten Konkurrenten von Roche in der Immunonkologie.

Doch auch aufseiten der Ärzte gibt es viel zu verlieren. Schwer vorstellbar, dass sie noch kooperieren werden, sollte – zum Beispiel – der Verdacht aufkommen, dass für Roche ungünstige Resultate nicht mehr veröffentlicht werden. Der New Yorker Krebsspezialist Jeff Vacirca sagt: «Glaube ich, dass Roche zu viel Einfluss nimmt? Nein, denn das ist nicht in ihrem Interesse.» Alles was er von den Behörden zu hören kriege, sei: «Diese Therapien sind grossartig, aber sie sind zu teuer.» Die Industrie habe deshalb alles Interesse daran, dass die Therapien zu denjenigen Patienten kämen, bei denen sie am besten wirkten.

Roche-Pharmachef Daniel O’Day spricht von einem Versuch, «das ganze Krebs-Ökosystem anzuheben». Gewiss, Rochesei ein grosser Player, aber es sei nicht der einzige. Trotzdem, das Gleichgewicht, das es hier zu halten gibt, ist fragiler als dasjenige, das es braucht, um mit einem Roller durch ein Grossraumbüro zu fahren.

Nat_turner_flatiron_daniel_o_day_roche

Pharmachef Daniel O’Day und Flatiron-CEO Nat Turner Handelszeitung-Redaktorin Seraina Gross in New York.

Quelle: Chris Sorensen