Der letzte Klassenkämpfer im Land residiert in Etage 19, Sicht Richtung Zürichsee und Glärnisch. Gerät Herbert Bolliger in Fahrt, zückt er eine Folie, die zwei abgemagerte Geier auf einem verdorrten Ast zeigt – der eine ist Aldi, der andere Lidl. Den Spott auf die Konkurrenz garniert er so: Die Besitzer von Aldi, Theo und Karl Albrecht, beide «sackreich», verhielten sich «volkswirtschaftlich ganz übel». Ikea-Gründer Ingvar Kamprad sei «ein komischer Siech» und «geizig». Und was, bitte schön, hätten diese Milliardäre hierzulande im Sozialen und im Ökologischen geleistet? Die Antwort fällt mit dem Fragezeichen: «Nichts.»

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Wenn Bolliger, Sohn eines ehemaligen Bell-Metzgers, vom Leder zieht, greift sich manches Migros-Kader an den Kopf, und den Leuten in den Migros-Kommunikationsabteilungen wird angst und bange. Die erste Frage lautet: Was bringt es, wenn der Chef die Konkurrenten als verantwortungslose Abzocker tituliert? Die zweite: Wer hält ihn vom nächsten rhetorischen Kraftakt ab?

Nur: Der Chef des grössten Schweizer Konzerns lässt sich so schnell nicht bremsen. Er gilt kommunikativ als «Straight Shooter» (ein M-Kadermann), als einer, der ohne Rücksicht auf Verluste abdrückt. Auf den leisen Einwand, seine Kapitalismuskritik sei kontraproduktiv, zitiert er die «Financial Times Deutschland»: Im deutschen Detailhandel sei eben die zwölfte Preisrunde eingeleitet worden. Bolliger: «Das hat nichts mehr mit Kalkulation zu tun – und am Schluss wird der Druck an die Lieferanten weitergegeben.»

Führte man hier deutsche Verhältnisse ein, verlören 70  000 Arbeitnehmer den Job. Dann setzt er zur Replik an, die beweisen soll, dass Migros zu Recht Grün im Logo trägt: Erbsen für M-Budget-Konserven gäbe es in Belgien spottbillig – auf ein Einkaufsvolumen von fünf Millionen Franken könnte man mit dieser Massenware locker zwei Millionen sparen. Transport inklusiv. Bolliger entschied sich, im Gegensatz zu den Milliardären, für die teuerste Variante, die inländische. «Hinter dem Auftrag stehen 260 Gemüsebauern aus der Ostschweiz und ein Verarbeiter in Liechtenstein.»

Man merkt: Der 56-jährige Bolliger ist im Angriffsmodus, wie einst als Kreisläufer beim Handballclub STV Baden. «Die Zeit der Nettigkeiten ist vorbei», sagt er. Und kann nicht kaschieren, dass er leicht frustriert ist. In den Medien wird sein Konzern, wiewohl die Nummer eins, jüngst fast als Nummer zwei behandelt. Im «Blick» musste er kürzlich lesen: «Coop hat alles richtig gemacht. Und klar besser gewirtschaftet als Erzrivalin Migros.»

Medienschelte. Gut, die Spitze mag mit dem Umstand erklärbar sein, dass «Blick»-Herausgeberin Ringier mit Coop eine Kooperation (Betty Bossi) betreibt. Doch ähnlich tönt es fast überall: «Migros kommt nicht vom Fleck» («Tages-Anzeiger»), «Coop top – Migros verlor» («20 Minuten»), «Coop bedrängt Migros» («NLZ»), «Coops Aufholjagd – Migros’ Schwächeln» («Handelszeitung»).

Mitarbeiter erzählen, es werde im Chefbüro ganz schön laut, wenn wieder einer dieser miesepetrigen Artikel erschienen sei. Gelegentlich werden anschliessend die Autoren samt Chefredak-tion zum Abrieb ins Chefbüro bestellt.

Die kritischen Medien sind ein Thema in der Migros. Kürzlich, bei der internen Verabschiedung des Jahresergebnisses 2009, wunderte sich Finanzchef Jörg Zulauf, ein besonnener Mann, über die Diskrepanz zwischen den Leistungswerten und der medialen Wahrnehmung. An der Bilanzpressekonferenz vom 30.  März wird Bolliger die Leistung in den Vordergrund rücken. Und was für eine: Er kann das beste Resultat in der 85-jährigen Migros-Geschichte präsentieren. Ein Resultat, um das ihn fast jeder im Detailhandel beneidet, auch Coop-Chef Hansueli Loosli. Der Jahresgewinn liegt gemäss BILANZ-Recherchen bei gegen 850 Millionen Franken, das wären 150 Millionen mehr als im Vorjahr – und fast doppelt so viel wie bei Coop (430 Millionen). Das Ebit soll rund 1,2 Milliarden betragen. Bolliger erreicht damit eine Rendite, die in Europa nur Tesco übertrifft. Der Branchenführer aus England schafft 5,5 Prozent, Migros 4,5 Prozent, Coop 3,3 Prozent. Was bemerkenswert ist: Seit Bolliger Chef ist (2005), hat sich die Rentabilität verdoppelt. Nur: Keiner hats gemerkt.

Mehr noch: In den letzten Monaten hat man das Rekordergebnis laut internen Quellen noch tüchtig abgepolstert – indem man grosszügig abschrieb und Investitionen ins Online, in Kultur und Bildung oder in Ladenprojekte massiv erhöhte. Ziel war es, ja keinen Milliardengewinn ausweisen zu müssen. Es gelang. Bolliger sagt dazu nur: «Es gab intern Diskussionen über die Höhe des Gewinns.»

Bescheiden bleiben. Erstaunlich ist das schon: Während andere bei Gewinnsprung und Superrendite jubeln und die Chefs einen Extra-Bonus abholen, heisst es beim orangen Kraftprotz: ja nicht auffallen. «In einem Krisenjahr macht es sich für die Migros schlecht, einen Supergewinn auszuweisen», erklärt ein Manager. Seit Jahren heisst das Mantra im Haus: wenig ankündigen, viel liefern. Dabei war Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler – neben Nicolas Hayek – der genialste (Selbst-)Vermarkter der letzten 100 Jahre.

Bei so viel falscher Bescheidenheit ist es nicht verwunderlich, dass Coop-Alleinherrscher Loosli, der nie um einen flotten Spruch verlegen ist, fast schon Kultcharakter geniesst. Als er kürzlich auf die Ladenerneuerungen von Migros und Coop angesprochen wurde, liess er sich so zitieren: «Die Migros kopiert uns, und das ist erlaubt.» Und zum Thema Angriff aus Deutschland, wo Bolliger Grzimeks Tierleben bemüht, sagte er sec: «Aldi und Lidl bezeichne ich nicht als Konkurrenz.» Die Nachfrage, weshalb Coop trotzdem die Preise laufend nach unten schraubt, fiel den Journalisten leider nicht ein.

Am liebsten spielt Loosli den Platzhirsch. Dabei ist es umgekehrt: Seit Bolligers Antritt hat sich der Vorsprung der Migros vergrössert. 2005 betrug der Abstand im Kerngeschäft 5,7 Milliarden, 2009 waren es 6,3 Milliarden. Dito bei den Marktanteilen: Die Migros legte in der Ära Bolliger um 2,5 Prozent zu (Food, Non-Food), Coop um 2,2 Prozent.

Und auch die Meinung, die Migros habe die Preisführerschaft gegenüber Coop verloren, wie die «NZZ am Sonntag» neulich schrieb, ist arg übertrieben. Die jüngste GfK-Preisanalyse kommt zum gegenteiligen Schluss: «Im Jahr 2009 kauften die Kunden bei der Migros durchschnittlich 12 Prozent günstiger ein als bei Coop.» Bei Food betrug die Differenz gemäss GfK sogar 20 Prozent. Ausgewählt wurden nicht ein paar handverlesene Aktionsprodukte, sondern fast das gesamte Sortiment: 427 Warengruppen mit über 28  000 Artikeln.

Der Erfolg verhallt: Dass der Marktführer am World Retail Congress, dem wichtigsten Branchenanlass, zum «Detailhändler des Jahres 2009» gekürt wurde, stand zuerst in der BILANZ. Weitere Erwähnung fand die Auszeichnung noch im «Zofinger Tagblatt» und in einem Sonntagsblatt. Bloss den Ratingagenturen ist die Leistung der Migros nicht entgangen: Bei Standard & Poor’s lautet das Bonitätsrating «A, stabil», bei der CS «hohes A». Zum Vergleich: Coop erreicht ein «tiefes A», und die deutsche Konkurrenz dümpelt in der B-Liga durch die Finanzwelt.

Kurzum: Die Migros ist fast überall ein M besser, doch die Wahrnehmung ist eine andere. Offenkundig hat die Firma Ladehemmung beim Platzieren der eigene Erfolge. Klar, es ist eine allzu schöne Story, wenn Coop, der Underdog, den Klassenbesten piesackt. Bolliger: «Es ist einfacher, aus der Nummer-zwei-Position Lärm zu machen.» Doch das schiefe Image hängt auch damit zusammen, dass Migros zu lange auf Understatement setzte und Bolliger dies noch verstärkt. Seine medialen Auftritte sind nicht effizient genug. Eine umfassende strategische Kommunikation mit einer Prioritätenliste, wie sie in jedem Konzern üblich ist, scheint nicht zu existieren. Oder dann hält sich der erste Botschafter der Marke partout nicht ans Drehbuch. Mit seiner unverblümten Art liefert er stattdessen immer wieder Zunder, der von der Kernbotschaft ablenkt.

Scheuer Chef. Früher prügelte er sich mit dem VCS, dann mit der Unia, dann titulierte er die eigene Werbung öffentlich als «chaotisch», nun drischt er auf Aldi und Lidl ein. Und verstärkt nur noch den Eindruck, im Schweizer Detailhandel sei einzig der Preis noch heiss. Dabei geht vergessen, dass Migros viel mehr zu bieten hat als Aktionspreise, nämlich Innovation, Nachhaltigkeit, Kultursponsoring, ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, preisgekrönte Werbung, Milliarden-Investitionen, die jedes staatliche Konjunkturprogramm niedlich aussehen lassen, loyale Mitarbeiter. Stattdessen lässt sich der Branchenleader vom Geblaff der Konkurrenz ins Bockshorn jagen. Ein Kader: «Etwas mehr Selbstvertrauen täte uns gut.»

Das Starren auf Aldi & Co. widerspiegelt sich im hektischen Ausbau der
M-Budget-Linie. Letztlich hat man mit dem breiten Discountangebot überbissen, mit der Folge, dass man das höhermargige Sortiment kannibalisiert und der Ladenumsatz stagniert. Wahr ist aber auch: Bolliger drängt gar nicht in die Öffentlichkeit, viel lieber ist er mit Marketingchef Oskar Sager unterwegs und bringt die Filialen in Schuss. Sich selber zu verkaufen oder sich als Leader zu inszenieren, bestätigt jeder, der mit ihm in Meetings sitzt, ist ihm zutiefst zuwider. Ein hochrangiger Migros-Manager aus der Region: «Bolliger ist ein Anti-Verkäufer in eigener Sache.»

Der studierte Ökonom gilt als analytisch, direkt, sachbezogen, nüchtern, unprätentiös, verlässlich, treu, witzig, vor grösserem Publikum aber wirkt er zurückhaltend, ja scheu. Er selber sagt in bester Migros-Tradition: «Ich mach doch nicht den Luftibus.» Und: «Ich lasse lieber Fakten sprechen.» Nur logisch, dass er im Geschäftsbericht 2008 im Porträt der Konzernleitung – mit leicht schiefer Krawatte – nicht in der Mitte thront. Und dass er jahrelang mit einem Markenuhrenimitat am Armgelenk herumlief, wie er lachend erzählt, trägt auch nicht gerade zur Steigerung des Glamourfaktors bei.

Doch vielleicht kalkuliert der Chef ja anders. Vielleicht hält er sich intern zurück, weil es in der Migros heikel ist, den Big Boss zu markieren. Es ist ein sonderbares Konstrukt: Die Firma gehört wie ein volkseigener Betrieb zwei Millionen Kunden. Oberstes Gremium ist die Delegiertenversammlung, wo darüber gestritten wird, ob sich die «Verwaltung», das oberste Strategiegremium, in «Verwaltungsrat» umbennen darf oder nicht. Der Antrag wurde abgelehnt. Nun schreibt man sich «Verwaltung (Verwaltungsrat)».

Und trotz Rekordergebnis: Einen Bonus dürfen Bolliger und seine Führungscrew noch lange nicht erwarten. Die Firma ist nämlich stolz auf ihr «bonusfreies Lohnsystem». Bolliger, mit 84  000 Angestellten der grösste Arbeitgeber des Landes, verdient rund 820  000 Franken im Jahr.

Formell ist er gar nicht der Chief Executive. Es gibt Gremien, Ausschüsse, wo – fast wie im Politbüro – Konsens angestrebt wird. Dann reden der Präsident, die Duttweiler-Stiftung, zehn Genossenschaften und hundert Tochterfirmen mit. Wer hier Oberwasser behalten will, tut dies besser nicht mit Chefallüren. Also geht Bolliger taktisch vor: Will er ein Projekt durchsetzen, lanciert er es oft über die mächtige Genossenschaft Aare, die er einst führte und die als innovativste gilt. Reüssiert der Pilot in Bern, ziehen die andern nach.

Hauser-Nachfolge. Die nächste Frage, die intern zu diskutieren gibt, ist die Nachfolge von Migros-Präsident Claude Hauser. Der Romand geht 2012, mit Erreichen der Alterslimite von 70 Jahren, in Pension. Theoretisch könnte sich Bolliger um die Nachfolge bemühen. Dass er dazu allerdings Lust hat, wird in seiner Entourge bezweifelt. Er selber macht auch nicht grad den Eindruck, als ob er auf den Posten scharf wäre. Er sagt: «Mir gefällt es, wo ich bin.»

Er weiss am besten: Er ist der Antreiber, der Koordinator, der Moderator, nicht der Stratege, schon gar nicht der Visionär. Und er will eine stille Revolution vorantreiben – die Zentralisierung. Heute wird fast die Hälfte der 25 Umsatzmilliarden – ungefähr 10 Milliarden Franken – zentral geführt. Hier, bei Migrol, Denner, Migrolino, Migros Bank, Globus, Hotelplan, der Industrie und im Online verspricht man sich Potenzial. Bei Letztgenanntem hat der Chef höchstselbst im September die Führung übernommen. Die Online-Abteilung mit 50 Leuten soll den Internet-Retail entwickeln. Dazu gehört auch das Projekt Migipedia, eine Web-2.0-Plattform zum Info-Austausch, die im Sommer lanciert wird. Auch das ist Bolliger: Während er die Welt der Social Media erobert, muss er beim Aufladen seines alten Nokia-Handys eine Büroklammer zu Hilfe nehmen.

Bolligers Wochenhöhepunkt findet schliesslich freitags statt, wenn er zehn Mitarbeiter aus allen Hierarchiestufen zum Lunch einlädt. Bislang durften über 1000 Angestellte mit ihm im Séparée auf Etage 21 dinieren. Im Tischgespräch gibt er den charmanten Gastgeber, frotzelt mit der Leiterin vom Migros Museum über das «Blech» (moderne Kunst), das von der Decke hängt. Oder er lässt sich mit dem Category Manager auf ein Fachgespräch über Einmachgurken aus Italien ein. Der Chef findet das Pricing daneben und wettet: «Das Zeug verkauft sich nie.» Was der Mann der Verkaufsfront ungern bestätigt. Nun werden sie aus dem Sortiment gekippt. Und dann doziert er noch, dass Detailhandel mit der Pflege von Details zu tun hat. Wie richtig. Womöglich gilt das ja auch bei seinem Auftritt.