Die Selbstbestimmungsinitiative (SBI) soll die direkte Demokratie stärken, behaupten die Befürworter. Tatsächlich aber droht sie die Schweiz in einen fragilen Zustand der Rechtsunsicherheit zu katapultieren. Das Schadenpotenzial ist immens für die Wirtschaft. 

Zu diesem Befund kommt Juristin Helen Keller, die als eine der «fremden Richter» in Strassburg die Schweiz vertritt und in ihrem derzeit viel diskutierten Essay die wirtschaftlichen Konsequenzen einer Annahme der Initiative illustriert.

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Ein Punkt sticht darin besonders hervor: So würde ein drohender Wegfall der Bilateralen 1 die Schweiz bis ins Jahr 2035 mindestens 4,9 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts kosten. «Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen reduzierte sich demnach um mindestens 1900 Franken.» Ist das ein übertriebenes Horrorszenario? Blosse Angstmacherei?

Bollwerk gegen Extremlösungen

Die Schweiz galt stets als Bollwerk gegen politische Extremlösungen, als ein Inbild der Verlässlichkeit und Vernunft. Gegner sehen die SBI als Abkehr davon. «Es gab in letzter Zeit keine Volksinitiative, die derart stark in unser Staatswesen eingegriffen hätte», sagt Jan Atteslander vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Kein anderes Land stelle die Verfassung derart starr über das Völkerrecht, wie die SBI das tue. 

Jean-Philippe Kohl, Swissmem-Direktor ad interim, warnt: Die Initiative führe die Schweiz in die Isolation, ohne einen politischen Mehrwert zu bieten. «Die exportorientierten Schweizer Industrieunternehmen müssen sich auf den gesicherten Zugang zu den internationalen Absatzmärkten verlassen können.»

Noch keine Parole gefasst hat der Schweizerische Gewerbeverband (SGV). Als FDP-Nationalrat aber lehnt SGV-Direktor Hans-Ulrich Bigler die Initiative ab: «Sie führt zu Rechtsunsicherheit hinsichtlich der WTO und der Freihandelsabkommen, was der Wirtschaft schadet. Als eine exportorientierte Volkswirtschaft sind wir auf internationale Verträge angewiesen.»

Martullo-Blocher hält dagegen

Die Wirtschaft schaltet geschlossen auf Abwehr. Für die Initiative kämpft hingegen SVP-Nationalrätin und Ems-Chemie-Chefin Magdalena Martullo-Blocher: «Bei der Selbstbestimmungsinitiative geht es um den Erhalt der direkten Demokratie», sagt sie und betont: «Die Argumentation der Wirtschaftsverbände, Selbstbestimmung schaffe Rechtsunsicherheit, ist völlig abwegig. Selbst Economiesuisse musste zugeben, dass keiner der zurzeit 600 in Kraft stehenden internationalen Wirtschaftsverträge durch die Initiative gefährdet ist.»

Das stimme nicht, hält Atteslander von Economiesuisse dagegen. «Die SBI würde durch den Generalvorbehalt gegenüber heute 600 Wirtschaftsabkommen die Schweizer Rechtssicherheit belasten.» 

Das Problem der Initiative: Sie lässt viele Fragen offen. Tritt nämlich ein Widerspruch zwischen der Bundesverfassung und einem internationalen Vertrag auf, fordert sie Neuverhandlungen und «nötigenfalls» eine Kündigung. Doch wer entscheidet, wann überhaupt ein Widerspruch auftritt? Und was genau bedeutet «nötigenfalls»?

Partei -und Wahlplakate zur Selbstbestimmungsinitiative haengen bei einer Medienkonferenz, am Donnerstag, 4. Oktober 2018, in Bern. (KEYSTONE/Peter Schneider)

Abstimmungs-Plakat: Die SP warnt, dass die Initiative die Menschenrechte schwäche.

Quelle: © KEYSTONE / PETER SCHNEIDER

Wird die Initiative streng umgesetzt, müsste die Schweiz mit der EU ein ganzes Paket an bilateralen Verträgen neu aushandeln. Konfliktpotenzial bergen die Bilateralen 1, die etwa Landwirtschaft, Luftverkehr, Forschung sowie Personenfreizügigkeit und Landverkehr regeln.

Besonders zwischen dem Landverkehrs- und dem Freizügigkeitsabkommen dürften Widersprüche mit dem Wortlaut der Bundesverfassung entstehen. Dass sich jedoch die EU auf Neuverhandlungen einliesse, ist kaum realistisch. Die Schweiz müsste die betroffenen Abkommen kündigen – aufgrund der Guillotine-Klausel fielen alle anderen auch weg.

Schweiz wäre erstes Land mit WTO-Austritt

Das ist nur die Spitze des Eisbergs, wie Christine Kaufmann, Professorin für Völker- und Europarecht an der Universität Zürich, in einer Studie aufzeigt. Gefährdet sind überdies Investitionsschutz- und Freihandelsabkommen sowie die Liste LIX-Schweiz, welche die Bezeichnung und Codierung von Waren harmonisiert. Und die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO.

Sie regelt etwa Handels- und Zollabkommen, den Handel mit Dienstleistungen und den Umgang mit geistigem Eigentum. Ähnlich wie bei den Bilateralen ist die WTO-Mitgliedschaft an ein ganzes Paket von Verträgen geknüpft: Müsste ein Vertrag gekündigt werden, verlöre das gesamte Paket an Gültigkeit. Die Schweiz würde bei der WTO austreten. Das hat bisher noch kein Land getan. 

Neue Initiativen als Damoklesschwert

Was aber könnte zu Konflikten mit der WTO führen? Gefahr droht besonders durch neue Volksinitiativen, die in Widerspruch mit multilateralen WTO-Abkommen stehen. Laut Kaufmanns Studie wäre das etwa bei den beiden im September abgelehnten Initiativen für Ernährungssouveränität und Fair Food der Fall gewesen. Über der WTO-Mitgliedschaft hinge somit stets das Damoklesschwert einer neuen mit Konfliktpotenzial geladenen Initiative.

Ähnlich gestaltet sich das Problem mit den dreissig Freihandelsabkommen mit vierzig Partnern ausserhalb der EU. Neue Initiativen könnten Widersprüche bringen, die Nachverhandlungen erfordern und zu Kündigungen führen könnten. «Es macht keinen Sinn, ein Abkommen zu kündigen, um gleich anschliessend bessere Bedingungen aushandeln zu können», sagt Atteslander. Das sei eine Kraftmeierei, die sich vielleicht die USA erlauben könne.

Doch auch wenn letztlich keine Kündigungen folgten, eine Annahme der Initiative würde den Wirtschaftsstandort trüben. Allein der Verlust an Rechtssicherheit und die geminderte Glaubwürdigkeit als Vertragspartner lasteten schwer. Noch spielt die Schweiz in der Champions-League. Die Plätze jedoch sind rar. 

Aktion zur Abstimmung vom 25. November

Achtzehn Frachtcontainer stapeln sich am Donnerstag vor dem Bundeshaus in Bern. Sie repräsentieren die 387 Tonnen Exportgüter, die alle 10 Minuten auf den Weltmarkt geschickt werden. Doch die Exportnation Schweiz – jährlich führt sie Güter im Wert von 295 Milliarden Franken aus – ist bedroht. Mit der Container-Aktion bringt sich die Wirtschaft nun gegen die Selbstbestimmungsinitiative der SVP in Stellung.

Denn die Initiative gefährdet nicht nur die Rechtssicherheit, sie stellt Hunderte internationale Wirtschaftsabkommen zur Disposition. «Die 97 000 Schweizer Exportunternehmen konnten sich bis jetzt darauf verlassen, dass diese Verträge auch in Zukunft gelten», sagt Monika Rühl, Direktorin des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. «Nun stimmen wir über eine Initiative ab, die diese Sicherheit infrage stellt.»