Sie gehört zu den markantesten Häuserfronten der Schweiz: An der Einfahrt zum Basler Bahnhof SBB gleiten silbrig glänzende Bürogebäude am Zugfenster vorbei. Hier residieren der Chemieriese Bayer, zwei Logistiker, eine Unternehmensberatung, Abteilungen von Universität und Fachhochschule, hier am Peter-Merian-Weg wird geplant, gedacht, werden Papiere und Präsentationen produziert – aber nicht nur. Im Untergeschoss der Hausnummer 12 summen 3-D-Drucker, blitzen Laserstrahlen und drehen sich Fräsmaschinen, daneben blicken Wissenschaftler in Mikroskope, tüfteln Ingenieure an Materialproben und Dentaltechniker an neuen Designs. Hier im Straumann-Keller entsteht die Zukunft der Zahnmedizin.

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Vier Stockwerke höher federt Marco Gadola in Chinohosen und Joggingschuhen über den Flur. Mit seiner drahtigen Sportlichkeit und der unverblümten Art erinnert Gadola an den früheren Swisscom-Chef Carsten Schloter – aber ohne dessen innere Rastlosigkeit. Gadola, Jahrgang 1963, hat in Basel Wirtschaft studiert, die London School of Economics und die 
Manager-Edelschmiede IMD Lausanne besucht und den Dentalkonzern Straumann von der Krawatte befreit.

Glitzernde Perspektiven

Und er hat den Straumännern Wachstumsschübe verabreicht: Seit seinem Amtsantritt als CEO Anfang 2013 hat Gadola den Umsatz um ein Drittel ausgeweitet, den Gewinn verdoppelt, neue Märkte erobert und Produkte lanciert, allein 2016 mehr als 300 Jobs geschaffen. Folgerichtig zeigt der Aktienkurs steil nordwärts – und die Perspektiven glitzern noch verführerischer: Im ersten Halbjahr 2017 hat Straumann sowohl Umsatz als auch Gewinn gegenüber dem Vorjahr gesteigert. Auch die Marge auf Stufe Ebit stieg auf knapp 26 Prozent. Sibylle Bischofberger, Branchenexpertin der Zürcher Kantonalbank und selbst Biochemikerin, betont mit Blick auf Gadola: «Gut gemacht wäre zu schwach formuliert.» Ein guter Indikator: «Sogar die Konkurrenten loben Straumann.»

Es zahle sich aus, sagt Gadola, dass Straumann sich weiterentwickelt habe: Noch Ende 2012 bot die Firma nur parallelwandige Implantate an, ein Marktsegment von weniger als einer Milliarde Franken Umfang. «Heute greifen wir nicht nur den gesamten Implantatmarkt an», sagt Gadola, «wir sind inzwischen ein Gesamtlösungsanbieter für Zahnersatz.» In diesen Nebengeschäften liegt Straumanns Marktanteil noch im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Gadola trocken: «Wir haben noch viel Potenzial.»

Epischer Zweikampf

Es gab eine Zeit, da galt Zahnersatz als heisseste Wirtschaftsbranche des Landes, befeuert vom epischen Zweikampf zwischen dem damaligen Marktführer Nobel Biocare und der scheinbar behäbigeren Straumann. Ein reichlich überdrehter Medien-Hype brach aus – wegen Firmen, die nicht einmal an der Umsatzmilliarde kratzten. Was heute wie ein Schimmern aus ferner Vergangenheit wirkt, liegt in Wahrheit nur ein gutes Jahrzehnt zurück.

Straumanns seinerzeitiger CEO und aktueller Konzernpräsident Gilbert Achermann hatte zumindest medial keinen Stich gegen Heliane Canepa, Nobels Frontfrau mit der roten Mähne. «Diese Frau legt einen Zahn zu», flötete die «Aargauer Zeitung» damals, und die «Basler Zeitung», verzückt von Canepas «üppiger Gestik», liess sich diktieren, dass für Nobel erst «der Himmel die Grenze» sei. Gefolgt von Canepas feierlichem Schwur, «dass die Nummer zwei 
zu werden für sie keine Option darstellt». Auf Fachmessen gingen Nobel-Leute den Straumännern beharrlich aus dem Weg.

Verstaubte Ratschen

Hochmut kommt ja oft kurz vor dem Fall. Gut drei Jahre später, im August 2008, kalauerte die «Basler Zeitung»: «Nobel geht auf dem Zahnfleisch.» Die Finanzkrise hatte Löcher in die Geschäftszahlen gerissen (allerdings der ganzen Branche), aber vor allem hatte Nobel in ihrem Kernmarkt USA ein Problem. Bei Kongressen, berichten Teilnehmer, warb Nobel damals, mit ein wenig Training übers Wochenende könnten auch allgemeinpraktizierende Zahnärzte Implantate setzen – was wesentlich lukrativer ist als das Bohren von Löchern. Dazu verkaufte man gern auch gleich die Nobel-Werkzeugsets den neuen Kunden.

Implantologie-Spezialisten, die zum Teil jahrzehntelang ihre komplexe Disziplin verfeinert hatten, machte sich Nobel damit zum Feind. Und viele der klassischen Zahnärzte trauten sich letztlich das Implantieren wohl doch nicht zu, liessen ihre Gewindeschneider, Schraubendreher und Drehmoment-Ratschen verstauben – lieferten also keine Bestellungen für Implantate ab.

2010 überholte Straumann dann «den ehemaligen Hauptkonkurrenten Nobel Biocare» (Gadola) und ist heute klarer Marktführer, wobei sich das Umfeld deutlich geändert hat: Sechs Player kontrollieren 80 Prozent des Weltmarktes, das letzte Fünftel teilen sich über 400 Anbieter, die meist rein lokal agieren – der Zweikampf hat sich zum Volkslauf ausgeweitet. Implantate sind auch für Nischenplayer ein lukratives Geschäft.

Reichweite ausgebaut

Die Grossen im Markt haben ihre Reichweite mit einer beispiellosen Übernahmewelle ausgebaut. So wanderten Astra Tech, ein früher Konkurrent der Schweizer Anbieter, und die israelische MIS Implants zu Dentsply, Zimmer kaufte Biomet, Nobel schlüpfte beim US-Riesen Danaher unter, und schon früh hatte Henry Schein die auf dem deutschen Markt starke Camlog aus Basel übernommen.

Auch Straumann machte sich breit und griff bei mehreren Implantatherstellern zu, so beim indischen Billiganbieter Equinox, der unter Führung der Basler technologisch aufrüsten soll, vor allem aber bei der brasilianischen Neodent. In der Unterfirma Instradent hat Gadola nicht weniger als sechs Beteiligungen zusammengefasst, die im Non-Premium-Segment operieren und auf Sicht alle eigene Implantatsysteme am Markt haben sollen – dass es so viele sind, hat mit den umfangreichen und länderspezifischen Zulassungsverfahren zu tun.

Oft bietet eine Übernahme einen schnelleren und günstigeren Markteintritt als das Aufbauen eigener Kapazitäten von null an. Instradent ist mit ihren Günstigmarken 2016 um dreistellige Prozentwerte gewachsen, Neodent etwa punktet in diversen Märkten mit ihrem Implantatsystem Drive, das der Nobel-Premiumofferte Active ähnelt wie aus dem Titanzylinder geschnitten – von einer schlichten Kopie zu sprechen, wäre eine unfreundliche Formulierung.

Billig überholt Premium

«Günstig», neudeutsch «Value» oder «Non-Premium» getauft, greift «Premium» an: Diese Entwicklung zeigt, dass die Zweiteilung des Marktes wieder schwindet. Die Schweizer Pioniere Straumann und Nobel waren zunächst nur im Hochpreissegment tätig; hier ist der Club mit den wenigen Mitgliedern Straumann, Nobel, Dentsply und Zimmer Biomet exklusiv geblieben. Im Value-Bereich liegt die koreanische Osstem vor Neodent, Dentium, Implant Direct und Camlog, zumindest wohl punkto Volumen; beim Umsatz dürfte Camlog noch vor Neodent liegen.

Das Günstigsegment wächst mit fünf bis sechs Prozent pro Jahr etwa doppelt so schnell wie das hochpreisige und dominiert den Weltimplantatmarkt bei den Stückzahlen inzwischen im Verhältnis 60 zu 40. China und Indien sind für Gadola jene Märkte, wo er mit seinen Value-Marken stark zulegen möchte – ausser in Brasilien hat Straumann in den Günstigmärkten bisher noch geringe Marktanteile.

Den Vorstoss ins lange Zeit verpönte billige Segment flankierte Gadola mit einer weiteren Strategieänderung: Biomaterialien für den Zahnarzt finden sich inzwischen auch auf der Produktpalette, dazu vorgelagertes Equipment wie intra-orale Digitalscanner, die den klassischen unangenehmen Abdruck ersetzen, der im Kiefer des Patienten erst aushärten muss, oder nachgelagerte Maschinen wie Fräsen, die direkt beim Zahnarzt zumindest prothetische Elemente sofort anfertigen und damit den Patienten kaubereit in die Freiheit entlassen können.

Solche Geräte kosten zwar einige zehntausend Franken, aber Zahnärzte können damit einen Teil der Wertschöpfung vom Labor in ihre Praxis holen und müssen zudem ihre Patienten seltener treffen – was den Dentisten, bei geschätzten rund 4000 Franken Honorar pro ersetztem Zahn, Zeit auf dem Arztstuhl und damit bares Geld erspart.

«One-Stop-Shop für ästhetische Zahnmedizin»

«Wir wollen mehr Relevanz beim Zahnarzt aufbauen und somit mehr als nur Implantate anbieten», sagt Gadola, «und deshalb ist unser Ziel, dass wir ein One-Stop-Shop für ästhetische Zahnmedizin werden.» Straumann bringt diese Geräte meist über Partnerschaften via Co-Branding an den Markt – so vereinen beide Brands die Stärken aus ihren jeweiligen Welten, und der Arzt kann davon ausgehen, dass die Software seiner Gerätschaften störungsfrei zusammenarbeitet.

Orthodontie, das Korrigieren von Zahnfehlstellungen, will Gadola als nächstes Geschäftsfeld betreten. Hierzu kündigte Straumann jüngst die Übernahme der amerikanischen Firma ClearCorrect an, ein Hersteller transparenter Zahnspangen. Sogar vor Prävention, die das Einbauen von Zahnersatz überflüssig machen würde, schreckt er nicht zurück. Das klinge vielleicht seltsam, sagt er. In der Tat – aber hier liege viel Potenzial.

Wirklich alles will Gadola aber nicht anbieten, zumindest nicht so breit werden wie die Konkurrenten Henry Schein und Danaher, die sogar Stühle im Sortiment haben. Danaher, mit gut 60'000 Mitarbeitern rund 15 Mal so gross wie Straumann, hat Nobel Biocare verschluckt wie ein Blauwal seine tägliche Ration Plankton. Von Demotivation der Nobel-Mannschaft flüsterte die Branche zunächst – belagert von Konzernbossen, die berühmt dafür sind, kurz vor Weihnachten ihre Leute mit schärferen Gewinnzielen oder Stellenstreichungen zu beschenken.

Doch neuerdings «hört man aus dem Markt, Nobel habe sich gefangen», sagt Sibylle Bischofberger und betont: «Die Produkte sind nach wie vor hervorragend.» Definitiv gelitten hat unter Danaher die Öffentlichkeitsarbeit. Nach der überschallartigen Kommunikation zu Canepas Zeiten ist das Gegenteil eingetreten: Nobel-Chef Hans Geiselhöringer, den in der Branche kaum jemand persönlich kennt, überlegte ein volles Jahr, ob er sich BILANZ zum Gespräch stellen möchte – und sagte dann ab. Oder wurde angewiesen, abzusagen.

Zahnlose Kiefer

Gadola jedenfalls will die Marktführerschaft noch ausbauen. «Wir sind heute schneller mit neuen Produkten am Markt und auch offener für Ideen, die von ausserhalb unseres Hauses stammen.» Wo Straumann auf die Konkurrenten noch aufholen muss, ist bei «fully-tapered» – also komplett konisch geformten – Implantaten und sogenannten «All on four»-Systemen, wo ganze Kieferprothesen mit künstlichen Zähnen auf nur vier Implantatschrauben befestigt werden. Was nach Radikallösung für Randständige ohne Zahnbürste klingt, ist in Wahrheit ein verbreitetes Problem: Allein jeder zehnte US-Bürger ist in mindestens einem Kiefer zahnlos, und auch in Europa, sagt Gadola, bestehte dafür ein grosses Marktbedürfnis.

Im Zukunftsfeld Keramikimplantate dominieren bisher Start-up-Anbieter wie Z-Systems oder Zeramex Dentalpoint, viele davon in der Schweiz beheimatet. Doch «aus heutiger Sicht ist der Markt noch sehr klein», sagt Sibylle Bischofberger. Tatsächlich verkaufen die genannten beiden Unternehmen, Marktführer im Keramikgeschäft, pro Jahr vielleicht 17 000 Implantate – nicht mal ein feuchter Hauch auf den heissen Stein, angesichts der 18 Millionen Implantate, die sich pro Jahr in menschliche Kieferknochen verschrauben.

Zur Keramik, die natürlicher wirkt und sich mit Knochen besser verbinden soll als Titan, fehlen bisher Langzeitstudien, aber Bischofberger ist sicher: Dieser Markt wird kommen. Gadola will hier Gas geben, und im Gegensatz zu Start-ups verfügt seine Schatulle über ausreichende Mittel für Forschung und Feldstudien.

Früher von Nobel Biocare überschattet, ist Straumann heute Schrittmacher der Dentalbranche. Marco Gadola spülte der Erfolg 2016 fast vier Millionen Franken in die Tasche – dem spektakulär gestiegenen Börsenkurs sei Dank und somit vermutlich nicht zum Verdruss der Aktionäre.

Folgerichtig hat Gadola auch nach vier Jahren keine Wechselgedanken. Er sei «extrem glücklich» hier und wolle nun «die neuen Wachstumschancen ausschöpfen». Nur die Hingabe zum Produkt fehlt ihm noch ein wenig. Er putzt seine weiss blinkenden Zähne offensichtlich derart verbissen, dass alle noch Originale sind. Der Straumann-Chef trägt kein einziges Implantat im Mund.