Die Machtverhältnisse sind wieder hergestellt. Lebensmittel-Supertanker Nestlé hat 2010 die Spitze der Schweizer Top-100-Unternehmen erklommen, fast 19 Milliarden Franken zusätzlichen Firmenwert hat der Multi aus Vevey seinen Aktionären im vergangenen Jahr beschert. Vorjahressieger Credit Suisse rutschte dagegen dramatisch ab: ans Ende der Rangliste, als Grossvernichterin von Aktionärsvermögen. Im langjährigen Durchschnitt schon auf dem wenig schmeichelhaften drittletzten Platz, hat die CS 2010 zudem eine ganz spezielle Schmach erlitten: Erzkonkurrent UBS war besser, und zwar mit deutlichem Abstand. Oswald Grübels UBS hat ihre Eigentümer «nur» um knapp fünf Milliarden Franken Unternehmenswert erleichtert. Brady Dougans CS verbrannte fast zwölf Milliarden mehr.

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Dagoberts Geldspeicher. Nestlé hingegen zieht an der Spitze einsame Kreise. Nicht nur 2010 hat sich die Aktie als sicherer Hort der Investorengelder erwiesen; in den gesamten vergangenen fünf Jahren büsste der Konzern nur einmal, 2006, einen (geringen) Teil des Firmenwerts ein. Insgesamt schuf Nestlé über diesen Zeitraum hinweg mehr als doppelt so viel Wert wie der Zweitplatzierte im Langfrist-Ranking, der Industriekonzern ABB, und mehr als viermal so viel wie der Drittplatzierte, Syngenta. Nestlé-Aktien sind so sicher wie Dagobert Ducks Geldspeicher. Nestlé schafft verlässlich mehr Wert, als sich Anleger von dieser kaum schwankenden Aktie erhoffen können. Die permanente Übererfüllung der Erwartungen gehört zum Erfolgsrezept des Nahrungsmittelgiganten, der global tätig ist und so tief in regionale Märkte eindringt wie vielleicht kein zweites Unternehmen der Welt, der zugleich aber beharrlich seinen eigenen Massstäben folgt – ohne Rücksicht auf Moden und sonstige Einflüsse von aussen. Immer wieder lanciert man neue Produkte, beerdigt erfolglose Konzepte, rollt dafür erfolgreiche geografisch aus und lässt sich durch zwischenzeitliche Misserfolge, wie die Umpositionierung der Schokoladenmarke Cailler in der Schweiz, nicht nachhaltig verwirren. Führungskräfte werden gezielt intern rekrutiert, Externe halten es, wie die Fälle Paul Polman oder Richard Laube zeigen, oft nicht lange in der fast sektenartig zelebrierten Nestlé-Kultur aus. Entscheide fallen im Konsens, ruckartige Strategiewechsel finden nicht statt, die Manager «sind für die Firma da, und nicht umgekehrt», profilschärfende öffentliche Auftritte sind möglichst zu unterlassen. Selbst Konzernpräsident Peter Brabeck spricht davon, Nestlé «dienen zu dürfen». Das bedeutet aber nicht, dass in Vevey farblose Erfüllungsgehilfen über die Flure huschen. Die Kaderleute sind smarte, international erfahrene Manager. Der aktuelle CEO Paul Bulcke ist einerseits ein Nestlé-Traditionalist, andererseits ein belgischer Bonvivant, der sechs Sprachen spricht und in mehreren turbulenten Ländern Südamerikas gearbeitet hat. Darunter im bürgerkriegsgeschüttelten Peru – zu jenen Zeiten, als der «Leuchtende Pfad» mit Terroranschlägen den Umsturz herbeischiessen wollte. Bulcke liess sich nicht abschrecken. Allmählich verbreitern Bulcke und Brabeck das Produktportfolio weit über Pizza, Pasta und Pudding hinaus – in Richtung wissenschaftlich basierter Ernährung, die eingebauten Zusatznutzen bringen soll: zum Vorbeugen oder Heilen von Krankheiten, für besseres Aussehen oder sportliche Höchstleistungen. Die neue Tochterfirma Nestlé Health Science in Lausanne soll diese Aktivitäten bündeln, in die Forschung will der Konzern über die nächsten zehn Jahre eine halbe Milliarde Franken stecken. Nestlé sei «Pionier einer neuen Industrie», rühmt Präsident Brabeck. Ausserdem versprechen die angereicherten Nahrungsmittel höhere Margen als das traditionelle Geschäft. Den früheren Rückstand gegenüber den Konkurrenten Unilever und Danone punkto Gewinnkraft hat Nestlé längst wettgemacht.

Im Zeichen der Konjunktur. «2010 hat die Konsumbranche gewonnen», bilanziert Pius Zgraggen, Chef der Finanzberatung OLZ & Partners, die für BILANZ die Top-100-Rangliste erstellt. Gleich hinter Nestlé haben sich die Luxusgüterproduzenten Richemont (A.  Lange & Söhne, Cartier, IWC, Piaget) und Swatch (Breguet, Blancpain, Omega) platziert; zusammen haben diese drei Gewinner fast 38 Milliarden Franken Wert für ihre Aktionäre geschaffen. Aber nicht nur die Uhrenbauer wurden zu Nutzniessern der nach der Finanzkrise wieder stark anziehenden Konjunktur. Die Nächstplatzierten, Schindler und Kühne + Nagel, profitierten vom zunehmenden Transportbedarf: Kühne + Nagel vom wachsenden Frachtaufkommen und Schindler mit ihren Rolltreppen und Aufzügen vom Bauboom in aufstrebenden Schwellenländern in Asien und Lateinamerika. Schindlers Lifte fahren in zahllosen neuen Wolkenkratzern Asiens und der Pazifikregion auf und ab; diese Märkte hat Patriarch Alfred Schindler als künftige Wachstumsbringer definiert. Gewöhnlich vermeidet Schindler, sich öffentlich zu Wort zu melden, 2010 jedoch brannte er ein für seine Verhältnisse wahres Interviewfeuerwerk ab. Allerdings nicht, um seine Transportmittel zu bewerben, sondern um die Steuerinitiative der SP als unternehmerfeindlich und damit für die Schweizer Wirtschaft gefährlich zu brandmarken. Er sprach gar von «Enteignung». Offen drohte Schindler mit dem Wegzug ins Ausland. Das Stimmvolk lehnte die Initiative tatsächlich ab.

Das Leiden der Banken. Erst auf dem sechsten Rang folgt der erste Finanzdienstleister, die «Zürich»-Versicherungsgruppe. In einer Branche, welcher die weiterhin durchwachsene Lage an den Finanzmärkten in den Knochen steckt, hat die «Zürich» noch am besten abgeschnitten. Denn sie hängt nicht nur von der Performance ihrer Anlageergebnisse ab, sondern achtet als Komplettversicherer eher auf die Bilanz ihres «technischen Geschäfts», also darauf, ob bei Auto, Hausrat oder Unfallversicherung die Zahlen unterm Strich schwarz oder rot sind. Und bei der «Zürich» liegt die sogenannte Combined Ratio, das Verhältnis von Kosten zu Prämieneinnahmen, deutlich unter 1, die «Zürich» versichert also mit Gewinn. Die Banken hingegen haben sich 2010 schwergetan, das zeigt sich am desaströsen Abschneiden der Grossbanken. Aber auch die reine Vermögensverwaltungsbank Julius Bär schaffte es, obwohl unbeeinflusst von Einbrüchen im Investment Banking, 2010 nicht über Rang 14 hinaus. Im laufenden Jahr aber dürfen die «Bären» darauf hoffen, dass sich die Neugeldschleusen ein wenig weiter öffnen und so das Geschäft anzieht. Auch die Grossbanken sollten 2011 wieder auf Erholungskurs einschwenken. Vontobel-Bankanalytikerin Teresa Nielsen empfahl schon im Oktober die Aktien der beiden Konkurrenten UBS und CS zum Kauf. 2010 war grundsätzlich ein Jahr der Erholung, das zeigt sich im Gesamtbild der Rangliste: 180 Firmen gingen in die Wertung ein – das heisst, sie waren nicht nur im SPI gelistet, sondern wiesen auch mindestens 100 Millionen Franken Börsenkapitalisierung auf. Dieses Kriterium erfüllten im Jahr 2009 nur 167 Firmen, da infolge der Finanzkrise die Firmenwerte zerfielen. Inzwischen erholen sich Geschäftsbilanzen und damit Börsenbewertungen auf breiter Front. Vorkrisenniveau hat die Schweizer Wirtschaftswelt damit aber noch nicht erreicht; im Jahr 2008 schafften es noch sieben Firmen mehr als 2010 in die Wertung. Ein weiteres Zeichen für den beginnenden Aufwärtstrend 2010 war auch das Zurückkommen der Industrie. ABB etwa, im langjährigen Mittel inzwischen ein zuverlässiger Wertvermehrer für ihre Aktionäre (im Fünfjahresvergleich belegt das Unternehmen stabil den zweiten Rang hinter Nestlé), schaffte es im Jahr 2009 nicht einmal unter die Top 100. 2010 liegt ABB wieder klar unter den ersten zehn, hat es mit ihrem höheren Risikoprofil – ablesbar am Beta-Faktor von über 1 – aber nicht an die Spitze der Industrieunternehmen geschafft. Diese Fahne trägt vielmehr der Winterthurer Pumpenhersteller Sulzer, der zu Beginn der Krise zügig die Kosten senkte und damit die einbrechenden Auftragsvolumina teilweise kompensierte. Jene Konzernteile, die der Autoindustrie zuliefern, partizipierten dann bald an der Sonderkonjunktur dieser Branche; der Bereich Pumpen, im Wirtschaftszyklus eher spät in Bewegung, wartet noch auf den nächsten Einsatz der Investitionswelle. ABB, mit dem frühzyklischen Bereich Industrieausrüstung und dem später reagierenden Stromgeschäft ganz ähnlich aufgestellt, dürfte den auffrischenden Rückenwind sogar noch deutlicher spüren. Sie hat ein Drei-Milliarden-Kostensenkungsprogramm abgearbeitet und mit dem amerikanischen Motorenbauer Baldor eine Milliardenakquisition integriert. Die Hausaufgaben sind weitgehend erledigt, und das Wachstum kann kommen. Nach vorne schaut auch Syngenta-Chef Michael Mack. Der Basler Agrochemiekonzern, ein Spin-off von Novartis, angereichert mit Geschäftseinheiten des Konkurrenten AstraZeneca, ist der Ausreisser des Jahres: langfristig top, 2010 ein Flop. Höherer Umsatz aufgrund höherer Verkaufsmengen bei zugleich sinkendem Gewinn ist eine Kombination, die Börseninvestoren nicht so gern haben. Nun hat Konzernchef Michael Mack angekündigt, die Divisionen Saatgut und Pflanzenschutz zusammenzulegen – eine Neuheit für die Branche. Das soll die vereinigten Verkaufstruppen mit höherer Schlagkraft ausstatten und den sinkenden Verkaufspreisen der Produkte entgegenarbeiten. Zumal sich Syngenta ohnehin erlaubt, höhere Preise als die Konkurrenz zu verlangen. «Wir glauben, dass unsere Produkte den Landwirten einen grösseren Nutzen bringen», liess Mack im Herbst die verdutzten Leser der «Finanz und Wirtschaft» wissen. «Für die Zukunft jedenfalls», so Mack, «sind wir zuversichtlich.»

Geballte Wertvernichtung. Düsterer sind die Aussichten für Roche und ihren obersten Pillendreher Severin Schwan. Die rote Laterne im Ranking spiegelt wider, dass nach Jahren des Wachstums und zur Schau getragener Siegesgewissheit nun die Umsätze stagnieren, die Arzneimittel-Pipeline ausgetrocknet scheint und das Blockbuster-Medikament Avastin zu schwächeln beginnt (siehe auch BILANZ 3/2011: «Absturz eines Musterschülers»). Novartis hat mit dem breiter aufgestellten Konzern, der zudem ein Standbein im Geschäft mit patentfreien Nachahmermedikamenten aufgebaut hat, an der Börse mittlerweile die Nase vorn – sie wird heute höher bewertet als Roche. Eine ähnliche Schmach wie CS-Chef Brady Dougan gegenüber seinem Amtsvorgänger, dem heutigen UBS-Boss Oswald Grübel, erleidet auch Schwan. Erzkonkurrent Novartis, geführt von Daniel Vasella und Joe Jimenez, lässt Schwan und dessen Förderer, Präsident Franz Humer, alt aussehen. Mit der monströsen Vernichtung von 32 Milliarden Franken Aktionärswert hat sich Roche nicht nur in der Rangliste von 2010 am Ende postiert, sondern steht nun auch im Langfristvergleich schlechter da als Novartis. In dieser Rangliste ist nur noch die UBS hinter Roche platziert. Was die vier Arzneimittel- und Finanzmultis schon durch schiere Grösse an destruktiver Kraft auf die Waage bringen, ist beachtlich. 2010 haben Credit Suisse und UBS zusammen mehr Aktionärswert verbrannt, als Nestlé neu schaffen konnte. Roche und Novartis, sagt OLZ-Mann Pius Zgraggen, haben «zusammen nahezu so viel Wert vernichtet, wie unsere drei Gewinner aus dem Konsumbereich geschaffen haben». Bitter ist, dass genau diejenigen Konzerne die schlechtesten Leistungen abliefern, deren Chefs zu den höchstbezahlten gehören. Die Aktionäre dürften nicht erfreut sein.

Dirk Ruschmann
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