Verräterisch ist meist nicht das, was man sagt – sondern das, was man weglässt: Als Audis neuer Designchef Marc Lichte vor gut einem Jahr seine «Designsprache» präsentierte, nannte er als Inspirationsquellen den Audi 90 Quattro IMSA GTO, der mit wuchtigen Verbreiterungen Ende der 1980er Jahre in US-Rennserien zum Einsatz kam, und die Limousine A8 der ersten Generation. Der eine habe «Quattro sichtbar gemacht, der andere zeitlose, perfekte Proportionen». Aktuelle Modelle wie das Coupé A5 oder der Supersportler R8 schienen ihn nicht zu beeindrucken.

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Als Audis Vorstandschef Rupert Stadler im September an der Frankfurter Automesse IAA den neuen A4 vorstellte, «unseren Bestseller», wie Stadler zu sagen wusste, liess er sich aus über die wunderbare Technik, über neue Assistenzsysteme, Antriebe namens «g-tron» und «e-tron» und pilotiertes Fahren – zum Design allerdings bekam er kein Wort heraus.

Dafür wurde der A4 eilends aus der Halle und ein grimmig blickender Prototyp hereingefahren, der als «schön», «progressiv», gar als mobile «Skulptur» gelobt wurde. Stadlers Schweigen und Lichtes eigenartige Auswahl aus Audis Ahnengalerie haben denselben Grund: Die Audianer haben ein Problem mit ihren aktuellen Autos. Und: Sie wissen es.

Marktführer war einmal

Schon die Zahlen zeigen es in aller Deutlichkeit – insbesondere im Allrad-Wunderland Schweiz, über lange Zeit Audis Vorzeigemarkt. Hier ist die Marke mit den vier Ringen im erbitterten Premium-Dreikampf gegen BMW und Mercedes, nach vielen Jahren an der Spitze, 2014 von den Bayerischen MotorWagen überholt worden. Und 2015 hat Mercedes eine furiose Aufholjagd hingelegt, ist per Ende Oktober BMW dicht auf den Fersen und wird Audi mit ziemlicher Sicherheit auf den dritten Rang verweisen.

Die Marktanteile für 2015 und 2016 prognostiziert Morten Hannesbo, Chef des Audi-Importeurs Amag, mit jeweils 6,7 Prozent. «Audi wächst immer noch, die Wettbewerber wachsen aktuell aber eben etwas mehr», sagt Hannesbo.

Klar – aber warum?

Die erste Erklärung liefert Hannesbo gleich selbst: «Wir erleben aktuell Änderungen im Modellzyklus» – was heissen soll: Der neue A4 ist gerade erst gelauncht und kann dem Verkauf noch keine Stückzahlen liefern, auf den wichtigen A5 wartet die Welt noch – er soll erst 2016 kommen, sodass die aktuelle Generation methusalemische neun Jahre am Markt bleibt, beim zeitgleich startenden und noch wichtigeren Kompakt-Geländewagen Q5 werden es acht Jahre sein. Doch in der Dämmerung einer Modellgeneration sinken traditionell die Verkaufszahlen – die Kunden wollen den Nachfolger.

Weder Glanz noch Mut

Teil der Schwäche Audis ist aber auch das Erstarken der Wettbewerber. Und das in einem Bereich, der Audi gross gemacht hat: beim Allradantrieb. Audi pflegt den Werbeclaim «Schweiz – Land of Quattro». 68 Prozent aller hierzulande neu gekauften Audis fahren mit vier angetriebenen Rädern.

BMW hat hier jedoch nachgelegt, bietet inzwischen über 100 Modelle mit dem «xDrive» genannten Allradantrieb an – und kam 2014 auf eine erstaunliche Allradquote von 75 Prozent; im laufenden Jahr soll der Anteil ähnlich gross sein. Und Mercedes ist dank einer runderneuerten Modellpalette der Gewinner der Stunde; die Geländewagen fast aller Grössen wurden neu aufgelegt, die renditeträchtigen Limousinen liegen in ihren Segmenten ohnehin vor der Konkurrenz – und auch Mercedes verkauft in der Schweiz mittlerweile 61 Prozent der Autos mit Allradantrieb.

Zusätzlich hat Mercedes eine optische Revolution erlebt – Chefdesigner Gorden Wagener amtiert zwar bereits seit 2008, doch im Autogeschäft dauern Umstellungen aufgrund der langen Planungszeiträume eine ganze Reihe von Jahren, bis sie sichtbar werden. Wagener hat die Kompaktautos entstaubt und mit dem Sportler AMG GT einen Imageträger mit Sex-Appeal auf die Räder gestellt; eine Ikone, die Glanz auf die anderen Modelle abstrahlt. BMW fehlt ein solches Sahnestück.

«BMW baut die schönsten Limousinen»

Dafür bedienen die Münchner den Sinn für Ästhetik derzeit vermutlich am besten, «man muss wohl sagen, die schönsten Limousinen baut derzeit BMW, siehe etwa den 5er – der hat eine sehr appetitliche Linie», sagt der Kölner Designprofessor Paolo Tumminelli. Audi dagegen habe «über eine ganze Fahrzeuggeneration hinweg die Orientierung im Design etwas verloren, Glanz und Wagemut fehlen», kritisiert Tumminelli – und nennt als Beispiele den neuen Grossgeländewagen Q7 oder die aktuelle Ausgabe des Kompaktsportlers TT.

So erklärt sich auch der verkrampfte Umgang von Lichte und Stadler mit Audis automobiler Gegenwart – Lichte wurde aus Wolfsburg nach Ingolstadt geschickt, um Wolfgang Egger als Chefdesigner abzulösen. Dessen Entwürfe zu A4, Q7 und R8 konnte er nur noch leicht retuschieren – zu weit fortgeschritten war die Produktplanung.

Schnellere Markteinführung

Das Unbehagen der Audi-Führung zeigt sich auch darin, dass sie beim A4 die Kombiversion Avant erstmals zeitgleich mit der Limousine vorstellte und dass die S- und RS-Sportvarianten zügiger als üblich an den Markt gehen sollen: Was früher kommt, soll vielleicht auch früher wieder weg und durch Lichte-Kreationen ersetzt werden. Der Neue avancierte bei VW zum Star, weil es stets seine Entwürfe für die jüngeren Golf-Generationen und den Passat waren, die es in die Serienfertigung schafften. Er kann regelrecht schwärmen von seinem «Traumjob» und hat mit der Studie Prologue gezeigt, wohin sich das Audi-Design in den kommenden Jahren bewegen soll.

Der Prologue verblüfft mit einem futuristischen Innenleben und einem Kühlerschlund so breit, wie man ihn sonst nur von US-Muskelautos kennt. Bis Lichtes Arbeit auf der Strasse allerdings vollständig erkennbar wird, dürfte es 2017 oder 2018 werden. Hannesbo hat die neuen Modelle schon gesehen – und erblickt darin Anlass für Optimismus: «2016 wollen wir einen Schritt machen, der Marktführerschaft wieder näher zu kommen, und 2017 wollen wir wieder Erster sein.» Die Konkurrenten vermutlich auch – es wird also spannend.

Betriebsökonom unter Ingenieuren

Rupert Stadlers Stuhl als erster Mann bei Audi allerdings hat inzwischen einige Schrammen erlitten. Zum einen trägt er Mitverantwortung am Design-Stillstand; die Zeichner schlagen lediglich vor, beschlossen wird die Optik von den Bossen. Zum anderen kommt aus Stadlers Reich jener Sechszylinder-Diesel, den die Amerikaner im Zug der VW-Dieselaffäre nun ebenfalls als rechtswidrig einstufen; es geht dabei um eine Software, die im Abgasreinigungssystem die Temperatur regelt.

Ein kleineres Problem, aber ein ärgerliches: Von den insgesamt betroffenen 100'000 Motoren stecken 13'000 in Porsche Cayenne, die seit 2013 in den USA verkauft wurden – was den neuen VW-Konzernchef Matthias Müller, der zuvor Porsche leitete, nerven dürfte. Zumal Stadler zunächst verkündet hatte, bei den Audi-Motoren sei nichts zu beanstanden. Die Nachbesserungen sollen einen zweistelligen Millionenbetrag kosten.

Kaum zur Disposition

Doch Müller wird Stadler kaum zur Disposition stellen – Audi hat eine beispiellose Wachstumsgeschichte hingelegt und erwirtschaftet im VW-Konzern mit 16 Prozent der gebauten Fahrzeuge 40 Prozent des operativen Gewinns. Ohnehin war Stadler bereits an die Leine genommen worden.

2013 hatten VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch und CEO Martin Winterkorn, die damals noch glänzend harmonierten (notabene zwei frühere Audi-Chefs), Entwicklungschef Wolfgang Dürheimer von Audi abgezogen und dafür den Winterkorn-Vertrauten Ulrich Hackenberg zu Audi geschickt. «Hacki», der wichtigste Ingenieur bei VW, sollte den Audi-Slogan «Vorsprung durch Technik» wieder mit Neuheiten bestätigen. Jene glorreichen alten Zeiten heraufbeschwören, als Audi die Gegner vor sich hertrieb: mit Quattro, leckerem Fünfzylindermotor, Sicherheitssystem Procon-Ten, als Windschlüpfrigkeits-Weltmeister, die Karosserie vollverzinkt, später beim A8 sogar aus Aluminium gefertigt. Hackenberg brachte seinen Lieblingsdesigner Lichte gleich mit.

Piëch als Halbschatten präsent

Die Dieselaffäre hat «Hacki» und «Wiko» weggespült, Piëch hatte zuvor seine Ämter aufgegeben. Doch Piëch ist Grossaktionär und als Halbschatten Stadlers weiterhin präsent. Stadler sitzt in diversen Familienstiftungen Piëchs, wie gerade bekannt wurde.

Der studierte Betriebsökonom verdankt seine Karriere dem eisernen Ferdinand. Im ingenieursfixierten VW-Konzern hatte Stadler nie eine Funktion, die mit Blech oder Motoren zu tun hat – bis auf ein Intermezzo von 2002 bis 2003 als Leiter der konzernweiten Produktplanung; ein Amt, das ihm sein Ziehvater Ferdinand Piëch übertragen hatte. Stadler hatte seit 1997 das Büro des damaligen VW-Chefs Piëch geleitet. Piëch zog sich 2002 in den Aufsichtsrat zurück, 2003 wurde Stadler Audi-Finanzchef, vier Jahre später CEO.

Wenn er bisweilen von seinem «Popometer» schwärmte, seinem Fahrgefühl, um zu zeigen, dass er auch von Technik etwas versteht, grinste mancher Ingenieur verstohlen. Doch Piëchs Rückhalt und Audis Erfolg machten Stadler unantastbar.

Mainstream statt Rebell

Kurioserweise ist es auch jener Erfolg, der in der Schweiz für Audi zur Bürde wurde: Audi ist hier inzwischen allgegenwärtig, gehört zum Establishment – ein Auto, mit dem man nichts falsch machen kann. «25 Jahre lang war Audi das ‹new kid in town›», sagt Paolo Tumminelli. Heute sei ein Audi kein Statement mehr.

Doch da müssen Stadler und Lichte wieder hin. Stadler will mit Audi bis 2020 weltweit grösster Premiumhersteller werden, Morten Hannesbo will Audi wieder vor den Konkurrenten platziert sehen. Ende 2016 soll das neue Flaggschiff, der A8, in die Showrooms rollen, er wird die neue Audi-Welt verkörpern. Lichte muss mit seinem Design Begehren wecken, Stadler mit technischem Vorsprung punkten. Audi muss liefern – auch und gerade in der Schweiz.

Dirk Ruschmann
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