Irgendein Badeort an der Adriaküste, Ortstermin in einem der 1100 OVS-Läden in Italien: Die Verkaufsräume weiss gefliest und hell erleuchtet, zwischen den Regalen und Ringständern genügend Platz für Kinderwagen. Die Cargohosen für Männer schwarz/slim kosten 39.99 Euro, Schals und Gürtel kleines Geld. Der Herrenanzug ist ausgelobt für 99.99 Euro, die Aussenhaut genäht aus dem wunderbar vielseitigen Werkstoff Polyester. Er findet sich auch in den Blusen und Hängerchen der Damenabteilung. Leichte Kunststoffausdünstungen ziehen durch den Verkaufsraum, im Gedenken an die schrille Konkurrenz, wie die französischstämmigen Orsay, Pimkie und Xanaka oder die Schweizer Tally Weijl.

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Obere Mittelklasse im Billigsegment

Bei OVS, naturgemäss vor allem in der Männerabteilung, dominieren die Standardfarben Grau, Schwarz, Weiss und Blau, und die Schnitte stimmen – klar, die Teile sind für stilbewusste Italiener gefertigt. Was allerdings nicht heisst, dass sie so schamlos wie bei Zara an den Vorbildern der High Fashion entlangkopiert sind.

Eigenständige Position der oberen Mittelklasse im Billigsegment, flankiert von einer grossen Kinderabteilung – eine Marktlage, die zumindest in Teilen an Charles Vögele erinnert.

H&M, C&A sowie die Schweizer Kette Chicorée gelten für OVS als direkteste Wettbewerber; Chicorée-Gründer Jörg Weber, der seine Kernklientel als «Mütter und Töchter mit tiefem Budget» definiert, ist gewarnt: «OVS gilt in Italien wie Chicorée in der Schweiz 
als sehr preisaggressiv.» Wenn die Italiener einmal hier sind, wird er sie in direkter Nachbarschaft bekämpfen müssen, «da Charles Vögele meist an vielen gleichen Standorten wie Chicorée mit einer ähnlich hohen Filialzahl in der Schweiz vertreten war».

Erfolglose Expansionen in der Vergangenheit

OVS – da war mal was. Das sind jene Italiener, die ab dem Jahr 2000 schon einmal in der Schweiz Fuss fassen wollten und sich, mit Globus als Franchisenehmer, in ehemaligen ABM-Verkaufsstellen unter ihrem damaligen Namen Oviesse versuchten – aber nach wenigen Jahren, krachend gescheitert, wieder abzogen.

Ähnlich erfolglos verliefen die Pläne einer Expansion ins eigentliche Billigparadies: Im September 2000 hatte Oviesse vom skandalumwitterten Handelsmulti Metro 98 Kaufhalle-Filialen plus zwei Logistikzentren in Deutschland übernommen, bekam als Dank für die Entlastung der Metro-Resterampe Divaco sogar noch 64 Millionen Euro zugesteckt. Der Geschäftsgang harzte, doch noch Anfang 2003 hiess es bei Oviesse, ein Rückzug aus dem «Kernmarkt» Deutschland komme nicht in Frage. Im Herbst 2003 erkaufte sich Oviesse dann die Schliessung von 71 Filialen für eine 50-Millionen-Entschädigung an die Kaufhalle und sagte 2004 schon wieder Addio zu ihrem «Kernmarkt».

Italiens Grösster

Inzwischen ist Oviesse zu OVS geronnen, gehört aber immer noch zur Kaufhauskette Gruppo Coin, die sich 2009 auch die Upim-Warenhäuser zulegte und sich seither als Italiens grösster Kleiderhändler betrachtet. Demnach lassen OVS/Upim in Italien sowohl Lokalmatador Benetton als auch die 
Globalisten H&M und Zara weit hinter sich – und auch die Finanzergebnisse zeigen nordwärts seit dem Börsengang von OVS im März 2015.

Der Gruppo Coin war immer schon scharf auf eine Auslandsexpansion, und OVS ist tatsächlich in Auslandsmärkten wie Ungarn oder Slowenien aktiv – aber jetzt ein zweiter Versuch im Hochpreismarkt Schweiz? Wo die Bekleidungsbranche dank schlechtem Shoppingwetter, trüber Konjunktur und galoppierendem Einkaufstourismus im Jahr 2016 bisher ein dickes Verkaufsminus von über neun Prozent bilanziert? Und ausgerechnet mittels Übernahme der nach Luft (= Geld) ringenden Charles Vögele?

Ein gewisser Sinn

Erst auf den zweiten Blick erschliesst sich ein gewisser Sinn darin. Zunächst hat sich OVS unter CEO Stefano Beraldo so gut entwickelt, dass es in Italien langsam eng wird; Beraldo drängt mit Macht ins Ausland. Für die Schweiz spricht er von einer «grossen Chance zur Internationalisierung der Marke OVS mit einem begrenzten Finanzinvestment von 14,1 Millionen Franken».

Die kostenschonende Konstruktion ist bestechend: Am 28. Juli wurde eine Firma namens Sempione Retail mit einem Kapital von 100'000 Franken gegründet. An ihr hält OVS, die ihren Sitz in Mestre bei Venedig hat, 35 Prozent. Eine weitere italienische Gesellschaft namens Retails Investment hält 44,5 Prozent, sie gehört den italienischen Textilunternehmern Jonathan Kafri und Luigi Enzo De Gaspari, die ihr 
Investment als Wette auf den als ausgefuchst geltenden Retailer Beraldo sehen und mit OVS ein «Shareholder Agreement» haben. 20,5 Prozent schliesslich liegen beim Elarof Trust, hinter dem jene ominöse Gruppe Sandoz-Erben steht, deren Abgesandter Christophe Spadone im Vögele-Verwaltungsrat sitzt. Formal bietet nicht OVS, sondern Sempione für Vögele.

Der Weg ins Siechtum

70 Prozent der Vögele-Aktien will Sempione haben, dann klappt die Übernahme, und dann bleibt es natürlich nicht bei 14 Millionen Franken. 18,15 Prozent der Papiere kontrollieren die Italiener bereits, davon 2,99 Prozent, die Vögele selbst hält. Von den bis Mitte Oktober verbliebenen Grossaktionären Dimensional Holding (3 Prozent), Antares (3,18), Migros (4,75) und UBS (4,99) hat die Migros bereits angekündigt, ihre Aktien anzudienen. Auch wenn der gebotene Preis von 6.38 Franken praktisch einer Prämie von null entspricht, dürfte das geforderte Paket zusammenkommen.

Vögele gilt finanziell als klinisch tot, die Marke lässt ohnehin die Flügel hängen. Ironischerweise käme die Transformation durch OVS jener Verjüngungskur nahe, die Ex-Vögele-Chef André Maeder ab 2009 dem angestaubten «Hosenkönig» verordnet hatte (Stichwort Cruz-Schwestern). Doch der Verwaltungsrat um Hans «den Sanierer» Ziegler wurde schon 2011 ungeduldig, setzte Maeder den Stuhl vor die Tür – und kehrte zurück zur Biederkeit. Es war der Weg ins Siechtum. Nun erledigt eben Beraldo das Unvermeidliche.

Vögele als nicht börsenkotierte Hülle

Von der einst stolzen Charles Vögele Holding in Pfäffikon SZ wird wenig übrig bleiben; Ziel ist die Dekotierung der Aktie. Die Italiener wollten ihre Marken OVS und Upim an Vögele «per Franchisevertrag» lizenzieren, heisst es im Börsenprospekt – die Vögele Holding soll als nicht börsenkotierte Hülle bestehen bleiben und OVS Gebühren zahlen, um deren Kleidung verkaufen zu dürfen, und die Stores in der Schweiz, Österreich, Ungarn und Slowenien weiterhin betreuen. Die Vögele-Aktivitäten in Belgien und Holland will OVS nicht übernehmen, jene in Deutschland sind für 30 Millionen Franken einem ungenannten Käufer versprochen.

Verkauft werden auch, via UBS Real Estate Advisory, diverse Grundstücke, Gebäude und Stockwerkeigentum in der Schweiz, darunter das Zürcher Vögele-Flaggschiff bei der Bahnhofstrasse und Häuser in der Hauptgasse von Solothurn oder am Largo Franco Zorzi in Lugano. Ein Family Office (nicht die Sandoz-Erben) bietet 169 Millionen für das Portfolio. Addiert könnten also 200 Millionen Franken Einnahmen fliessen, denen 245 Millionen Schulden bei Vögele gegenüberstehen: 45 Millionen Verbindlichkeiten plus 55 Millionen für die Übernahme – 100 Millionen wollen sich die Sempione-Investoren den Deal kosten lassen.

Sempione, zu deutsch Simplon, sieht Beraldo als Instrument, das Risiko des Abenteuers Schweiz zu minimieren. Es ist zugleich eine Anspielung auf die bereits erfolgte Alpenüberquerung: In Lausanne betreibt OVS einen Kindermode-Laden, der angeblich «wie gestört» läuft. Die Vögele-Filialen, die dank «ähnlicher durchschnittlicher Filialengrösse und ähnlicher Filialenstandorte» laut OVS gut zum eigenen Sortiment passen, würden zur Hälfte bis Sommer 2017 umgebaut, in den verbleibenden Vögele-Läden soll das Warenlager so weit wie möglich abverkauft werden. Zum Winter 2017/18 würden die restlichen Geschäfte OVS-verträglich eingerichtet.

Das OVS-Vögele muss flattern

Wichtig ist für Beraldo, der mehr als die Hälfte aller Vögele-Verkaufsstellen besucht haben soll: Das Geschäft in den Läden, isoliert betrachtet, sei rentabel, Vögele verbrennt fünf bis sechs Millionen Franken pro Monat in Logistik, Produktentwicklung und Verwaltung. Diesen Wasserkopf will Beraldo austrocknen.

Klappt die Übernahme, hätte OVS frühestens 2019 eine Kaufoption auf die Sempione-Anteile von Retails Investment; wie viel das Paket kosten würde, hängt davon ab, wie einträglich das OVS-Vögele dann flattert – auch das eine Risikominderung durch Beraldo. Tatsächlich erwirbt er durch einen Kauf praktisch nichts ausser Zugang zu Retailflächen im Markt Schweiz sowie Zugang zu Personal, das mit einer preissensitiven Kundenschicht umgehen kann.

Genügend Nachfrage?

Aber welche und wie viele Kunden werden kommen wollen? Chicorée-Chef Weber sieht OVS «als Familienabdecker sehr nahe bei der ehemaligen Charles Vögele», ortet zudem «schnellere Reaktionszeiten in den Trends und höhere Preisaggressivität». Aber bietet die Schweiz einem weiteren Anbieter im modisch-günstigen Segment genug Nachfrage?

Handelsexperten sehen zumindest für die Kinderabteilung, die OVS stark forcieren will, Bedarf – günstige Kleidung für Kids ist ein Markt mit Nachholbedarf. Bei Teenagern, Twens und Erwachsenen sind die Meinungen geteilt – eine Branchenmanagerin stellt zudem in Frage, ob es OVS 
gelingen könne, die bisherigen 
Vögele-Kunden an sich zu binden; im Modegrad liegen die beiden Ketten weit auseinander. Wer sich bei Vögele bisher mit gelben oder grün karierten Kurzarmhemden versorgt hat, wird es bei OVS in Zukunft schwer haben.

Sollten die Kunden zunächst nicht wie gewünscht in die Läden strömen, kann Beraldo zum Ausgleich noch einiges an Sparpotenzial ausschöpfen – etwa auch beim späteren Führungspersonal einer italienisch dominierten Vögele-Holding. Im Verwaltungsrat, wo Präsident Max Katz zuletzt knapp 170'000 Franken verdiente, Vorgänger Ziegler gar 285'000 Franken, sollen alle aktuellen Räte zurücktreten und OVS-genehmen Nachfolgern Platz machen.

Wertlose Optionen

Und beim Blick in die Konzernleitung sollen die Italiener, Insidern zufolge, mächtig gestaunt haben über das 915'000-Franken-Salär von CEO Markus Voegeli, der 2014 sogar das Doppelte bezog. Günstig wird für Sempione immerhin das Ausgleichen der Aktienoptionen, die drei Verwaltungsräte und Voegeli als Saläranteile erhalten haben: Die Berechnung der Italiener ergab, dass eine Barabgeltung der Optionen maximal 3829 Franken kosten würde.

Ob Voegeli als Provinzverwalter für OVS bleiben darf und bleiben will, steht in den Sternen. Einen Schweizer an der Spitze wird eine OVS-dominierte Vögele Holding aber mit Sicherheit brauchen – und sei es nur als Kühlerfigur.

Dirk Ruschmann
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