Heute stimmt die Schweiz über die Erbschaftssteuer ab, das Votum wird emotional debattiert. Eine viel folgenschwerere Steuerentscheidung findet dagegen kaum Beachtung: Vor 100 Jahren wurde die erste direkte Bundessteuer eingeführt. Dabei hat sie das Gesicht der Schweiz drastischer verändert, als vielen bewusst ist. Und während die Erbschaftssteuer höchstwahrscheinlich scheitert, fand die radikale Kehrtwende am 6. Juni 1915 breite Annahme des Volkes. 94 Prozent der Stimmbürger sagten ja, weder vorher noch nachher gab es jemals eine so hohe Zustimmung.

Der Grund: Die Schweiz hatte im Ersten Weltkrieg zu wenig Mittel für ihre Verteidigung. Die wohlhabenden Bürger sahen ein, dass sie einen Teil der Kriegslasten schultern mussten. Sie stimmten der Steuer zu, in der Annahme, dass es bei der einmaligen Zahlung in Kriegszeiten bleiben würde. Falsch gedacht: Aus der temporären Abgabe gingen die direkten Bundessteuern und die Eidgenössische Steuerverwaltung hervor.

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«Historische Zäsur»

«Die Kriegssteuer im Ersten Weltkrieg war eine historische Zäsur», bestätigt Gisela Hürlimann, Historikerin an der ETH und der Universität Zürich und Expertin für die Geschichte der Schweizer Bundessteuern. «Es war die erste direkte Steuer, die der Bundesstaat erhoben hat.» Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Bund zu einem grossen Teil über Zolleinnahmen finanziert. Einkommens- und Vermögenssteuern waren den Kantonen vorbehalten.

Durch den Steuerkompromiss von 1848 blieben die Aufgaben des Staates lange Zeit eng begrenzt. «In der Schweiz war der Bundesstaat bis ins späte 19. Jahrhundert nebst dem Zoll-, Post- und Münzwesen vor allem fürs Militär zuständig», erklärt Gisela Hürlimann. Und auch wenn in den Jahren vor dem Krieg einige Aufgaben dazu gekommen waren, so blieb doch die Mehrzahl der staatlichen Angelegenheiten bei den Kantonen.

Krieg lässt die Zolleinnahmen wegbrechen

Der Ausbruch des Weltkrieges brachte den Bund somit in eine schwierige Situation. Einerseits mussten die Ausgaben für die Landesverteidigung und auch für die Versorgung stark erhöht werden. Und andererseits brachen die Zolleinnahmen durch den Krieg in den Nachbarländern massiv ein. Die Schweiz konnte sich der damaligen Diskussion um direkte Steuern auf nationaler Ebene nicht mehr entziehen.

Eine progressive Steuer auf Bundesebene stand für die Linken in der Schweiz schon länger auf der Tagesordnung. Doch alle Versuche eine Bundessteuer für den regulären Betrieb einzuführen waren gescheitert. Während die USA (1913) und Frankreich (1914) Einkommenssteuern einführten, blieb die Finanzierung des Bundesstaates weiter offen.

«Aufruf an das Schweizervolk»

Wie knapp das Budget der Schweiz war, zeigt ein «Aufruf an das Schweizervolk» aus dem Jahr 1913. In dem Brief riefen Politiker und Militärs dazu auf, Geld zu spenden, um eine Luftwaffe aufzustellen. Das Flugzeug sei zu einer unentbehrlichen Waffe geworden, schrieben sie. Doch die Schweiz habe sich wegen der Inanspruchnahme des Bundes für die Militärausgaben keine Flugzeuge beschaffen können. Die Offiziergesellschaft habe deshalb «beschlossen, die allgemeine Nationalsammlung für die Militäraviatik ungesäumt einzuleiten».

Die Einführung der Kriegssteuer im Jahr 1915 stiess vor diesem Hintergrund auf breite Akzeptanz. «Sämtliche politische Lager waren sich einig, dass die Steuer gerecht ist, weil der Erste Weltkrieg der breiten Bevölkerung grosse Opfer abverlangte», sagt Gisela Hürlimann. Die Menschen litten während dem Krieg unter Lebensmittelknappheit, Arbeitslosigkeit und einer hohen Inflation. «Auch das bürgerliche Lager war mit der Steuer einverstanden, unter der Bedingung, dass es eine temporäre Massnahme bleibt», so Hürlimann. Mit mehr als 94 Prozent Ja-Stimmen hat die Vorlage auch beim Volk einen bis heute gültigen Rekord aufgestellt.

Wenig Widerstand zwischen 1915 und 1945

«Dass sich die Steuer später verfestigen würde, war damals nicht vorauszusehen», sagt Gisela Hürlimann. Entscheidend dafür war, dass die Krisensituation nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nicht zu Ende war. Nach Kriegsende 1918 sass die Schweiz auf enormen Schulden. Gleichzeitig führten soziale Spannungen zum Landesstreik. In der aufgeheizten Stimmung erschien 1919 eine Erneuerung der «einmaligen Kriegssteuer» als guter Kompromiss. Weitere Sondersteuern kamen in den folgenden Jahren dazu.

«Zwischen 1915 und 1945 gab es nicht viel Widerstand gegen die immer als ‹ausserordentlich› etikettierten direkten Bundessteuern», sagt Hürlimann. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahm die Debatte eine neue Wendung. So brauchte es mehrere Versuche, bis die Wehrsteuer 1958 verfassungsmässig verankert werden konnte. Erst als die Besteuerung des Vermögens gestrichen und die Laufzeit auf sechs Jahre beschränkt wurde, hatte die Vorlage eine Chance.

Die «siamesischen Zwillinge»

Erreicht habe man die Akzeptanz aber auch durch einen neuerlichen Kompromiss, der in einer Kopplung von Warenumsatzsteuer und Wehrsteuer bestand, so Hürlimann. «Man sprach damals von den siamesischen Zwillingen, die beide sterben würden, wenn man einen wegnimmt.» Die beiden Steuern sind unter den heutigen Namen Bundessteuer (seit 1982) und Mehrwertsteuer (1995) immer noch die Hauptpfeiler des Staates und machen je etwa 30 Prozent seiner Einnahmen aus.

Dass der Bund selber direkte Steuern erheben darf, hat das Gesicht der Schweiz grundlegend verändert. «Die Kantone wurden laufend abhängiger vom Bund. Sie erhoben für ihn die direkte Bundessteuer, konnten einen Teil behalten und wurden durch Finanzausgleich wie Subventionen an Steuermitteln beteilligt», erklärt Hürlimann. Zudem übernahm der Bund immer mehr Aufgaben, zum Beispiel den Bau von Strassen aber auch die Unterstützung von strukturschwachen Regionen oder der Landwirtschaft.

Harmonisierungs-Diskussion weicht Akzeptanz für Steuerwettbewerb

Projekte, die direkte Bundessteuer wieder abzuschaffen, sind gescheitert. «Sie kommen nicht durch, weil einfach zu viele Interessen mit dieser Steuer verbunden sind.» Ebenso chancenlos waren indes auch Bestrebungen den Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen zu beenden, indem etwa die Kantonalen Einkommens- und Vermögenssteuern auf den Bund übertragen würden. Diese radikale Harmonisierungs-Diskussion aus den 1970er Jahren sei einer breiten Akzeptanz für den Steuerwettbewerb gewichen, glaubt Hürlimann.

Von der ehemaligen Wehrsteuer ist in der heutigen Bundessteuer nur noch wenig zu spüren. Längst macht die Landesverteidigung nur noch einen kleinen Teil des Staatshaushalts aus. Und obwohl die Abgabenbelastung seit 1915 insgesamt zugenommen habe - seit den 1980ern allerdings bei Sozialabgaben, Gebühren und indirekten Steuern mehr als durch direkte Steuern -, «kann man die Leistung von damals überhaupt nicht mit dem vergleichen, was man heute für sein Geld erhält», so Hürlimann.

«Lebensqualität und Wohlstand»

Daran hat der verschärfte Steuerwettbewerb bis vor Kurzem wenig geändert. Und dies obwohl sich der Bund mit den Unternehmenssteuerreformen (USR) von 1997 und 2008 gewissermassen auf diesen Wettbewerb eingelassen habe, sagt Hürlimann. «Der Steuerwettbewerb ging so lange auf, wie man irgendwo neues Steuersubstrat rekrutieren konnte.» Ob das für andere Länder gerecht sei, stehe auf einem anderen Blatt. In jüngster Zeit fahren Steuerwettbewerber wie Luzern oder sogar Zug jedoch Defizite ein und erlassen Sparprogramme. Trotzdem sei die Schweiz in diesem Sinn wohl tatsächlich ein spezieller Fall, sagt die Historikerin: «Hier hat es trotz des Steuerwettbewerbs keinen Kahlschlag in der Sozialpolitik gegeben.»

Was aus ihrem Entscheid alles erwachsen würde, hätten sich die Bürger im Juni 1915 nicht in ihren kühnsten Träumen ausmalen können. Doch obwohl sich das Steuersystem der Schweiz auf verschlungenen Pfaden etabliert hat, ist das Ergebnis mit Blick auf den Erfog der Schweiz gar nicht schlecht ausgefallen. Für Gisela Hürlimann ist klar: «Die ganze Lebensqualität, der hohe Wohlstand, hat sehr viel mit öffentlichen Leistungen zu tun, hinter denen Steuermittel stehen».