Die Vorschusslorbeeren oder der seltene Verriss für einen Bordeaux-Jahrgang werden bei den Primeur-Verkostungen verteilt. Zu einer Zeit, wenn die Weine noch in den Barriques reifen und sich künftige Grösse oder Fehler erst erahnen lassen.
Die Arrivage im zweiten Jahr nach der Ernte zeichnet ein präziseres Bild von der Güte eines Jahrgangs, denn dann sind die Weine abgefüllt und werden geliefert. Die Verkostung zehn Jahre nach der Ernte schafft Tatsachen.
Bilderbuchsommer mit Trockenphasen
Der Witterungsverlauf entscheidet viel. Waren es früher regnerischer Sommer, ist heute Hitze und Trockenheit gefürchtet. Wassermangel kann die Traubenreife verzögern, starke Hitze zu sonnenverbrannten Beeren führen.
Im Jahr 2015 profitierten die Reben von ausreichend Niederschlägen im Winter und einem warmen, sonnigen April. Auch wenn der Sommer eher trocken war, durch Regen im August wurde die Reife beschleunigt und das Wassermanko wettgemacht. Warme Tage und kühle Nächte bewahrten die Säure in den Beeren und ermöglichten eine gute Tanninreife.

Château Pontet Canet in Pauillac. Jede Sorte, die Trauben jeder einzelnen Parzelle wird separat vinifiziert und gärt auf in grossen Holzfässern auf der Maische.
Regionale Unterschiede
Pech hatte Saint-Estèphe im nördlichen Médoc. Dort schüttete es Mitte September 2015 wie aus Kübeln. Wobei das nicht alle Produzenten als Katastrophe sahen: Der Regenguss hätte die hohe Konzentration der Beereninhaltsstoffe ein wenig entschärft und für klassische 13,5 Volumenprozent Alkohol gesorgt, wurde mir kürzlich an einer Verkostung erklärt.
Bordeaux für Anfänger und alte Hasen
Bordeaux 2015 macht darum so viel Freude, weil die Unterschiede der Appellationen geradezu bilderbuchmässig sind. Wer sich für Bordeaux zu interessieren beginnt, kann jetzt aus dem vollen Schöpfen, weil viele Weine schon zugänglich sind. Und es gibt nichts Schöneres, als jedes Jahr aus dem Vorrat eine Flasche zu öffnen und die Entwicklung der Weine nachzuverfolgen.
Am rechten Ufer begeistern Weine mit einem höheren Anteil Cabernet Franc in der Cuvée wie L'Evangile (Pomerol) oder Angélus (Saint-Émilion). Die kompakte, frische Frucht in der Nase und die Balance zwischen Kraft und Eleganz am Gaumen ist grossartig. Ein hoher Merlot-Anteil wie bei Troplong Mondot und La Mondotte (beides Saint-Émilion) sorgt 2015 für viel tiefgründige dunkle Frucht, die griffigen Tannine garantieren Reifepotenzial.

Château Pichon Baron in Pauillac gehört wie Château Pichon Comtesse de Lalande zu den 2ème Grand Cru Classé des Médoc.
Klassisches Médoc
Château Palmer und Brane-Cantenac versinnbildlichen die verspielte Finesse von Margaux. Bei Château Talbot (Saint-Julien) gefallen die klare Cassis-Frucht, die feinen balsamischen Noten von Lakritze und Vanille sowie das präsente, aber seidige Tannin. Talbot und Brane-Cantenac sind auch preislich gesehen eine Freude. Der Flaschenpreis liegt bei beiden Crus unter 80 Franken.
Der kräftige, dunkelfruchtige Pontet-Canet (Pauillac) mit der engmaschigen Tanninstruktur hat viel Reifepotenzial. Ein grosser Wurf ist Winemaker Nicolas Glumineau auf Château Pichon Comtesse de Lalande (Pauillac) gelungen: Die komplexe Frucht-Aromatik von reifen Waldbeeren, das präzise Tannin und die saftige, gut eingebundene Säure am Gaumen machen den 2015er zum Klassiker.
Zu den Must Buys gehört auf jeden Fall Château Montrose (Saint-Estèphe): Reife Cassis, Zwetschgen, dunkle Schokolade in der Nase. Am Gaumen kraftvoll, mit reifen, präsenten Tanninen, auf die eine Länge gebende, ätherische Frische folgt.
