Allem emanzipatorischen Effort und Scheidungen wegen «unüberbrückbarer Differenzen» zum Trotz: Wir schreiben das Jahr 2024, und geheiratet wird immer noch. Der Bund fürs Leben liegt sogar wieder im Trend – zumindest zeigt die Kurve der hiesigen Eheschliessungsstatistik seit 2019 nach oben.
Gefeiert wird äusserst zeitgemäss. Kirchliche Trauungen sind zu religiös und zu konformistisch, deswegen setzt die neue heiratsfreudige Generation auf freie Zeremonien – nicht nur, um die Heiratsstrafe zu umgehen, sondern auch, um neue Rituale nach eigenem Gusto kreieren zu können. Man zelebriert Liebesfeste oder Familiengründungsfeiern statt Hochzeiten. Wenn dann doch der Staat in Form der zivilen Trauung involviert wird, dann soll im Anschluss daran ein Fest gefeiert werden, das möglichst nicht wie eine Hochzeit aussieht. Interessant dazu ein Bericht von Pinterest: Im vergangenen Jahr seien die Suchanfragen nach «nichttraditionellen Brautkleidern» auf der Plattform um 110 Prozent gestiegen, der Begriff «Anti-Braut» um 480 Prozent. Das neue Leitmotiv für Hochzeiten anno 2024 ist nämlich «The Non-Wedding Wedding» oder «The Un-Wedding» – eine grandiose Feier, die nicht Traditionen folgt, sondern die Einzigartigkeit des Paares widerspiegelt.
Vom Ball zur Bar
Prunkvolle Ball- und Kursäle mit holzvertäfelten Wänden, stuckverzierten Decken und Fischgrätparkett – für viele eine Traumkulisse. Doch unter dem Un-Wedding-Ethos erklären Brautpaare zunehmend Orte zum Zentrum der Liebe, bei denen man es auf den ersten Blick gar nicht vermuten würde. Der Bezug zum persönlichen Leben ist entscheidender als Romantik. Warum also nicht nach dem Standesamt in die Altstadtkneipe des Vertrauens spazieren und mit den engsten Freunden und Verwandten den geliebten Pub-Burger verdrücken? Das eigene Logo auf dem Karton darf natürlich nicht fehlen. Die Hochzeit kann auch rund um die Uhr gefeiert werden. Der gediegene Hochzeitsbrunch im Gartenatelier mit Pancakes, Mimosas und Omelettes aux truffes macht sich auf Fotos ebenso gut wie die Party bis spät in die Nacht. Feinschmecker-Brautpaare haben in der Showküche beim Zubereiten des Hochzeitsmenüs im kleinen Kreis fast mehr Spass als beim Verspeisen. Hochzeiten sind immer weniger durchstrukturiert und -programmiert, die Atmosphäre ist entspannt, von Kellnern servierte Mikroportionen müssen nicht sein, das Essen wird «family-style» über den Tisch gereicht. Bref: Abenteuerlust ist in, aufgezwungene Formalität ist out.
Plattformen wie Airbnb und Robin Room bewerben – ganz nach dem Un-Wedding-Mantra – Fotostudios, Lagerhallen und Poolhäuser als Hochzeitslocations. Die Preise für diese atypischen Räumlichkeiten sind vergleichsweise niedrig – auch deshalb, weil traditionelle Lokalitäten mit der sogenannten Wedding Tax belegt sind, einem Aufschlag, der für alles gilt, was mit Hochzeiten zu tun hat.
Hochzeitsplanerin Evelyne Schärer hält jedoch die Wahl einer traditionellen Hochzeitslocation durchaus für sinnvoll. Denn von über 600 Hochzeiten und mehr als 900 Beratungsgesprächen weiss die Expertin: «Was bei Bar, Fotostudio und Co. an Miete gespart wird, geht an Zeit und Nerven verloren.» In Räumlichkeiten, die nicht per se auf Hochzeiten oder Grossveranstaltungen ausgerichtet sind, fehlt es an Infrastruktur, entsprechend geschultem Personal usw. Die logistische Herausforderung, warmes Essen, Musikanlage und Tanzfläche in einen nicht dafür vorgesehenen Raum zu bringen, «wird stark unterschätzt».
Zudem seien Hochzeiten für die Raumanbieter ein Verlustgeschäft und, so Schärer, «der blanke Horror». Man denke nur an die Hunderte von E-Mails mit detaillierten Anforderungen und unzähligen Fragen, die professionelle Raumvermieter Amateur-Eventplanern respektive Brautpaaren beantworten müssen – ohne diesen «unsichtbaren» Aufwand verrechnen zu können. So manche Hochzeitslocation in der Schweiz vergibt die Räume nur über den Hochzeitsplaner – der geübt, gelassen und effizient dem Raumanbieter gegenübertritt.
Im Ausland ist die Hochzeitsplanung vielerorts bereits im Pauschalangebot inbegriffen. Da ist die kleine Schweiz gut aufgestellt, denn gerade die Nachbarländer sind wahre Meister im Hochzeitsgeschäft und beliebte Destinationen für «Destination Weddings»: Ein rustikales Weingut im Bordelais, ein herrschaftliches Anwesen in der Toskana wie im Film, dazu herrliches Wetter und noch herrlicheres Essen – bei solchen Kulissen und dem mitgelieferten Ferienflair ist gute Stimmung vorprogrammiert. Destination Weddings seien zudem die ideale Gelegenheit, «sich auf das Wesentliche zu konzentrieren», sinniert Schärer. Die Frau des Cousins vierten Grades erträgt man für einen Abend, aber nicht ein ganzes Wochenende in Italien. Und so werden aus Destination Weddings automatisch Micro Weddings – kleine, aber feine, intime Feiern.
Social Media Glam
Ob im In- oder Ausland, im Ballsaal oder an der Bar – Expertin Schärer rät, sich nicht in Details zu verlieren, sondern sich auf das Wesentliche zu besinnen. Dazu zählt sie gute Musik, gutes und massvolles Essen – «niemand will nach dem Apéro ein Sechs-Gänge-Menü kredenzt haben» – und das Wichtigste: eine ausführliche Dokumentation. Fotos sind gut, ein Film noch besser. «Der Tag vergeht wie im Flug, aber Fotos und Filme bleiben fürs Leben», sagt Schärer und plädiert dafür, beim Fotografen nicht zu sparen. Neu ist statt inszenierter und gestellter Hochzeits-Shootings mehr «Fly on the wall»-Fotografie gefragt – Schnappschüsse und Detailaufnahmen, unverfälscht eingefangen, wie wenn die Kamera von einer Fliege an der Wand bedient würde.
Über so manche Wünsche von Paaren kann die Planerin nur die Stirn runzeln. Bestickte Servietten, handgeschriebene Tischkarten oder «Goodie Bags» für die Gäste, die nach der Feier sowieso liegen bleiben – «den Schnickschnack kann man sich wirklich sparen», denn nach der Feier erinnere sich niemand mehr daran. Auch sei vieles, was jetzt wieder in Mode kommt, nur Recycling. Beispiel Champagnertürme – «das haben wir schon vor zwanzig Jahren gemacht», sagt Schärer und erinnert daran, dass «niemand, der etwas von Champagner versteht, das jemals machen würde». Aber das Foto, auch wenn in den weiten Gläsern die ganze Perlage verschwindet und bei passionierten Champagnertrinkern für Empörung sorgt, sieht einfach toll aus. «Neumodische Wedding Creators treiben den unpraktischen Glitzer und Glamour in den sozialen Medien auf die Spitze», so Schärer. Über TikTok und andere Plattformen wird die hiesige Hochzeitsindustrie zunehmend infiltriert und amerikanisiert – zum Bedauern Schärers, die nichts von aufgesetzter Mode hält: «Man schaue sich nur die riesige Entourage von Brautjungfern und Junggesellen an, die uniformiert neben dem Brautpaar stehen.»
Raffinierte Braut
Dresscodes werden jedoch an nichttraditionellen Hochzeiten immer höher bewertet – die Gäste sollen fabelhaft aussehen und mit ihrer Garderobe die Vision der einzigartigen Feier unterstreichen und nicht dagegenwirken. Was jedoch die moderne Braut betrifft, für sie gilt neu schlichte Eleganz ohne Schnickschnack statt, wie früher, «je grösser die Puffärmel, desto erfolgreicher die Hochzeit». Eher voluminöse Kleider, die einen ganzen Fiat Cinquecento ausfüllen, sind zwar immer noch gefragt, aber «an den Kleidern passiert nicht mehr viel», sagt Rahel Hess, Besitzerin eines Brautmodegeschäfts. Wer ihren Laden – mit passendem Namen Hera – in der Nähe des Zürcher Helvetiaplatzes betritt, ist umgeben von cremeweisser, fliessender Schlichtheit – von Spitze keine oder nur kleine Spuren. Wo früher aufwendige Verzierungen in Form von Stickereien und Häkelarbeiten die Brautkleider prägten, stünden heute Schnitt und Stoff im Vordergrund.
Doch die Dramatik, die die Brautmode verlassen hat, ist bei Anzug, Krawatte und Fliege eingezogen. Der klassische Smoking ist natürlich zeitlos, aber heute will der Bräutigam mit markanter Brosche, einer ungewöhnlichen Farbe wie Smaragdgrün oder mit zur Braut passendem weissem Sakko ein persönliches Flair verbreiten. Auch die Stoffe und Muster werden extravaganter: Samtanzüge mit seidigem Reverskragen, ein von Kopf bis Fuss plissierter Smoking oder florale Muster – beim Tenue des Bräutigams, der sonst nicht so viel Spielraum hat, ist die Abenteuerlust üblicher.
Die erstrebenswerte Optik bei Bräuten ist jedoch Anmut und Noblesse. Um diesen herrschaftlichen Look zu erzielen, wird auch mit und nicht gegen die Figur gearbeitet – dafür sorgt die ehrliche Beratung von Hess –, und schwere Stoffe wie Mikado-Seide kommen eher zum Zug als verspieltes Tüll. Den Trend zur subtilen Eleganz hat die studierte Mode- und Designmanagerin schon vor einigen Jahren erkannt, als der verspielte Boho-Look noch angesagt war. Hess’ Laden ist bewusst eher klein und fein gehalten, genau wie ihr Sortiment. Über die Anprobe sagt Hess: «Es ist ein sehr emotionaler Prozess.» Sie will ein persönliches Erlebnis schaffen, keine laute Shopping-Mall-Atmosphäre mit grossen Flächen und noch grösserer Lauferei.
Neben herrschaftlichen Kleidern bietet der Laden von Hess natürlich auch allerhand für Mode-Minimalistinnen: schlanke, skulpturale Silhouetten – für diejenigen, die nicht verkleidet aussehen wollen. Minimale Brautkleider sind zudem praktisch, denn das Stehen, Sitzen und Laufen in einer acht Kilo schweren Robe sorgt für manchen unwohligen Gesichtsausdruck auf den Fotos.
Wer allerdings wegen des Preisschildes auf Dramatik und Theatralik verzichten will, könnte enttäuscht werden. Denn schlichte Brautmode ist nicht unbedingt preiswerter, zumal dort umso mehr Wert auf hochwertige Materialien und gute Verarbeitung gelegt wird. Bei Hera beginnen die Preise für ein Kleid bei 2500 Franken und reichen bis zu 6000 Franken, wobei die Anpassung beim Hochzeitsschneider von durchschnittlich 500 Franken noch nicht eingerechnet ist. Hinzu kommen die Kosten für Make-up und Frisur. Zwar ersetzt auch hier die schlichte Eleganz die Extravaganz – statt der aufwendigen asymmetrischen Hochsteckfrisur gibt es nun den schlichten Chignon, der für das gewisse Etwas mit einem Gucci-Haarclip aus Perlmutt befestigt wird – aber der Preis bleibt letztlich der gleiche.
Neue Nostalgie
Fürs Budget und für die Besonderheit geht die zeitgeistige Braut dann einen anderen Weg: Stichwort Vintage, Secondhand oder «Pre-Loved». Unzählige Videos auf TikTok zeigen, wie Mamas Kleid aus den 70er Jahren zu etwas Neuem umgenäht wird. Auf Plattformen wie Still White und Vestiaire Collective können ökonomisch denkende Design- und Vintageliebhaber auch bereits getragene Vera-Wang- oder Vivienne-Westwood-Roben neu erstrahlen lassen. Und dann gibt es noch diejenigen Anti-Bräute, die dem Tamtam gar nicht folgen und zum Minikleid oder Hosenanzug greifen – und statt in Weiss kleidet sich die Braut, die sich traut, in Pastellblau oder Hellgelb.
Doch wer sich während der ohnehin stressigen Hochzeitsplanung auch noch den Kopf über die Farbe des Kleides zerbrechen muss, für den ist die Un-Wedding-Mission schnell beendet: So schlecht waren die Spielregeln früher auch nicht. Einzigartigkeit hat eben ihren Preis. Nicht jeder ist bereit, ihn zu bezahlen. So wird ein Umdenken eingeleitet: Das kirchlich vorgeschriebene Eheversprechen erlöst von der Schreibblockade, die immer wieder den Versuch sabotiert, die eigene originelle Liebesgeschichte zu verbalisieren. Die Tischordnung ist statt des Flying Dinners plötzlich willkommen an einem sowieso schon chaotischen und nervenaufreibenden Tag. Und man realisiert, dass man das Hochzeitsrad auch nicht neu erfindet, wenn man statt der guten alten Torte irgendein schräges Dessert serviert. Das Schöne ist, dass Hochzeiten so gefeiert werden können, wie man will – mit ganz neuen Ritualen oder mit neuer Wertschätzung für alte Traditionen.