Es dauert ungefähr drei Sekunden, dann bin ich enttarnt. «Das war Thorsten», ruft meine Kollegin voller Inbrunst in den Chatraum, nachdem ich mich mit einem «Schön dass wir endlich mal offen reden können» dazugesellt habe. Als wir dann zu viert sind, versuchen wir es nochmal. «Haben wir ein Thema?», fragt Weinrot in den Raum. «Ok, eindeutig, wer das war», antwortet Violett etwas schnippig. Wir versuchen es mit einer kurzen Debatte zum Thema Sauberkeit am Arbeitsplatz. Aber die Kommentare bleiben verhalten, so richtig sicher scheint sich niemand zu fühlen. Fazit: Erster Anlauf eindeutig gescheitert. Dabei sollte Rumr uns die Möglichkeit geben, mal so richtig vom Leder zu ziehen, ohne direkt den Job zu riskieren.
Bis zu 100 Teilnehmer kann ein Rumr-Chat haben, je mehr, desto anonymer (die Schwelle zur Anonymität liegt angeblich bei vier oder fünf Chattern). Zwar kann jeder einsehen, wer an der Gesprächsrunde teilnimmt. Aber wer was sagt, bleibt, zumindest in der Theorie, im Dunkeln. Denn im Chatfenster tauchen keine Namen, sondern nur verschiedenfarbige Gesprächsblasen auf. Mit jedem, der sich in einen Chat neu einwählt, werden die Farben neu gemischt. Motto der App: «Mach das Licht aus». Zugegeben, das Bild ist etwas schief. Aber Rumr will Erinnerungen wecken an Pyjamaparties und Zeltnächte, in denen es sich auch viel leichter Geheimnisse austauschen liess, nachdem die Taschenlampe aus war.
Investoren waren schnell überzeugt
Die Gründer argumentieren, die App helfe zum Beispiel Kollegen, sich über die Kultur im Unternehmen auszutauschen und Feedback zu geben, ohne Angst vor Repressionen haben zu müssen. Auch Blattkritiken und Familienräte sollen dank Rumr künftig offener und fairer werden, Diskussion in der Schule sicherer. Die Investoren überzeugte das (wie derzeit jede App, auf der der Stempel «Anonymität» klebt): 800'000 Dollar hatte das Start-up schon gesammelt, als es die App noch gar nicht gab, unter anderem von Google.
Aber mal im Ernst: Die App heisst «Rumr», nicht «Bewertungsportal für den Arbeitsplatz». Letztlich dürfte die App also wie ihre Verwandten – von Snapchat über Secret bis Whisper – für die weniger schönen, weniger offiziellen Dinge im Leben genutzt werden. Und die Entwickler dürften kaum so naiv sein zu glauben, mit der Anonymität und dem Vernichten von Spuren nicht genau das zu fördern (insgeheim ist ihnen das vermutlich sogar recht, schliesslich ist die Konkurrenz damit ja überaus erfolgreich).
Spätestens seit den Kommentarfunktionen in Online-Portalen gehört es zum common sense, dass Anonymität vor allem Fiesheiten fördert und Trolle anzieht. Im Schutz der digitalen Dunkelheit wagen sie sich aus den Löchern, um Tiefschläge zu versetzen und Frust abzubauen. Rumr, schrieb das Tech-Blog Pando sogar, sei «ruchloser als alles andere was es derzeit da draussen gibt», «unser schlimmster Albtraum» und ein «digitales Scharfschützengewehr», weil es die Anonymität in den eigenen sozialen Zirkel hole und ganze Gruppen aufeinander hetzen könne.
Ganz so einfach ist das mit dem Publikum noch nicht
Gründer James Jerlecki verspricht dagegen, die verhältnismässig kleinen Gruppen bei Rumr und die Tatsache, dass man ja eben doch nicht ganz anonym, sondern immer noch mit dem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis chattet, würden Cyber-Bullying wie auf Ask.fm und Co. verhindern. Schliesslich schicke man seine Nachrichten an ein Publikum, mit dem man etwas gemeinsam habe – und das einem im Idealfall wohlgesonnen ist.
Ganz so einfach ist das aber, zumindest derzeit, mit dem Publikum noch nicht. Denn bislang ist bei der erst vor wenigen Wochen gestarteten App kaum jemand an Bord. Bei mir sind es tatsächlich nur die Kollegen im Büro, und das auch nur, weil ich sie für diesen Text gezwungen habe. Ansonsten durchforstet Rumr mein Adressbuch vergeblich nach Nutzern. Und die Freunde, denen die App meine Chat-Einladung per Sms schickt, fragen nur zurück: «Ist das Spam?» Möglicherweise hat die Blase der Anonymisierungs-Apps mit Rumr ihren Höhepunkt bereits überschritten - und in Zukunft zeigen wir wieder öfter unser wahres Gesicht.
Seit Ende März ist die App am Start, es gibt sie gratis für iPhone und Adroid. Nach Angaben von Rumr bald auch im deutschsprachigen Raum.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Bold Economy – das umfassende Nachrichtenportal zur digitalen Revolution.