Wer Europas wirtschaftliches Rückgrat sucht, muss von der Nordsee entlang des Rheins über die Alpen bis nach Norditalien reisen. Etwa 70 Millionen Menschen leben an der Achse Rotterdam-Duisburg-Basel-Genua. Dort sind die Regionen mit der höchsten Wertschöpfung und grössten Siedlungsdichte Europas. Zwischen Rotterdam und Genua, neben der Wasserstrasse Rhein, verläuft auf 1400 Kilometern die wichtigste Güterbahn-Trasse des Kontinents. Mehr als 700 Millionen Tonnen Fracht rollen auf diesen Gleisen, mehr als die Hälfe der gesamten Nord-Süd-Fracht der EU.
Zuletzt waren die Wachstumsraten Jahr für Jahr zweistellig. Dem rasanten Wachstum steht in Zukunft auch das Verkehrshindernis Nummer eins in Europa, die Alpen, nicht mehr im Weg. Mit dem neu gebauten Eisenbahntunnel unter dem Gotthard-Massiv in der Schweiz kann der Verkehr auf der wirtschaftlichen Hauptschlagader künftig noch weit flüssiger abgewickelt werden.
Fast doppelt so viele Güterzüge möglich
Die Gleise durch den neuen Gotthard liegen nun deutlich flacher als die durch den 1882 eröffneten alten Tunnel. Künftig können deshalb längere, schwerere und mehr Güterzüge durch den mit 57 Kilometern längsten Eisenbahntunnel der Welt fahren - mit dem Fahrplanwechsel zum Jahresende pro Stunde und Richtung fast doppelt so viele wie heute. Statt zwei Loks wird für schwere Züge künftig nur noch eine gebraucht. Ab 2020 sollen mit dem vollständigen Ausbau Güterzüge bis zu 2000 Tonnen transportieren können statt bislang rund 1600 Tonnen.
Die Deutsche Bahn, einer der Hauptnutzer der Trasse, fährt jährlich 9000 Züge durch die Schweiz, vor allem durch den Gotthard. Für Bahn-Chef Rüdiger Grube ist der Neubau deshalb von grösster Bedeutung: «Der neue Tunnel erhöht die Effizienz: Mehr Kapazitäten, grössere Auslastung, Zeitersparnis.» Ein dringend nötiger Effekt, denn der Staatskonzern kämpft wie fast alle seiner Konkurrenten mit Verlusten im Schienen-Gütergeschäft, vor allem in den Randregionen Europas. Die Nord-Süd-Strecke durch die Alpen ist da einer der wenigen Lichtblicke.
Hafen Rotterdam vor weiterem Wachstumsschub
Auch weit im Norden, in Europas grösstem Seehafen Rotterdam, hat man sich auf Wachstum eingestellt: Schon heute wickeln die Containerterminals dort jede Woche über 550 Güterzüge ab. Das Frachtgeschäft mit den Stahlkisten legt rasant zu. Der Hafen rechnet damit, dass es bis 2020 um die Hälfte zulegt, bis 2035 dürfte sich der Containerumschlag sogar versechsfachen.
Damit die Züge nach Süden und nach Deutschland kommen, haben die Niederlande bereits vor zehn Jahren ihre Eisenbahntrasse für knapp fünf Milliarden Euro modernisiert und ausgebaut. Sie ist, eine Seltenheit in Europa, ausschliesslich für den Güterverkehr konzipiert und wird inzwischen von über 450 Zügen in beiden Richtungen pro Tag genutzt.
Nadelöhr zwischen Emmerich und Oberhausen
Ab der deutschen Landesgrenze fahren die Züge nach Duisburg, Köln oder Mannheim dann aber meist vergleichsweise langsam: Denn zwischen Emmerich und Oberhausen ist ein Nadelöhr, das auch von Personenzügen genutzt wird. Erst in den nächsten Jahren soll die Trasse mit Milliarden-Aufwand aufgerüstet werden. Kritiker vor allem in den Niederlanden vermuteten sogar, dass Deutschland mit der Verzögerung vor allem den Hamburger Hafen als Konkurrenten Rotterdams schützen wollte. Von Hamburg und Bremen in Richtung Hannover und Würzburg verläuft die zweite grosse Nord-Süd-Trasse.
Aber auch weiter im Süden stockt es: Italien mit der Industrieregion um Mailand hat Nachhofbedarf und selbst in Süddeutschland ist es eng: Auf den knapp 200 Kilometer zwischen Karlsruhe und Basel soll die Strecke vierspurig ausgebaut werden, vor allem um den ICE-Verkehr von den langsamen Regional- und Güterzügen zu trennen. Gebaut wird schon seit Jahren, doch mit der Fertigstellung wird nicht vor 2030 gerechnet. Die Kosten werden sieben Milliarden Euro übersteigen.
Ein Grund, warum es langsam vorangeht, ist die Schattenseite des Güterverkehrs: Der Lärm der Züge treibt die Bürger seit Jahren auf die Barrikaden. Durch das Mittel-Rheintal rattern täglich bis zu 600 Züge, drei Viertel davon im Güterverkehr. Die Freude über den neuen Gotthard-Tunnel ist daher gering. Der Landrat des Rheingau-Taunus-Kreises, Burkhard Albers, etwa geht davon aus, dass künftig alle drei Minuten ein Zug vorbeidonnern könnte - rund um die Uhr. Denn der Güterverkehr ist vor allem nachts unterwegs, um den Personenzügen Platz zu lassen.
(reuters/ccr)
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Bundesrat Johann Schneider-Ammann zur Eröffnung des Gotthard-Basistunnels: