Nicole hat in den letzten drei Jahren zweimal die Stelle gewechselt. Sie hätte noch öfter neue Jobs antreten können. Seit die Texterin ihr Profil auf LinkedIn hochgeladen hat, erhält sie regelmässig Anfragen – von Headhuntern, HR-Verantwortlichen, ehemaligen Kollegen. Manchmal kommt es zum Interview, manchmal bleibt es beim kurzen Chat. Manchmal sind die Anfragen für ihr Profil auch total unpassend. Trotzdem hält sie dem Portal die Stange.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Denn Nicole ist Teil jener Arbeitsgeneration, für die soziale Netzwerke das Natürlichste der Welt sind. Einer Generation, der das Folgen, Teilen und Kommentieren in Fleisch und Blut übergegangen ist, für die das Internet wie Sauerstoff und das Smartphone wie ein Körperteil ist. Was mehr als drei Mausklicks braucht, wird ignoriert. Nicole ist die Generation, auf der Plattformen wie LinkedIn ihr Business der Zukunft bauen.

Wer kein Profil pflegt, macht sich verdächtig

Dieses Geschäft umfasst inzwischen über 400 Millionen Nutzer. Quartal für Quartal wächst die Basis um einen Fünftel. Im Rennen um die globale Vorherrschaft der Businessnetzwerke hat LinkedIn damit die Nase vorn. Doch das Portal gewinnt nicht nur in der Online-Welt an Bedeutung. Es löst auch fundamentale Veränderungen am Arbeitsmarkt aus. Im Schweizer Alltag macht sich dies bereits bemerkbar.

Schon heute gilt die Präsenz auf beruflichen Online-Netzwerken als Muss. «Ein gepflegtes Profil auf LinkedIn oder Xing ist wie eine Visitenkarte. Wer keines hat, ist für Rekrutierer schon fast suspekt», sagt Raphael Ineichen, Managing Partner bei der Expert Group. Die Karriereberaterin Gabriele Schwieder empfiehlt Jobsuchenden, sich auf Online-Portalen zu vernetzen, dort Infos über Firmen einzuholen, andere Lebensläufe zu studieren, sich in Diskussionen einzuklinken. Kostenpflichtige Profile würden sich lohnen, sagt sie. «Es ist notwendig und auch möglich, die eigene Laufbahn selber zu gestalten. Dazu sollte man sich auf dem Arbeitsmarkt auskennen und versiert bewegen können.»

LinkedIn wird als wichtig erachtet, weil auch Unternehmen und Personalfirmen, die in deren Auftrag nach Mitarbeitern suchen, zunehmend auf der Plattform unterwegs sind. «Wir nutzen LinkedIn als Ressource zur Erweiterung unseres Kandidatenpools», sagt Nicolai Mikkelsen, Chef des Personaldienstleisters Michael Page in der Schweiz. «Unsere Berater kontaktieren Nutzer und fügen sie zur eigenen Datenbank hinzu.»

Nutzer werden gerne von Firmen umworben

Wer online nicht präsent ist, steht im Abseits. Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Firmen. Speziell grosse Unternehmen sehen sich gezwungen, auf LinkedIn aktiv zu sein, weil dessen Reichweite rund um den Globus geht. Eine Firma, die stark auf Business-Netzwerke setzt, ist die Credit Suisse. Offenbar mit Erfolg. Auf einer Popularitätsrangliste, die das Nutzerinteresse in der LinkedIn-Welt an einer bestimmten Firma misst, figuriert die Bank in der Schweiz auf Rang zwei – gleich hinter der UBS. Die Auswertung, die LinkedIn für die «Handelszeitung» erstellt hat, zeigt überdies an, dass in den vergangenen zwölf Monaten 1070 Nutzer in ihrem Profil einen Wechsel zur Credit Suisse eintrugen. Das ist der höchste Wert aller Schweizer Unternehmen überhaupt.

Interaktionen über Social Media seien wichtig, sagt Daniel Hippenmeyer, der bei der Bank den Bereich Experienced Talent Acquisition leitet und so der oberste Zuständige fürs Anwerben von Fachkräften ist. «LinkedIn ist einer der wichtigsten Kanäle für das aktive Sourcing von Mitarbeitern.» Gemeint ist die Idee, dass Firmen ihre potenziellen Mitarbeiter selbst angehen, statt passiv auf deren Bewerbungen zu warten. Aus dem Gespräch wird klar: Der HR-Begriff umschreibt einen wichtigen Grund, warum sich Firmen vermehrt auf Online-Kanälen tummeln.

«Bei der CS treffen Jahr für Jahr Tausende von Bewerbungen auf traditionell ausgeschriebene Jobs ein», erzählt Hippenmeyer. Nur ein Bruchteil werde berücksichtigt, was teilweise frustrierende Absagen zur Folge habe. Bei der Mitarbeitersuche über soziale Netzwerke falle dieser Frust weg. «Hier werden die Kontakte informell hergestellt, vielfach auch über das Netzwerk der Mitarbeiter.» Man habe mit Leuten, die auf diese Weise zur Credit Suisse gestossen sind, gute Erfahrungen gemacht, sagt Hippenmeyer.

LinkedIn ist für Firmen nicht gratis. Verträge werden einzeln ausgehandelt, Lizenzen gehen in die Zehntausende von Franken. Der Nutzen davon ist schwer zu beziffern. Eine Masszahl sind die Follower – die CS hat 376 000 von ihnen. Eine andere Zahl ist der Anteil der Anstellungen, die mit LinkedIn in Verbindung stehen. Dieser liege bereits im zweistelligen Bereich. Die Bank beschäftigt zudem rund 15 interne und externe «Sourcer». Sie knüpfen Kontakte, suchen das Gespräch mit Leuten, sammeln Profile.

Eine digitale Abbildung der Weltökonomie

Noch vor zwanzig Jahren galt es als Tabu, bei der Konkurrenz offen Mitarbeiter abzuwerben. Headhunter operierten verdeckt, mussten unter falschem Vorwand bei einer Firma anrufen oder umständlich das Sekretariat einer Universität aufsuchen, um die Listen von Studienabgängern zu erhalten. Portale wie LinkedIn haben diese Arbeit vereinfacht. Ökonomisch gesprochen ist der Arbeitsmarkt effizienter geworden.

Die Jobmesse findet heute online statt, rund um die Uhr und weltweit. Um sie am Laufen zu halten, hat LinkedIn in den letzten Jahren immer neue Features eingeführt. Empfehlungen nach dem Motto «Dieser Job könnte Sie interessieren» sind nur der Anfang. Hinter den Kulissen stehen den Firmen komplexe Suiten zur Verfügung, über die sie Kampagnen steuern (etwa zum spezifischen Ansprechen von weiblichen Führungskräften), Jobempfehlungen der Mitarbeiter an Dritte koordinieren oder Profile nach dem Motto «ähnlich wie Person X» suchen können.

9200 Angestellte arbeiten bei LinkedIn, viele davon als Programmierer. Laufend wird an der künstlichen Intelligenz und an Algorithmen zur Organisation von Nutzerdaten gefeilt. Anders als etwa Xing schreibt die Firma allerdings noch immer rote Zahlen. Der Verlust im Jahr 2015 betrug 166 Millionen Dollar, dies trotz Milliardenerlösen über Mitgliedergebühren, Abos für Rekrutierer und Werbeeinnahmen.

Trotzdem geht das Rollout neuer Funktionen unvermindert weiter. Auf der Plattform findet sich eine Jobdatenbank, die laufend Websites von Firmen durchkämmt. Es gibt Newsfeeds und Bloggingtools, um die Nutzer zur Selbstvermarktung zu animieren. LinkedIn hofft, dass mit der Aktivität auch die Relevanz des Portals steigt.

Doch die ultimative Big-Data-Anwendung ist der «Economic Graph». Es handelt sich um eine Datenstruktur, die nichts weniger abbilden will als die Weltwirtschaft in ihrer Gesamtheit. Wichtige Elemente sind bereits in den Daten von LinkedIn enthalten: Jede Firma des Planeten, jede Arbeitskraft, jeder offene Job, jede für den Job notwendige Fähigkeit und jede Bildungsinstitution, die diese Fähigkeit vermitteln kann, könnte dereinst in der Datenbank vereint sein.

Das klingt einigermassen furchterregend für die Gesellschaft. Vorerst begnügt sich LinkedIn mit Auswertungen im allgemeinen Interesse. «Der Economic Graph kann Staaten helfen, Bildungslücken in der Volkswirtschaft zu identifizieren», sagt Lutz Finger, Chef des Analytics-Bereichs bei LinkedIn. «Unternehmen können ermitteln, inwiefern Bedarf für Mitarbeiterschulungen besteht, und Universitäten können ihr Curriculum optimieren.»

Der Gewinner bekommt den ganzen Kuchen

Noch gehen manche der Auswertungen, die Finger für Länder wie die Schweiz erstellen kann, nicht weit übers Allgemeinwissen hinaus. So lässt sich aus LinkedIn-Daten etwa ablesen, dass Schweizer oft mehrsprachig sind oder dass hierzulande ein Wissenspool in der Pharmazie existiert. Doch die Analyse fördert auch Überraschendes zutage. Etwa, dass viele Arbeitskräfte aus der Schweiz in Länder wie die Arabischen Emirate, nach Hongkong oder Singapur auswandern (siehe Grafik). Oder dass Manager in Marketingabteilungen offenbar auf der Hut sein müssen. Die Daten zeigen nämlich, dass Arbeitskräfte mit der Fähigkeit «Social Media Marketing» letztes Jahr doppelt so oft den Job wechselten wie Leute mit Skills in Werkstofftechnik.

Der Wirtschaftsgraph steckt noch in den Kinderschuhen – ebenso wie andere Tools etwas unausgegoren wirken. Was sich etwa an der Empfehlung für eine Stelle bei Novartis an die Adresse eines Journalisten zeigt oder daran, dass manche IT-Spezialisten auf LinkedIn fast schon mit Anfragen zugemüllt werden.

Die schiere Masse der Möglichkeiten lässt jedoch erahnen, warum Experten glauben, dass die Konkurrenz gegen LinkedIn einen immer schwereren Stand haben wird. Als Nachteil von Xing gilt etwa, dass es nur im deutschsprachigen Raum bekannt ist. Die vielen Jobportale, die den Markt in einzelnen Ländern zuletzt beackert haben (jobscout24.ch, jobs.ch usw.) können der Programmierpower von Firmen wie LinkedIn ihrerseits wenig entgegenhalten. Ihre Bedeutung werde schwinden, sagen Branchenkenner.

Auch Headhunter müssen Acht geben, nicht links liegen gelassen zu werden. Noch werden die Algorithmen von LinkedIn gerne belächelt. «Speziell für High-End-Jobs ist das Matching noch nicht optimal», sagt der Vermittler von Ingenieuren Daniel Löhr. Doch die Nische für die manuelle Arbeit von Recruitern schrumpft.

Vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt

Der wohl fundamentalste Wandel aber bahnt sich bei der mentalen Haltung rund um den Arbeitsmarkt an. Durch Online-Portale wird dieser vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt. Angestellte werden von Werbenden zu Umworbenen. «Viele Firmen begreifen Stellensuchende immer noch als Bittsteller», kritisiert Raphael Ineichen. «Doch die Realität ist im Wandel. In der angelsächsischen Welt hat man dies schon länger begriffen.»

Weht der Wind auf dem Arbeitsmarkt künftig tatsächlich aus einer anderen Richtung, so hat die Zurich Versicherung dies erfasst. «Der Wettbewerb um die besten Talente ist intensiv», sagt Aly Sparks, Global Head of Talent Acquisition bei Zurich. «Wir bauen unsere Präsenz auf den sozialen Kanälen deshalb kontinuierlich aus.»

Werden lästige «Stellensuchende» in einem breiteren Arbeitsmarktsegment zu hofierten «Talenten», so hat dies weitreichende Folgen. Wer umworben wird, stellt Bedingungen – zu den Arbeitszeiten, zur Weiterbildung und zum Salär. Sozialen Businessportalen wäre es dann zu verdanken, dass Arbeitnehmer ihre Bildungsrendite besser ausschöpfen könnten.

Davon profitieren können freilich vor allem Menschen wie Nicole, die auch über die gefragte Bildung und Erfahrung verfügen. Mit dem Siegeszug von LinkedIn und Co. würde somit auch die Diskrepanz zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit weiter steigen.