Unternehmen an der Börse müssen auch in Bezug auf Nachhaltigkeit, kurz ESG, Leistungsnachweise erbringen. Es geht um die Felder Umwelt (E wie Environmental), Soziales (S wie Social) und Unternehmensführung (G wie Governance). Doch woher kommen die Einstufungen und Urteile?

Neben mehreren eigenständigen Anbietern von ESG-Ratings veröffentlichen auch die Rating-Riesen wie Fitch, S&P und Moody’s ESG-Bewertungen. Betrachtet man die bisher vergebenen ESG-Ratings, fallen die Ergebnisse je nach Agentur höchst unterschiedlich aus – für dasselbe Unternehmen wohlgemerkt. So kann es vorkommen, dass ein Unternehmen von einem Anbieter eine sehr gute Nachhaltigkeitsnote erhält, während andere Anbieter dasselbe Unternehmen als wenig nachhaltig einstufen.

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Die abweichenden ESG-Bewertungen gehen auf die höchst unterschiedlichen Bewertungsmodelle der Anbieter zurück, die wiederum auf verschiedenen Unternehmensdaten beruhen, diese subjektiv bewerten und schliesslich willkürlich gewichten. Diese Divergenz erlaubt es Unternehmen, durch Rosinenpickerei nur das beste Rating zu veröffentlichen und damit das berüchtigte und verbreitete Greenwashing zu betreiben, sich also als nachhaltiger zu präsentieren, als sie vermutlich sind. Umgekehrt können böswillige Kritikerinnen und Kritiker die Vielzahl an fragwürdigen Bewertungen nutzen, um Unternehmen mit einer bewusst ausgesuchten schlechten ESG-Bewertung öffentlich anzugreifen.

EU fordert Transparenz bei den Rating-Methoden 

Die EU will diesem Wildwuchs an intransparenten und oftmals als willkürlich empfundenen Bewertungen nun ein Ende setzen. Der Mitte Juni vorgelegte Entwurf der EU-Kommission fordert, dass die Ratingagenturen ihre Methoden detailliert werden erläutern müssen. Ausserdem müssen sie künftig offenlegen, ob ihre Bewertungen mit Unterstützung von künstlicher Intelligenz angefertigt wurden. Ein weiterer Aspekt, der sich indirekt ebenfalls auf die Bewertungskriterien auswirkt: Ratingagenturen, die auch Finanzdienstleistungen anbieten, müssen dieses Geschäft künftig von ihrer Rating-Sparte abspalten, um Interessenkonflikte zu vermeiden.

In der Rating-Branche gibt es zum Teil erheblichen Widerstand gegen die EU-Pläne. Das Geschäft mit Ratings ist in den vergangenen Jahren rasant gewachsen. Allein die Fonds, die ESG-konform ausgerichtet sind, verwalten laut einer Schätzung von Bloomberg Intelligence Werte in der Höhe von rund 1,9 Billionen Euro. Auch haben die Rating-Agenturen mit ESG bisher glänzend verdient. Die Umsätze sprudelten geradezu und wuchsen in den vergangenen Jahren um durchschnittlich fast 40 Prozent auf weit über 300 Millionen Dollar im Jahr.

Grundsätzlich ist es zu begrüssen, dass die EU an dieser Stelle für klare Verhältnisse sorgen will. Allerdings stellt sich die Frage, ob der vorgelegte Entwurf das Kernproblem tatsächlich adressiert und löst. Zweifel sind angebracht. Denn eine grundlegende Herausforderung im Zusammenhang mit dem Thema ESG besteht darin, dass hier drei Konzepte zusammengefasst werden, die sehr unterschiedliche Themen adressieren.

Getrennte Bewertungen führen zu besseren Informationen

Das griffige Kürzel ESG suggeriert eine enge Verbundenheit der drei Nachhaltigkeitsfelder. Das ist aber keineswegs der Fall. Ein Unternehmen mag in einem Bereich sehr gut sein, während es in einem anderen Bereich Verbesserungsbedarf gibt. Beispielsweise galt der Volkswagen-Konzern dank seiner erweiterten Mitbestimmung der Arbeitnehmenden und der Beteiligung des Landes Niedersachsen lange als sozial vorbildlich, was aber den Abgas-Skandal, also ein verheerendes Fehlverhalten in Bezug auf Umwelt und Unternehmensführung, nicht verhinderte.

Eine aggregierte ESG-Bewertung mag am einfachsten erscheinen, führt aber zu Informationsverlusten. Separate Bewertungen hingegen würden sicherstellen, dass eine starke Leistung in einem Bereich nicht eine schlechte Leistung in einem anderen Bereich verbirgt. Dadurch würden Anlegende und Stakeholder, wie Kundinnen oder die Öffentlichkeit, nuanciertere und spezifischere Informationen erhalten.

Verschiedene Anlegerinnen könnten je nach ihren Werten, Zielen oder Risikotoleranzen unterschiedliche Aspekte von ESG priorisieren. Durch die Bereitstellung separater Bewertungen könnten massgeschneiderte Anlagestrategien ermöglicht werden. Investoren, die sich besonders um den Klimawandel sorgen, könnten beispielsweise die E-Bewertung priorisieren, während andere, die sich stärker auf soziale Gerechtigkeit konzentrieren, die S-Bewertung genauer betrachten.

Die Zielkonflikte von ESG-Kriterien

Die ESG-Problematik ist aber noch weitaus schwieriger. Die drei grundlegenden Konzepte sind nicht nur sehr unterschiedlich, sondern zum Teil sogar widersprüchlich. Eine umweltfreundliche Geschäftspraktik ist gut für das E, kann aber mit Blick auf S und G unter Umständen negativ beurteilt werden. Wenn ein Unternehmen zum Beispiel einen Geschäftszweig oder ein Werk mit hohen Emissionen schliesst und die Mitarbeitenden entlässt, so mag das der Umwelt dienen. Aber die nun arbeitslosen Mitarbeitenden werden die Entscheidung weder als sozial noch als gutes Management beurteilen.

Ein anderes Beispiel wäre ein Unternehmen, das statt in der stark regulierten EU in einem Schwellenland mit niedrigen Umweltstandards investiert und dort Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung schafft, um Kosten zu senken und die Rendite für Aktionäre und Aktionärinnen zu erhöhen. In diesem Fall könnten das gute Sozial- und Führungsverhalten, also neue Arbeitsplätze und eine hohe Rentabilität, auf Kosten der Umweltstandards gehen.

Somit treten E und G miteinander häufig in Konkurrenz und lösen einen Zielkonflikt aus. Erstaunlicherweise fordern ausgerechnet viele Führungskräfte in den ESG-orientierten Managementkursen des IMD mehr Umweltregulierung. Sie befinden sich in einem Dilemma zwischen der Treuepflicht gegenüber ihrem Aktionariat und den Umweltanforderungen.

Doch könnten die Unternehmen selbst dieses Dilemma auflösen, indem sie ein fundamentales Umdenken von Aufsichtsrätinnen und Aktionären anstossen. Sie müssten vor allem die Anreize für Führungskräfte, sprich die Bonuspakete, restrukturieren. Ein gutes Beispiel für solche Anreize liefert die Lufthansa, bei der 15 Prozent des Bonus des Vorstands von grünen Kennzahlen abhängen. Auch sollten Unternehmen offener und transparenter über ihre ESG-Leistungen berichten, da das Zeitalter des Greenwashings seinem Ende entgegengeht. Sie müssen sich aber auch bewusst sein, dass die drei ESG-Komponenten nicht immer miteinander übereinstimmen und manchmal sogar widersprüchlich sein können. Sie sollten daher ihre ESG-Strategien so ausrichten, dass sie einen ausgewogenen Ansatz zur Berücksichtigung aller drei Komponenten verfolgen.

Dieser Gastbeitrag erschien zuerst in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» im Juli 2023.