Am Corso San Gottardo zeigt sich das Grenzstädtchen Chiasso von seiner besten Seite. Die gut 1 Kilometer lange Flaniermeile wirkt aufgeräumt, kleine Bars laden zum Kaffee. Dazwischen reiht sich Boutique an Boutique, Bankhaus an Bankhaus. Moderne Bauwerke bestehen neben eleganten Palazzi im Jugendstil. Einem breiten, terrakottafarbenen Teppich gleich zieht sich dazwischen die Hauptschlagader Chiassos vom Grenzübergang nach Italien an der Via Bellinzona bis hin zum Stadthaus an der Piazza Bernasconi. Am Corso San Gottardo braucht sich Chiasso nicht vor der grossen Antagonistin Lugano zu verstecken.

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Bei einem genauen Blick auf die Vorzeigestrasse kommt allerdings der wahre Zustand der Grenzstadt zum Vorschein. Mehrere Geschäftsräume von Finanz- und Modehäusern stehen leer und warten auf neue Mieter. Seit Anfang Juni verweist im Schaufenster des erst kürzlich renovierten Sitzes der Notenstein Privatbank eine Notiz auf einem hölzernen Notenständer die geschätzte Kundschaft an die Niederlassung in Lugano. Wie die Autos, welche die Stadtregierung vom Corso zu vertreiben versucht, ist hier auch die Kundschaft aus dem In- und dem angrenzenden Ausland nur noch spärlich anzutreffen. Wer ein Geschäft an der Einkaufsmeile und deren Seitenarmen führt, leidet.

Seit dem Inkraftreten der Personenfreizügigkeit mit der EU vor elf Jahren und dem verstärkten ausländischen Druck auf das Bankgeheimnis ist Chiasso angezählt. Die Einwohner verlassen das Städtchen. In den vergangenen fünf Jahren hat die für Chiasso bedeutende Finanzindustrie 124 Gesellschaften verloren, darunter Investmentfirmen, Fondsgesellschaften und Banken. Mit der Einführung der Weissgeldstrategie für den Finanzplatz Schweiz steht das Grenzstädtchen vor einer ungewissen Zukunft.

Aufschwung dank Gotthard-Bahn

«Der Corso San Gottardo ist tot», sagt eine Unternehmerin. Laufend würden weitere Geschäfte geschlossen. «Ich könnte nackt durch die Strasse schlendern, es würde mich niemand bemerken», ergänzt die 40-Jährige. Sie habe bereits zehn Jahre durchgehalten und könne mit ihrem Geschäft noch überleben. «Wenn es aber so weitergeht und es nicht mehr reichen sollte, werde ich zu Hause bleiben.» Dabei galt Chiasso bis in die 1980er-Jahre im Bezirk Mendrisiotto als Referenz und Magnet für Arbeiter aus der Region und konnte, was Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung betrifft, fast mit Lugano mithalten.

Der Aufschwung von Chiasso war eng an den Bau der Gotthard-Linie gekoppelt. La Conca, die Muschel, wie die Talsenke zwischen der Collina del Penz und dem Bosco del Pianea genannt wird, profitierte von ihrer geografischen Lage. Bis 1803 ein Vorort von Como, wurde das Dorf durch die Eisenbahn mit seinem Grenzbahnhof und dem Rangierbahnhof zu einer wichtigen Grenzstadt. Der internationale Warenverkehr führte dazu, dass sich in der Region bis Ende der 1990er-Jahre zahlreiche Logistik- und Speditionsunternehmen ansiedelten.

Schwarzhandel als Kavaliersdelikt

«Wir sind aus dem Nichts gekommen und haben von der Eisenbahn und der Grenze profitiert», sagt Marco Ferrazzini. Das Chiasseser Urgestein vertrat von 1976 bis 1980 sowie von 1992 bis 2002 die Sozialdemokraten in der bürgerlichen Regierung. Der 63-Jährige betreibt an der Via Generale Dufour einen Supermarkt mit Bar, die wichtiger Treffpunkt im populären Quartiere Soldini ist. Die Blütezeit von Chiasso hat Ferrazzini hautnah miterlebt. Der Aufschwung kam rasant. «Genauso schnell könnte es wieder vorbei sein», ist der ehemalige Stadtrat überzeugt. Heute leidet er mit seinem Heimatort.

Die besondere geografische Lage des Städtchens hat auch auf die Einwohner der Gemeinde abgefärbt. «Chiassesi waren sehr offene Personen wie die meisten Leute, die an einer Grenze wohnen», sagt er. Von der Mentalität her den Lombarden näher, jedoch stark mit der Schweiz verbunden, bildete sich in Chiasso ein eigenständiger Charakter. Eine besondere Disposition, welche für den Aufschwung im 20. Jahrhundert entscheidend war.

Alle haben davon profitiert

In Chiasso hatten sich die Leute auf Dienstleistungen im Graubereich spezialisiert. Ferrazzini nennt das Kind beim Namen. «Chiasso war die Stadt der Schmuggler.» Der Schwarzhandel wurde als Kavaliersdelikt wahrgenommen; über die Grenze und in beide Richtungen wurden die Waren verschoben – während beider Weltkriege vor allem Nahrungsmittel, Zucker, Zigaretten, später Gold und Devisen. «Von diesem Geschäft haben alle profitiert, alle sind zu Reichtum gekommen», so Ferrazzini. Die latente, eher behelfsmässige Kriminalität galt als legitime Methode, um aus den beschränkten Mitteln, die der Region zur Verfügung standen, das Optimum herauszuholen. Anders als der grosse Rivale Lugano konnte Chiasso nicht mit einer einladenden Seepromenade oder einer traditionsreichen Geschichte punkten.

Dieses Credo hatte in Chiasso auch die Finanzindustrie verinnerlicht. «Noch bis vor kurzem bestand ein Netzwerk von Schmugglern, das bis in die Banken auf dem Finanzplatz reichte», sagt Paolo Bernasconi. Der Tessiner Anwalt und Vorkämpfer für einen sauberen Finanzplatz war von 1969 bis 1985 als Staatsanwalt in Lugano und Chiasso tätig. Er führte die Ermittlungen und erhob Anklage im Chiasso-Skandal, der 1977 in der Verhaftung und Verurteilung des Filialleiters der Schweizerischen Kreditanstalt in Chiasso mündete.

Paradies der Pool-Konten

«Alle Banken, auch die Grossbanken, führten sogenannte Conti Piscina, und das bis vor kurzem, als ihre Revisionsgesellschaften auf Geheiss der Finma endlich intervenierten», so Bernasconi. Die Pool-Konten lauteten auf die Namen der Schmuggler, die darauf die Bargelder einzahlten, die sie auf der anderen Seite der Grenze entgegengenommen hatten. Am selben Tag flossen die Zahlungen weiter auf die Konten der Begünstigten, in der Regel vermögende Kunden aus sämtlichen Regionen Italiens, die eigentlichen Besitzer der Gelder. «Ein solches Netz von Konten hätte schon damals auffallen müssen. Die Bankiers und Revisoren wussten, woher die Vermögen kamen und wie sie entstanden waren», sagt Bernasconi. Erst im Februar dieses Jahres wurde in Como ein Prozess gegen nicht weniger als 48 Personen wieder aufgenommen, die italienischen Staatsbürgern bis 2005 dabei geholfen haben sollen, undeklariertes Geld in die Schweiz zu schaffen.

Mit dem Wegfall der Grenzkontrollen am 1. Juni 2002 begann für die 7700-Seelen-Stadt eine neue Zeitrechnung. Zuvor schon musste die Region den Wegzug von mehreren Logistik- und Speditionsbetrieben verkraften, die nach dem EWR-Nein ihren Standort direkt in den Europäischen Wirtschaftsraum verlegten. Geblieben sind die Finanzindustrie und der Goldhandel. Doch auch hier zeigte sich seit Anfang des neuen Jahrtausends ein Rückgang.

Grundlegende Neuorientierung

Die intensivierte Bekämpfung der Geldwäscherei setzte dem Geschäft mit Fluchtgeldern und dem Devisenschmuggel zu. Mit der Finanz- und der Schuldenkrise wurde die Schraube im Kampf gegen die Steuerhinterziehung weiter angezogen. «Bis 2008 befand sich die in Italien zuständige Finanzpolizei jahrzehntelang im Tiefschlaf», sagt Bernasconi. Seit Italien wegen der leeren Staatskassen die Jagd auf unversteuerte Vermögen eröffnet hat, rüstet die Guardia di Finanza auf. Alleine im vergangenen Jahr haben die «Fiamme Gialle» 3,5 Tonnen Gold sowie 2,2 Tonnen Silber und Devisen in der Höhe von 124 Millionen Euro auf dem Weg zurück nach Italien beschlagnahmt. Wie hoch der Rückfluss an Geldern war, die im Rahmen von Steueramnestien unter Italiens Finanzminister Giulio Tremonti legal aus Chiasso abgezogen wurden, ist unbekannt. «Schätzungsweise wurden zwischen 20 und 30 Prozent der Vermögen im Tessin wieder repatriiert», erklärt Bernasconi. Gelder, die dem Finanzplatz mit seiner nach wie vor hohen Dichte an Finanzdienstleistern nun schmerzlich fehlen.

Entsprechend befindet sich die Branche in einem Prozess der Neuorientierung. «Neben einem Rückgang im Private Banking ist es zu einer Verlagerung der Aktivitäten ins Retail Banking und in das Kreditgeschäft gekommen», sagt Matyas Cavadini, Chef der lokalen Raiffeisen-Filiale und Präsident des Gruppo Banche Chiasso. Die Vereinigung setzt sich für die Interessen der Branche vor Ort ein und umfasst noch sieben von zehn Bankhäusern, die auf dem Platz aktiv sind. Er ist optimistisch, dass sich trotz den unbestreitbaren Problemen auf dem Finanzplatz für die Banken neue Chancen ergeben.

«Die Zukunft gehört jenen Instituten, die einen kompletten und ausgeglichenen Fächer an Dienstleistungen offerieren», so Cavadini. Nicht mehr dazu zählen werden der Schmuggel und die Verwaltung von unversteuerten Vermögen.


Chiasso-Skandal: Nachhaltiger Imageschaden

Affäre
Der Chiasso-Skandal bildet eine Zäsur in der Geschichte des Schweizer Finanzplatzes und des Bankgeheimnisses. Führende Mitarbeiter der Schweizerischen Kreditanstalt (SKA) (die heutige Credit Suisse) der Filiale in Chiasso hatten hauptsächlich italienische Fluchtgelder in der Höhe von 2,2 Milliarden Franken in eine dubiose Firma in Liechtenstein investiert. Dabei sicherten sie ihren Kunden weitgehende Bankgarantien zu. Dem Finanzinstitut entstand dadurch ein Schaden in der Höhe von 1,2 Milliarden Franken. Darüber hinaus festigte die Affäre international den schlechten Ruf der Schweiz als Hort für Geldwäscher und Steuerbetrüger.

Regulierung
Als Reaktion auf den SKAChiasso- Skandal beschlossen die Banken eine Sorgfaltspflichtvereinbarung (VSB) zur Verhütung des Missbrauchs des Bankgeheimnisses. Mit dieser Selbstregulierung versuchten die Banken, der verschärften Kontrolle durch den Staat zu entgehen.

Angriff
Der Chiasso-Skandal führte zu einem ersten Angriff auf das Schweizer Bankgeheimnis, in Form der Initiative gegen den Missbrauch des Bankgeheimnisses und der Bankenmacht, die an der Urne wuchtig verworfen wurde. Später versuchten die OECD sowie die Europäische Union, an die Daten von Steuerflüchtlingen in der Schweiz zu gelangen. Im Rahmen der UBS-Steueraffäre musste die Schweiz 2009 schliesslich die Daten von insgesamt 4450 UBS-Kunden an die Amerikaner ausliefern.