Ich schreibe diese Zeilen auf dem Weg von Hongkong nach Sydney. Immer wenn ich in Asien bin, fühle ich mich inspiriert. Diesmal jedoch liegt ein deutliches Gefühl von Veränderung und auch des verlangsamten Wachstums in der Luft; gleichzeitig ist eine neue Entschlossenheit auf Seiten Chinas zu spüren. Aus meiner Sicht werden Hongkong und Macao aus politischen und ebenso aus ökonomischen Gründen an den Rand gedrängt.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Macao und Hongkong haben als Tor für ausländische Investoren nach China gedient, vor allem aber waren sie auch das Tor, durch das Finanzmittel aus China herausgeflossen sind. Das in Hongkong und Macao ansässige klassische Import-Export-Geschäft, das mit preislicher Über- und Unterbewertung von Waren arbeitet, war für Geschäftsleute in Festlandchina bisher eine wichtige Wohlstandsquelle. Nun werden im Zuge der Bekämpfung unlauterer Methoden und der Korruption, die gründlicher als von allen erwartet ausfällt, die Schlupflöcher geschlossen. Auch die Aufsicht wird strenger und sowohl Hongkong als auch Macao leiden unter Liebesentzug.

Vernetzung der Börsen und eine erste Öffnung

Parallel dazu werden Finanzmarktreformen umgesetzt. Man erkennt dies etwa an der Kooperation der Börsen Hongkong und Shanghai seit dem letzten Jahr. Dieses Kooperationsprogramm ermöglicht ausländischen Anlegern die Investition in Aktien, die in Festlandchina gehandelt werden, und umgekehrt den inländischen Anlegern in China den Handel an der Börse von Hongkong. Das Programm ist nicht sehr umfangreich und wird hauptsächlich von Festlandchinesen genutzt, aber es bedeutet eine erste Öffnung.

Dieselbe Strategie wird in diesem Jahr mit einer Kooperation der Börsen Hongkong und Shenzhen noch ausgeweitet werden. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass Shenzhen eine grosse Börse mit einer Marktkapitalisierung im mittleren dreistelligen Milliarden-US-Dollar-Bereich ist und damit fast so gross wie Hongkong mit dem Hang-Seng-Index. Der A-Index in Shenzhen ist gegenüber dem Vorjahr um 35 Prozent gestiegen; notiert sind dort vor allem kleine und mittelständische chinesische Unternehmen, also genau das Segment, von dem ich annehme, dass es im kommenden Jahrzehnt auf dem Weltmarkt überdurchschnittlich erfolgreich sein wird.

Die neue Seidenstrasse

Das Programm zur Vernetzung der Börsen sollte man als das einordnen, was es bedeutet – nämlich eine Relativierung der Stellung Hongkongs als Finanzplatz und eine Bekräftigung der Absicht von Staatspräsident Xi Jingping, die Initiative Deng Xiaopings zur «Reform und Öffnung» von 1979 auf breiterer Front fortzuführen.

Bei Xi heisst diese Initiative «die neue Seidenstrasse». Sie wurde jüngst am Nationalen Volkskongress Chinas im März zur obersten Priorität erklärt und wird nun mithilfe von politischem Kapital, aber auch in harter Währung, umgesetzt. Ein neuer «Seidenstrassen-Fonds» mit einem Wert von 40 Milliarden US-Dollar wurde aufgelegt, um Infrastrukturmassnahmen in jenen Ländern zu fördern, die als Einzugsgebiet des Plans gelten, der in China zumeist unter dem Namen «Ein geografischer Gürtel, eine Strasse» bekannt ist.

… ein Bindeglied zwischen Asien und Europa

Vielleicht hat er nicht ganz die Dimensionen eines «chinesischen Marshallplans», dennoch dürften seine Effekte an den gewaltigen Aufschwung erinnern, den Europa durch die Hilfe der USA nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Damals schufen die USA durch ihre eigenen Leistungen, durch Vergabe von Krediten und Investitionen in Infrastruktur, die Basis für eine rasche Erholung Europas, deren Hauptnutzniesser sowohl finanziell als auch geopolitisch die USA waren. Der Marshallplan legte den Grundstein für den Aufstieg der USA zur Hegemonialmacht.

Xi verfolgt die Vision einer Seidenstrasse als Bindeglied zwischen Asien und Europa. Es wäre eine Achse, die vom unterentwickelten und politisch instabileren Westen Chinas bis nach Venedig in Italien und hinunter bis zum Kap der Guten Hoffnung in Afrika reichen würde. Der chinesische Plan umfasst Kreditbereitstellung und Investitionen, durch die auch eine engere Bindung zwischen China und Eurasien entstehen soll. Im Unterschied zum Marshallplan gibt es für die Teilhabe an diesem Plan, zumindest offiziell, keine Bedingungen.

Früher nur Wachstumsmotor, jetzt will China auch mitbestimmen

China verfügt über mehr als 4 Billionen US-Dollar an ausländischen Devisenreserven, an denen es, im Umfeld globaler Wachstumsschwäche, problematischer sozialer Spannungen und der Kapitalflucht, so gut wie nichts verdient. Aus der Sicht Chinas werden seine Exportmärkte langsam knapp. Die neue Seidenstrasse jedoch wird China nicht nur Geschäft einbringen, sondern in aufstrebenden Volkswirtschaften Asiens und Europas auch Einfluss sichern. Auf diese Weise wird sie eine echte Alternative zu den von den USA und von Europa beherrschten Institutionen IWF und Weltbank bilden.

Der Plan ist somit zugleich ein Reifezeugnis, nicht nur für China, sondern auch für Asien. In den vergangenen Jahrzehnten erschöpfte sich der Einfluss Chinas und Asiens darin, Motor für Wachstum und Investitionen zu sein. Mittlerweile wollen beide auch politisch mitbestimmen. China will dabei das Vakuum ausfüllen, das durch die Finanzkrise und ein politisches Establishment im Westen entstanden ist, das sich fortgesetzt damit begnügt, auf Zeit zu spielen und Reformen um jeden Preis zu vermeiden. China und Asien jedoch können sich keinen Stillstand leisten.

Asien nimmt Anlauf zum neuen Sprung nach vorne

Dadurch fügt sich der Plan in einen grösseren Zusammenhang ein: Er kommt Chinas Wunsch entgegen, den Renminbi zu internationalisieren und sich selbst mehr geopolitische Macht zu sichern. Die Reaktion der anderen grossen Mächte auf internationaler Ebene war vorhersehbar. Die USA sehen darin einen weiteren Schritt des chinesischen Vormarsches auf der geopolitischen Bühne sowie eine direkte Antwort auf die stärkere Hinwendung der USA nach Asien. Das Projekt «Seidenstrasse» erfährt in den angelsächsischen Medien nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Dabei sind schon über 60 Staaten der asiatischen Entwicklungsbank AIIB (Asian Infrastructure Investment Bank) und dem New Development Plan der BRICS-Staaten beigetreten. Nicht beteiligen wollen sich, zumindest vorerst und wie auch nicht anders zu erwarten war, die USA, Japan und Indien.

Deshalb ist das Gefühl, das ich in Hongkong verspürte, ganz zweifellos das einer gebremsten Bewegung. Doch damit nimmt Asien nur Anlauf für einen neuen Sprung nach vorne. Wenn in einer Fabrik die Masse und Gewichte neu geeicht werden, muss man die Produktion anhalten, wodurch sich die Produktion vorübergehend verringert. Dies wird gerade als wirtschaftliche Eintrübung in China sichtbar. Meiner Ansicht nach nutzen China und Asien die Krise dazu, um ihre volkswirtschaftlichen Pläne neu zu definieren. In den 1990er-Jahren, während der sogenannten Asienkrise, haben sie gelernt, dass man den westlichen Banken in Kreditangelegenheiten nicht «trauen» darf. In den 2010er-Jahren haben sie gelernt, dass sie ihre Exportmärkte nur dann weiter ausbauen können, wenn sie darin investieren – durch Kreditbereitstellung und in Form von Infrastruktur. China und Asien sind Vorreiter, wenn es darum geht, «Papiergeld» (Reserven der US-Notenbank) in die Realwirtschaft zu verschieben. Dies legt zwei Schlussfolgerungen nahe:

China steht vor einer Aktienrally

Nach dem aktuellen Wirtschaftsabschwung wird China erneut eine deutliche Erholung erleben. Sie wird in China als Plattform für die Korruptionsbekämpfung und die Abstimmung der politischen Interessen genutzt werden, bevor Staatspräsident Xi in seiner letzten vierjährigen Amtszeit (2017 bis 2021) seine Machtposition in China voll ausspielen kann. Dabei könnte eine Aktienrally in China Realität werden, zumal die Quote asiatischer Aktien in den Händen von Nicht-Asiaten relativ niedrig liegt.

Mittlerweile gibt es auf der Welt zwei Supermächte: Die USA und China. Für China ist dies eine Win-win-Entwicklung, für die USA eine Win-Loss-Entwicklung (Verlust der Vormachtstellung, andererseits Teilhabe an höherem globalem Wachstum). Dies wird für volatilere Märkte sorgen. An jedem Punkt der Geschichte, der durch einen Machtwechsel oder durch zwei gleich starke Supermächte gekennzeichnet war, war Instabilität die Folge. Diesmal wird es sicherlich nicht anders sein. Dieser Preis ist nun einmal zu bezahlen, wenn man Reformen und Veränderungen prinzipiell und immer wieder ausweicht. Man wird dann zum Sklaven der Geschichte, statt dass man die Geschichte selbst definiert.

Steen Jakobsen, Chefökonom bei Saxo Bank