Acht Jahre sind seit der Finanzkrise vergangen. Stehen wir bald vor der Nächsten?
George Magnus*: Die Weltwirtschaft ist seit der Finanzkrise fragiler geworden. Sie wächst weniger schnell. Dass ein erneuter Crash bevorsteht, glaube ich aber nicht.

Warum sind Sie so optimistisch?
Ich bin nicht optimistisch. Es wird auch in den USA wieder Rezessionen geben. Doch die Wirtschaftszyklen sind heute länger als früher. 2007 stellte ich für die UBS eine These auf. Ich sagte, die negativen Effekte der Finanzkrise würden zehn Jahre lang spürbar sein. Hinter dieser Aussage stehe ich noch immer. Es braucht Zeit, bis die Krise überwunden ist. Wir befinden uns quasi noch immer in der Aufholphase.

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Eine Aufholphase mit Rückschlägen?
Selbstverständlich. Während Jahrzehnten verzeichneten die USA und Europa jährliche Wachstumsraten von um 4 Prozent. Heute sind es vielleicht noch 2 Prozent. Unter diesen Vorzeichen reichen kleine Schocks, um Rezessionen auszulösen. Das Finanzsystem ist heute aber stark genug, um das zu verkraften. Selbst ein paar Quartale mit negativem Wachstum würden die Banken in den USA nicht zum Absturz bringen.

Die Weltwirtschaft bleibt von Spannungen geprägt: In den USA und auch in Europa.
Viele Probleme harren einer Lösung: Die hohen Schulden von Privaten und Staaten, die soziale Ungleichheit, das schwache Investitionswachstum. Sorgen sollte man sich aber nur bis zum Punkt, wo diese Dysbalancen zunehmen. Zuletzt ist das US-Budget- und Handelsdefizit aber kleiner geworden. In Europa geht die Ära der Austerität langsam vorbei. Das Auslaufen der Sparprogramme hilft der Wirtschaft.

In China fangen die Probleme erst an.
Der dortige Trend zeigt klar nach unten. Chinas Abschwung ist kein temporäres Phänomen. Er dauert nun schon vier Jahre an und wird auch noch weiter anhalten.

Warum nehmen wir ihn erst jetzt wahr?
Die Führung hat immer wieder stützend eingegriffen. Staatsnahe Betriebe wurden mit zusätzlichen Krediten versorgt. Es gab Infrastrukturpakete. Die Standards für die Hypothekenvergabe wurden gelockert. So wurden die BIP-Zahlen hochgehalten.

Wie nachhaltig war das Wachstum?
Am Ende waren die Eingriffe kontraproduktiv. Chinas Wirtschaft weist heute grosse Überkapazitäten auf, etwa im Stahl und Aluminiumsektor, beim Schiffbau, beim Kohlebau oder bei der Stromerzeugung. Die Produzentenpreise sinken nun schon seit vier Jahren. Währenddessen sind die Schulden stark angestiegen.

Wie geht Peking mit der Situation um?
Die Regierung hat sich bislang unwillig zum Handeln gezeigt. Vernünftig wäre, unrentable Staatsbetriebe zu schliessen und deren Schulden abzuschreiben. Doch das geschieht nicht. Ein Programm, bei dem Banken ihre Kredite an Unternehmen und lokale Körperschaften gegen Anleihen hätten tauschen sollen, schlug im letzten Jahr fehl. Am Schluss liehen die Banken den Firmen und Provinzregierungen zusätzliches Geld, ohne die bestehenden Schulden einzutreiben. So geht die Kreditausweitung munter weiter. Und die Schulden wachsen noch immer zwei- bis dreimal so schnell wie das BIP.

Wann platzt die chinesische Blase?
Die Realwirtschaft ist noch nicht am Gefrierpunkt. Mindestens ein weiteres Konjunkturprogramm wird wohl noch angekündigt – vermutlich vor oder während des Nationalkongresses im März. Das Paket könnte die Form von Steuersenkungen für Firmen und vielleicht auch für Konsumenten bekommen, über eine Ausweitung der Sozialleistungen, eine weitere Lockerung der Hypothekenvergabepraxis oder über zusätzliche Infrastrukturausgaben.

Das klingt nach Verzweiflungstaten.
Zentrales Anliegen der Führung ist, dass die Situation nicht ausser Kontrolle gerät. Nun macht Peking die Schotten dicht. Man wird Liberalisierungsschritte beim Zahlungsverkehr rückgängig machen, sodass es für die Chinesen wieder schwieriger wird, ihr Geld von den Banken abzuheben und im Ausland anzulegen. Zusammen mit den Stimuli werden solche Kontrollen die Wirtschaft vor einem Crash bewahren.

Aber?
Das System läuft nur noch auf Pump. Die Regierung kann den Banken schon regelmässig Geldspritzen geben und marode Betriebe von Zinszahlungen entbinden. Doch die faulen Kredite schafft man so nicht aus der Welt. Geht die Führung das Problem in den nächsten zwei bis drei Jahren nicht an, so wird es bei den Banken Liquiditätsengpässe geben. Irgendwann leiht ihnen niemand mehr Geld. Dann ist die grosse Finanzkrise da – und mit ihr auch die grosse Wirtschaftskrise.

Kann China das Problem nicht so lösen wie die USA: Mit Massen von Geld?
Eine Schuldenkrise erfordert letztlich eine Entscheidung: Wer bezahlt für die Fehler der Vergangenheit? Theoretisch kommen mehrere Optionen infrage. Entweder die Firmen zahlen durch Bankrotte und Betriebsschliessungen. Oder die Haushalte zahlen über forciert niedrige Sparzinsen und eine Währungsabwertung. Oder der Staat zahlt, indem er Privatisierungen vornimmt oder zusätzliche Staatsschulden aufnimmt. Entscheidend ist letztlich, was politisch möglich ist.

Und das wäre?
Wenig! China hat die Wahl zwischen mehr Arbeitslosigkeit, einem Rückschritt bei der Integration in die Weltwirtschaft und einer höheren Belastung des Staates. Peking wird sich mit dieser Wahl sehr schwertun.

Wird das Volk am Ende mehr Demokratie und Transparenz verlangen?
Man muss sich diese Frage stellen. Chinas Mittelklasse steigt auf. Sie nutzt soziale Medien. Sieben Millionen Studenten schliessen Jahr für Jahr ihr Studium ab. Die Ansicht der jungen Leute verträgt sich immer weniger mit der Idee einer Einparteienherrschaft. Eine längere Phase der Stagnation könnte die bestehende Unzufriedenheit mit dem System tatsächlich verstärken.

Steht der chinesische Frühling vor der Tür?
Das Potenzial dafür steigt an. Aber Peking wird kategorisch nicht zu Konzessionen bereit sein. Xi Jinping hat die Macht sogar weiter zentralisiert. Der Einfluss der Partei auf die Ministerien wurde ausgebaut.

Ist es nicht merkwürdig, wie viele westliche Kommentatoren das chinesische System in der Vergangenheit bewundert haben?
Chinas Erfolg rührt vom pragmatischen Umgang mit dem Wirtschaftsumfeld der 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahre. Die Phase der «grossen Moderation» verschuf Ländern, die den IT-Boom, die Deregulierung und die Globalisierung geschickt genutzt haben, einen grossen Schub. Heute wissen wir: Nicht nur der westliche Kapitalismus ist anfällig für Schuldenblasen, sondern auch der chinesische.

Leidet Europa unter Chinas Abschwung?
Luxusfirmen wie Gucci oder Prada weht ein kühler Wind entgegen. Auch Ausrüster wie Siemens oder Bosch spüren den Abschwung. Allerdings ist China für Europa nicht matchentscheidend. Die Verlangsamung in Fernost kann keine Entschuldigung für Europas eigenes Versagen sein.

Wo liegen die Schwierigkeiten?
Die Diskrepanzen innerhalb der Euro-Zone sind enorm. Es kann nicht gut gehen, wenn Länder wie Deutschland so extreme Exportüberschüsse erwirtschaften. Ich erkenne auch keinen kohärenten Plan, wie Europa die Wirtschaft aus der Krise führen will. Griechenland bleibt eine Baustelle.

Meistert Europa die Flüchtlingskrise?
Die letzten Monate haben gezeigt, dass es in Europa ein echtes Disintegrationsrisiko gibt. Sollte sich an der Arbeitslosigkeit und an der politischen Unzufriedenheit nichts ändern, müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen, dass Europa auseinanderbricht.

Was bedeutet es, wenn chinesische Firmen hierzulande auf Shoppingtour gehen?
Solche Käufe sind eine Folge davon, dass China einen strukturellen Sparüberschuss aufweist – ähnlich wie die Schweiz. Die Volkswirtschaft exportiert Kapital. Früher kaufte China westliche Staatsanleihen. Heute werden mehr Direktinvestitionen getätigt, was eigentlich auch sinnvoller ist.

Schaden die Übernahmen dem Westen?
China wird Europa und den USA nicht den Schneid abkaufen. Der disruptive Wandel, auf den es in Zukunft ankommt, ist nicht typisch für China und sein rückständiges Bildungssystem. Viele Chinesen sind sehr smart. Doch der Westen bleibt dank seinen liberalen Werten innovativer. Wenn China derweil unsere Technik kopiert, ist das grundsätzlich nichts Schlechtes.

*George Magnus (66) war Chefökonom bei S.G. Warburg & Co. und bei der UBS Investmentbank, für die er noch immer als Berater arbeitet. 2011 erschien sein Buch «Uprising». Darin warnt er vor übertriebener Euphorie gegenüber Schwellenländern wie China. Magnus ist affiliiert mit dem China Centre der Uni Oxford und war Dozent an den Universitäten von Westminster und Illinois.