Man muss sich in den vergangenen Monaten schon hinterm Mond versteckt haben, um den Namen Thomas Piketty nicht vernommen zu haben. Der Wirtschaftsprofessor von der Paris School of Economics erlebt derzeit einen für seine Zunft beispiellosen Aufstieg. Mit seinem viel gefeierten Buch «Capital in the 21st Century» führt er Bestsellerlisten an, TV-Stationen und Printmedien reissen sich um ihn.

Die Sogwirkung des 43-Jährigen erfasste selbst Papst Franziskus, der die Ungleichheit via Kurznachrichtendienst Twitter «Wurzel des sozialen Übels» nannte. Der amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman ordnete das Werk als wichtigstes Wirtschaftsbuch des Jahres ein – «vielleicht auch der Dekade».

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Vor allem Pikettys Theorie wird als fehlerhaft kritisiert

Doch wer hoch fliegt, muss damit rechnen, irgendwann auch tief zu fallen. In naher Zukunft ist damit bei Piketty zwar nicht zu rechnen; zu sehr beschäftigt sein Thema, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die weltweite Öffentlichkeit.

Doch Pikettys 700-seitiges Werk ist in Fachkreisen alles andere als unumstritten. Immer mehr Ökonomen wagen sich in diesen Tagen mit Kritik an die Öffentlichkeit. Zu den Widersachern gehören keineswegs nur liberale Ökonomen, die eine Umverteilung von Einkommen und Vermögen ablehnen (Piketty fordert eine stark progressive Besteuerung). Selbst Ökonomen der Mitte und linke Kreise stellen sich gegen den Franzosen. Oft wird vor allem die angeblich fehlerhafte Theorie bemängelt.

Als einer der prominentesten Gegner positionierte sich vergangene Woche Barack Obamas wichtigster Wirtschaftsberater gegen die Kernthese des Franzosen. Zwar sei wirtschaftliche Ungleichheit ein ernstzunehmendes Thema, sagte Jason Furman in Dublin. Allerdings sei keineswegs gesichert, dass Kapitalerträge, so wie Piketty behauptet, im Kapitalismus generell stärker wachsen als die Gesamtwirtschaft – und dass Vermögende deshalb zwangsläufig immer mehr Reichtum anhäufen als grosse Teile der arbeitenden Bevölkerung. Mitentscheidend für die Entwicklung von Vermögen, Einkommen und Wirtschaftswachstum sei etwa der technologische Wandel, so Furman.

Hier setzt auch der ehemalige US-Finanzminister und Harvard-Professor Larry Summers, dessen Wort in den USA noch immer hohes Gewicht hat, in seiner Kritik an. Künftig werde wirtschaftliche Ungleichheit vor allem deshalb ein Thema sein, weil Roboter, 3D-Drucker und künstliche Intelligenz «verheerende Auswirkungen» auf die Wirtschaft hätten, schreibt Summers. Die Idee dahinter: Wenn Maschinen ungelernte Beschäftigte mit der Zeit immer leichter ersetzen können, dürfte auch die wirtschaftliche Ungleichheit wachsen.

«Mitreissende Generalisierungen sind wenig nützlich»

Dass dies in vergangenen Jahrzehnten bereits der Fall war, zeigte in seinen Arbeiten der Ökonom Per Krusell. Der Schwede gehörte viele Jahre dem Komitee an, das über die Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises entscheidet – von 2011 bis Anfang dieses Jahres stand er dem Gremium gar vor. Krusell führt in seinen theoretischen Arbeiten die steigende Ungleichheit bei der Bezahlung von ungelernten und gut ausgebildeten Beschäftigten seit 1980 vor allem auf den technologischen Wandel zurück. Auch der Schwede hält nicht viel von Pikettys zugrundeliegender Theorie, wie man hört.

Das dürfte auch daran liegen, dass Piketty dem technologischen Wandel als Treiber der Ungleichheit in seinem Buch nur wenig Beachtung schenkt. Piketty sieht im Kapitalismus ein System, das grundsätzlich zu Schieflagen führt. Für viele ist das nicht nur verstörend, sondern eine «depressive» Theorie. «Mitreissende Generalisierungen über die Gesetze des Kapitalismus sind jedoch weniger nützlich als sorgfältige Studien», schreibt der frühere Chef der britischen Zentralbank, Sir Mervyn King in einer Rezension. Auch er kritisiert Pikettys Kernthese.

Zudem bemängelt King, dass Piketty die Errungenschaften des Kapitalismus unterschlage. Für ihn ist nicht nachvollziehbar, warum Piketty ausgerechnet jene Zeit als Ausnahme vom Kapitalismus beschreibt (immerhin von 1910 bis 1970), in der die wirtschaftliche Ungleichheit sank. Wie Summers und andere Ökonomen hat jedoch auch King Lob übrig für Pikettys umfangreiche Datensammlung zur Einkommens- und Vermögensentwicklung der vergangenen Jahrzehnte.  

Auch heterodoxe Ökonomen stellen sich gegen Piketty

Spannend ist darüber hinaus, dass Piketty nicht nur von Rechts und der Mitte Kritik entgegen gebracht wird. Da gibt es etwa den international renommierten Ökonomen, der an einer Elite-Uni unterrichtet und wie Piketty den Sozialisten in Paris nahe steht. Er kann den Hype um das Buch vor allem deshalb nicht verstehen, weil «es theoretisch und empirisch falsch ist», wie er sagt. Seinen Namen möchte er aber lieber nicht der Öffentlichkeit preisgeben.

Da ist Heiner Flassbeck schon mutiger. Lange leitete er als oberster Ökonom beim Uno-Handelsableger Unctad in Genf die volkswirtschaftlichen Geschicke. Der Fachmann ist als Querschläger seiner Zunft bekannt. Flassbeck kritisiert mitunter, dass Piketty streng neoklassisch argumentiert. Piketty würde annehmen, dass Arbeit und Kapital immer alternativ eingesetzt würden – je nachdem, wie sich die Preise dieser beiden Substitute zueinander entwickelten. «Das aber ist vollkommen falsch und kann niemals die Basis für eine sinnvolle Theorie sein», findet Flassbeck.

Folglich bleibe die Interpretation der empirischen Fakten – so verdienstvoll deren Zusammenstellung auch sein mag – mangels relevanter theoretischer Basis für eine Wirtschaftspolitik bedeutungslos, kritisiert der deutsche Ökonom, der lange der SPD nahe stand.

Angst vor dem Gattopardo-Effekt

Der amerikanische Makroökonom Thomas Palley ist ebenfalls enttäuscht, dass sich Piketty lediglich der «Mainstream-Theorie» bedient. Aus diesem Grund – wohl weil er Piketty in seinem Theoriekonstrukt gefangen sieht – könne dieser lediglich progressive Einkommens- und Vermögenssteuern als Ausweg vorschlagen (was Piketty auch tut). Ökonomische Institutionen und eine Veränderung der wirtschaftlichen Kräfte spielten für Piketty als Lösung demnach keine Rolle.

Pikettys Forderungen gehen dem linken Ökonomen Palley offenbar nicht weit genug. Er befürchtet, dass Pikettys Werk auf Ökonomie und Wirtschaftspolitik deshalb eine Art Gattopardo-Effekt haben könnte. Im dem 1963er-Film «Der Leopold» (Original «Il Gattopardo») von Luchino Visconti (basierend auf dem gleichnamigen Roman von Guiseppe di Lampedusa) schafft es die adlige Familie Garibaldi, ihre Macht trotz der anbrechenden Demokratie über neue Seilschaften mit dem Bürgertum zu erhalten.

Palley befürchtet also, dass sich kaum etwas ändern wird – weil die grundlegende Theorie von Piketty seiner Auffassung nach die falsche ist. Für diesen Einwand hegt denn auch Nobelpreisträger Krugman eine gewisse Sympathie, wie er schreibt. Buch der Dekade hin oder her.