In der Ukraine droht der Konflikt mit den Separatisten zu einem offenen Krieg mit Russland auszuarten. Russland ist der grösste Ölproduzent der Welt. Im Irak rücken die Islamisten vor – und in Bagdad gibt es keine funktionsfähige Regierung. Irak ist die Nummer sechs bei der Ölförderung.
In Westafrika breitet sich Ebola immer weiter aus. Dort liegt auch Nigeria, der grösste Ölversorger Afrikas. Und dann sind da noch die Kriege in Gaza und Syrien, die zwar kein Öl produzieren, aber die internationale Krisenstimmung zusätzlich anheizen.

Vor wenigen Jahren hätte einer dieser Konflikte gereicht, um den Ölpreis explodieren zu lassen. So schnellte der Kurs selbst im Frühjahr 2011 noch bis auf 126 Dollar je Barrel (159 Liter), als der Arabische Frühling, die Freiheitsbewegung in vielen arabischen Ländern, begann. Doch diesmal brennt es an gleich an mehreren Ecken, die Welt ist so unsicher wie lange nicht mehr. Doch der Ölpreis sinkt.

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«Befremdliche» Talfahrt

Das erstaunt nicht nur die Verbraucher, die sich als Autofahrer und Heizölkäufer natürlich darüber freuen. «Befremdlich» findet es beispielsweise auch Axel Herlingshaus, Rohstoffanalyst bei der DZ Bank, dass der Ölpreis in einer solchen Zeit «zu einer ausgedehnten Talfahrt ansetzt».

Denn seit dem kleinen Zwischenhoch Anfang Juni bei 115 Dollar je Fass (entspricht 159 Liter) der Nordseesorte Brent ist der Preis praktisch unablässig gesunken. Inzwischen steht er nur noch knapp über der Marke von 100 Dollar und damit auf dem tiefsten Niveau seit mehr als einem Jahr. Das klingt nicht nur unlogisch. Es erscheint überaus seltsam.

Dem Ölpreis ist es egal

Liegt es vielleicht daran, dass wir die Krisen nur stärker wahrnehmen, die globale Lage aber gar nicht so viel unsicherer geworden ist? Dagegen spricht der aktuelle Stand des sogenannten Internationalen Sicherheitsindex (ISI) der Nicht-Regierungsorganisation PIR Center. Dieser bezieht beispielsweise die Zahl der lokalen Konflikte und der Terrorbedrohung, aber auch den Stand der Beziehungen zwischen den Ländern der Erde mit ein.

Bei 4210 Punkten wäre die ideale, friedliche Welt erreicht. Doch seit Februar sinkt der Index beständig. Von 2863 Punkten ist er seither auf mittlerweile 2758 Zähler gesunken. Die Welt ist also auch ganz objektiv unsicherer geworden. Aber dem Ölpreis ist es egal.

Zahl der Krisen hat auch objektiv zugenommen

Ein Hinweis darauf, woran es liegt, kommt von der Internationalen Energie-Agentur (IEA). In ihrem soeben veröffentlichten neuesten Bericht schreibt sie, dass «trotz der bewaffneten Konflikte in Libyen, im Irak und in der Ukraine das Angebot am Rohölmarkt heute besser erscheint als erwartet».

Und das ist nur eine sehr dezente Beschreibung für eine wahre Revolution, die an diesem Markt in den vergangenen Jahren stattgefunden hat. «Die USA produziert inzwischen eine unglaubliche Menge an Rohöl selbst, das sie früher importieren musste», sagt Ed Morse, Chefanalyst für Rohstoffe bei der Citigroup.

Rund 7,2 Millionen Barrel pro Tag importierte das Land im Mai nur noch, 26 Prozent weniger als vor einem Jahr. Der weltweite Verbrauch liegt bei rund 90 Millionen Barrel pro Tag.

Seit 2008 ist die eigene Produktion der USA dagegen um drei Millionen Barrel pro Tag gestiegen. Heute liegt sie bei 8,5 Millionen Barrel pro Tag und damit so hoch wie seit 1987 nicht mehr. Und laut den Prognosen der US-Energieagentur soll die Förderung schon im kommenden Jahr auf 9,28 Millionen Barrel pro Tag steigen.

USA holen Saudi-Arabien bei Ölproduktion ein

Entscheidend dazu trägt das sogenannte Fracking bei, also das Herauslösen von Öl oder Gas aus tiefen Gesteinsschichten mit Hilfe von chemischen Zusätzen. In den USA boomt diese Branche.

Und werden die Prognosen wahr, dann würden die USA nicht nur fast mit dem bisherigen Ölgiganten Saudi-Arabien aufschliessen, dessen Produktion derzeit bei etwa 11,5 Millionen Barrel pro Tag liegt. Gleichzeitig würden auch die Importe weiter zurückgehen, der internationale Rohölmarkt noch weiter unter Druck kommen.

Aktuell kommt noch hinzu, dass neuerdings auch Libyen wieder an den Markt zurückkehrt. Dort wurden vor kurzem endlich zwei Öl-Terminals wieder in Betrieb genommen, sodass Exporten nichts mehr im Wege steht. Und gleichzeitig haben sich die weltwirtschaftlichen Aussichten zuletzt wieder verschlechtert. Die IEA senkte daher zuletzt ihre Prognosen für den Ölverbrauch leicht.

All das drückt auf den Preis, trotz weltweiter Krisen. Doch damit noch immer nicht genug. Denn Kanada schickt sich inzwischen an, dem US-Beispiel zu folgen. Das Land verfügt nach Saudi Arabien und Venezuela über die drittgrössten bekannten Ölvorkommen. «Grosse Teile dieser Vorräte können erst jetzt durch neue Fördertechniken rentabel erschlossen werden», sagt Tom Nelson von Investec Asset Management.

Kanada wird den Markt zusätzlich mit Öl fluten

Die Förderkosten seien inzwischen günstig, und das könnte auch beim nördlichen Nachbarn der USA zu einem wahren Förderboom führen. Derzeit produziert Kanada rund 3,5 Millionen Barrel Rohöl pro Tag. Bis 2025 werde sich diese Menge nach Nelsons Schätzung jedoch verdoppeln. Dann würde auch Kanada zu den ganz grossen Ölproduzenten gehören.

Das sind vor allem für all jene Diktaturen und halbseidene Potentaten schlechte Nachrichten, die in den vergangenen Jahrzehnten der westlichen Welt den Ölpreis diktieren konnten und sich dazu in der Opec zusammengeschlossen hatten. Ole Hansen von der Saxo Bank erwartet daher, dass diese demnächst reagieren werden, vor allem wenn der Preis unter 100 Dollar je Barrel sinken sollte. «Das ist die rote Linie für Saudi-Arabien, worunter es den Preis nicht für längere Zeit fallen sehen möchte.»

Die Opec-Länder könnten dann mit Förderkürzungen reagieren, um so das Angebot zu verknappen. In der Vergangenheit funktionierte dies immer bestens, weil die geringeren Mengen dann umso höhere Preise brachten, die Einnahmen also sogar stiegen.

Diesmal könnte allerdings auch dieser Mechanismus nicht mehr funktionieren, da im Gegenzug einfach die USA und Kanada ihre Fördermengen erhöhen könnten. Der Ölpreis dürfte also eher noch weiter sinken, trotz Kriegen und Krisen.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Schwesterpublikation «Die Welt».