Ulrich Thielemann, der umstrittene ehemalige Vizedirektor des St. Galler Instituts für Wirtschaftsethik, und 120 weitere Professoren aus verschiedensten Disziplinen bezeichnen die Ökonomie in ihrem «Memorandum 2012» als zu mathematisch, zu marktgläubig und zu wenig interdisziplinär. Die Wirtschaftslehre müsse verstärkt die Auseinandersetzung mit der ganzen Gesellschaft suchen.

Doch mit ihrem Frontalangriff stossen die Akademiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auf wenig Verständnis. «Die Kritik ist wenig fruchtbar, weil sie viel zu abstrakt bleibt», sagt Reiner Eichenberger, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Freiburg. Mathematisiertes Fachchinesisch, das es in der Ökonomik tatsächlich gebe, durch «das Verbalgeschwurbel anderer Wissenschaften» zu ersetzen sei sinnlos.

Wenig nützlich findet das Memorandum auch Ernst Fehr. «Ich halte einige der aufgestellten Behauptungen für kontraproduktiv», sagt der Professor für Mikroökonomik an der Universität Zürich. Wenn man die Wirtschaftswissenschaften beeinflussen wolle, könne man das nicht von aussen, sondern nur über erstklassige Publikationen in erstklassigen Fachzeitschriften. «Man muss sich dem Wettbewerb der Ideen stellen. Alles andere wird nicht zum Erfolg führen», erklärt der Volkswirt, der schon als Anwärter für den Nobelpreis gehandelt wurde.
 
Der St. Galler Volkswirtschaftsprofessor Gebhard Kirchgässner bestreitet, dass seine Zunft marktgläubig ist. «Man denke an die Diskussion in den 90er-Jahren über die kantonalen Gebäudeversicherungsmonopole. Hier wurden öffentliche Monopole als effizienter anerkannt.» Den Vorwurf mangelnder Interdisziplinarität lässt Bruno S. Frey von der Universität Zürich nicht gelten. «In der modernen Ökonomik werden Erkenntnisse der Psychologie, Soziologie und Politologie stark berücksichtigt», so der weltbekannte Volkswirtschaftsprofessor. Der Homo Oeconomicus sei schon längst nicht mehr das vorherrschende Paradigma.
 
Heftige Kritik an Schweizer Bankgeheimnis und Steuerabkommen

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Thielemann rechnet im «Handelszeitung»-Interview mit dem Finanzplatz Schweiz ab. «Am Bankgeheimnis kristallisiert sich das Grundverständnis der Schweizerinnen und Schweizer. Das Steuerabkommen, das sich die Schweizer von der Bankenlobby hat schreiben lassen, spricht noch die Sprache des fehlenden Unrechtsbewusstseins», sagt er im Gespräch.
 
Kein gutes Wort lässt er am Steuerabkommen mit Deutschland, das laut Thielemann nur einen Zweck verfolgt. «Es soll den globalen Regimewechsel zum automatischen Informationsaustausch verhindern. Es soll der Schweiz und den mit ihr verbundenen Steueroasen weiterhin das Schwarzgeldgeschäft ermöglichen.»
 
Thielemann wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als er 2009 als Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen vor dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestags das Bankgeheimnis kritisierte. Nach der heftigen Kontroverse um seine Person verliess Thielemann 2010 St. Gallen und gründete in Berlin eine Denkfabrik für Wirtschaftsethik, die sich für eine menschliche Marktwirtschaft einsetzt.

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Stefan Mair
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