Der im Jahre 1897 verstorbene Kulturhistoriker Jacob Burckhardt musste die allerneusten Entwicklungen rund um die Schweizer Machtelite geahnt haben, als er tief besorgt zur Feder griff. Jedenfalls ist er heute so aktuell wie schon lange nicht mehr. Macht sei «an sich böse», notierte der Humanist. «Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also andere unglücklich machen.»

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Macht zum Beispiel hat UBS-Chef Marcel Ospel. Und unglücklich darüber ist zum Beispiel das Schweizer Boulevardblatt «Blick».

«‹Blick› führt eine neue Währung für die Schweiz ein», notierte das Blatt am
24. April dieses Jahres, «die Abzocker-Währung Ospel». Die neue Währung, so ging es weiter, sei «sauteuer»: «Ein Ospel entspricht 24 Millionen Franken. Das ist der Lohn, den UBS-Präsident Marcel Ospel fürs Jahr 2005 bezogen hat.»

Damit war die mitunter gehässig geführte Diskussion um die Spitzenlöhne der Manager in eine neue Dimension getreten. Und Marcel Ospel, bereits wegen seiner Rolle beim Grounding der Swissair öffentlicher Kritik ausgesetzt, wurde erneut Buhmann der Nation. Nicht nur die Linke schloss sich freudig dem Halali auf den Grossbankenchef an, auch renommierte FDP-Politiker bliesen aufgeregt ins Jagdhorn.

Einsam aber war Ospel in der Rolle des Gejagten nicht: Die gesamte Wirtschaftselite steht unter so akribischer Beobachtung wie nie zuvor – Novartis-Chef Daniel Vasella muss sich Kritik gefallen lassen, ebenso Nestlé-Chef Peter Brabeck-Letmathe. Genauso sieht es bei den Spitzenkräften der Schweizer Politik aus: Bundesrat Christoph Blocher, sein Kollege Pascal Couchepin oder SVP-Präsident Ueli Maurer zum Beispiel sind heute nur selten als strahlende Charmebolzen im Gespräch.

Doch wer über Macht reden will, muss zuerst einmal festsetzen, was er darunter versteht. Und da ist die gängigste Definition ziemlich unbestritten: Macht habe, so etwa der Brockhaus, wer «den eigenen Willen gegenüber dem Willen anderer durchzusetzen» im Stande sei. Und hier folgt eine eher kritische Präzisierung: «Machthaber ist jemand, der Macht diktatorisch ausübt.»

Der linke Philosoph und Liebling der 68er Protestgeneration, Theodor W. Adorno, folgerte aus solchen Überlegungen seine obrigkeitskritische Maxime: «Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.» Ein Satz, der bestens in die heutige managerkritische Stimmung passt.

Die gebräuchlichste Machtdefinition geht übrigens auf Max Weber, Vater aller Soziologen, zurück: «Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.» Und weil es immer wieder Menschen gibt, die es etwas genauer wollen, wagte John R.P. French jr. eine mathematische Definition, die zwar ein bisschen kompliziert ist, dafür auch ziemlich ulkig.

Macht, so schrieb der Mann, sei «die Fähigkeit von Akteur A, einen Akteur B zu einer Handlung zu bewegen, etwas zu tun, was Akteur A von ihm verlangt, abzüglich der Wahrscheinlichkeit, dass der Akteur B die von Akteur A gewollte Handlung auch ohne Einfluss von Akteur A getan hätte».

Was zu beweisen wäre. BILANZ hat mit vier Fachjurys, ausgewiesene Kenner und Insider, den Einfluss und die Macht von über 400 Persönlichkeiten analysiert und die 175 Einflussreichsten eruiert. Untersucht wurden dabei der Einfluss dieser Persönlichkeiten im eigenen Bereich und der Einfluss über den eigenen Bereich hinaus. Dazu die Frage, wie gefestigt die Person in ihrer Position ist und ob sie sich notfalls auch gegen den Willen von Betroffenen durchsetzen könnte (siehe Nebenartikel «Die Mächtigsten: So wurde gewertet»).

Ergebnis: In der Kategorie Wirtschaft führt Novartis-Chef Daniel Vasella die
Liste an, gefolgt von Marcel Ospel (UBS), Peter Brabeck-Letmathe (Nestlé), Peter Spuhler (Stadler Rail) und Peter Wuffli (UBS). In der Politik schafft es CVP-Vorzeigefrau Doris Leuthard auf den ersten Platz und verweist Ueli Maurer auf Rang 2. Es folgen Bundesrat Christoph Blocher, SP-Präsident Hans-Jürg Fehr und Bundesrat Pascal Couchepin. Bei der Kultur bestätigt das Architekten-Duo Herzog und de Meuron seinen letztjährigen Spitzenrang, bei den Medien schlägt Michael Ringier seine Konkurrenten.

Besonders interessant ist der Fall Doris Leuthard. Sie verdrängte den zuvor zwei Jahre lang auf dem ersten Rang stehenden SVP-Präsidenten Ueli Maurer und ist die einzige Person auf den Spitzenplätzen, die bisher von einer breiten Medienschelte verschont geblieben ist. Leuthard sammelt Sympathiepunkte wie sonst derzeit niemand im Land – egal ob sie Homestory-Journalisten ihre Schuhsammlung vorführt oder im Parlament Profil zeigt. Leuthard ist also, mindestens heute noch, der eher atypische Fall einer mächtigen Person.

Und hat sie wirklich Macht? Zweifellos. Dass sie im eigenen Bereich starken Einfluss hat, bestreitet kaum jemand. Leuthard ist es gelungen, den eher desparaten Haufen CVP immer wieder hinter eine Position zu scharen. Sie tut es, meinen Politbeobachter, indem sie ihre eigene Haltung zunächst zurückhält und den wichtigen Parteixeponenten aufmerksam zuhört. Dann schafft sie es geschickt, die Partei auf Linie zu bringen.

Macht gegen aussen hat sie ebenfalls. Die CVP ist zwar eine eher kleine Partei, spielt aber immer wieder zwischen links und rechts das Zünglein an der Waage. Und kann so kräftig mitgestalten.

Doris Leuthard ist auch der Beleg dafür, dass Persönlichkeiten mit starker Medienpräsenz automatisch einen Machtbonus erhalten. Die Aargauerin beherrscht den medialen Auftritt wie sonst kaum jemand. Und sie hat eine Fähigkeit, die zwar furchtbar banal klingt, heute aber sehr viel wert ist: «Sie kann Politik dem Normalbürger erklären», sagt Victor Schmid, Senior Partner beim Beratungsunternehmen Hirzel.Neef.Schmid und Mitglied der BILANZ-Jury.
Mit der heutigen Bedeutung der Medienpräsenz hat auch das gute Abschneiden von Thomas Zeltner, Direktor des Bundesamtes für Gesundheit, sowie des Gesundheitspolitikers Felix Gutzwiller zu tun: Die Diskussion ums Rauchen zum Beispiel gab beiden Auftrieb – vor allem aber sorgte die Vogelgrippe für viel TV-Präsenz.

Dabei muss man Thomas Zeltner zugute halten, dass er am Fernsehen eine gute Figur gemacht und das Thema Vogelgrippe unaufgeregt und sachlich in die richtige Dimension gerückt hat.

So gesehen ist sein guter Platz sicher wohlverdient.