Der Lärm verstummt nie ganz. Er klingt wie eine Mischung aus dem Kreischen einer V1-Rakete und dem Krach eines Turboprop-Flugzeugs, ein Bariton-Dröhnen, das laut anhebt, dann schwindet, um von neuem anzuschwellen. Dass das Geräusch so beharrlich zu hören ist, ist bemerkenswert, denn das Auto, dem es entspringt, ein 845 PS starker, von 9ff umgebauter Porsche 911 Bi-Turbo, braust im süditalienischen Nardò über die 12,5 Kilometer lange Teststrecke mit überhöhten Kurven und ist daher die meiste Zeit ausser Sichtweite.

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Zusammen mit Freunden der Dortmunder Tuning-Firma 9ff stehe ich an der Oberkante einer Kurve und harre der Rückkehr des silbernen Boliden. Was wir hier erleben sollen, ist nichts Geringeres als ein Frontalangriff auf den vom McLaren F1 aufgestellten Geschwindigkeitsrekord für strassenzugelassene Autos. Tatsächlich hat man sich hier noch höhere Ziele gesteckt: Die Leute von 9ff wollen die 400-km/h-Marke durchbrechen. An diesem schönen Dezembersonntag zeigt sich allerdings bald, dass die Überbietung des F1-Rekords von 386,4 km/h Lohn genug wäre.

Als das ferne Dröhnen wieder zu einem wütenden Brüllen anzuschwellen beginnt, werden alle Zuschauer von nervöser Spannung ergriffen. Selbst für die Verhältnisse der Tuning-Welt ist 9ff eine winzige Firma, und so wirkt das hier ein wenig wie David gegen Goliath. Am Steuer des Wagens sitzt Jan Fatthauer, der Besitzer von 9ff, der nur deshalb fährt, weil er keinen andern für diesen Rekordversuch gewinnen konnte. Fatthauers Enthusiasmus und seine Überzeugung, etwas erreichen zu können, das so vielen anderen misslungen ist, wirken ansteckend.

Das Auto mag silbrig sein, doch von fern erscheint es auf der hellen Betonpiste der Rennstrecke als dunkler Punkt. Ich ducke mich hinter die Leitplanke, strecke meine kleine Digitalkamera darüber hinaus in den Luftraum über der obersten Fahrspur. Wenn hier Geschichte geschrieben wird, will ich sie festhalten, egal wie unscharf.

Natürlich mache ich mir etwas vor. Ein Punkt, der mit weit über 320 km/h dahinflitzt, hält nicht still für einen Schnappschuss. Als ich durch den Sucher spähe, füllt der umgebaute 911er mein Blickfeld schneller aus, als ich begreifen kann. Ein Teil von mir erwartet ja sein Auftauchen, aber als er vorbeibraust, werfe ich meine Kamera um ein Haar ins umliegende Gebüsch. Es ist, als wäre neben mir eine Granate hochgegangen, so explosiv wirkt nicht nur der Lärm, sondern auch die Wucht der Luftverdrängung.

Die gemeinsame Anspannung löst sich in munteres Geplauder auf, als wir versuchen, das eben Erlebte zu verarbeiten. Die Gruppe verstummt, als wir hören, wie Fatthauer Gas wegnimmt und das Auto auf ein Tempo abbremst, das den meisten von uns bis ans Ende unserer Tage reichen würde. Hat er es geschafft?

Kurz gesagt: nein. Wir klettern alle über die Leitplanke und rennen die geneigte Kurve hinunter, als der mückenbespickte 9F-V400 von 9ff ans Innenfeld rollt, aber Fatthauers Körpersprache beim Aussteigen verrät schon alles, was wir wissen müssen, noch ehe er enthüllt, dass die drei GPS-Geräte an Bord auf der Teststrecke nur eine 370-km/h-Runde verzeichnet haben. Echt bescheuert! Da stehen wir, enttäuscht über eine Geschwindigkeit, die so ziemlich jedes andere strassenzugelassene Auto der Welt im Staub lassen würde. Es hilft auch nicht, dass wir früher in diesem Jahr miterlebt haben, wie ein anderer von 9ff getunter 911er mit weniger PS an einer PR-Veranstaltung des Reifenherstellers Continental 374 km/h erreichte.

Immerhin: Dies war der erste Testlauf des Tages. Uns bleibt noch Zeit bis 16 Uhr, ehe die sinkende Sonne Fatthauers Streben ein Ende setzt. Man munkelt, der grosse, drahtige blonde Deutsche habe für die exklusive Nutzung der Teststrecke an diesem Tag gegen 30 000 Franken aus der Firmenkasse bezahlt. Man könnte daher erwarten, dass er weiter Runden dreht, bis er den Rekord erzielt hat oder der Motor des Wagens explodiert. Nardò ist ein beliebtes Gelände für die Mainstream-Autohersteller, und die wollen schnell auf die Strecke zurück.

Bei der Lancierung des Ultrahochleistungsreifens Vmax von Continental schlug Fatthauer all seine Tuning-Rivalen in Jeans und Hemdsärmeln; für seine eigene kleine Veranstaltung hat er sich einen feuerfesten Overall und Handschuhe geleistet, trägt aber immer noch Turnschuhe und Nylonsocken. Dergleichen kennzeichnet die Atmosphäre dieses Anlasses, denn es zeigt, dass es diesem Mann um die Sache geht, nicht um das Drum und Dran.

Fatthauer erklärt, dass er bei diesem Testlauf nicht schneller gefahren sei, weil das Auto von einer seltsamen Vibration erschüttert wurde. Diese schreibt er eher der Aerodynamik zu als einem mechanischen Problem. Im technischen Bereich ist 9ff stark, aber für Windkanalspielereien fehlt das Geld. Die heutigen Testläufe dienen ebenso sehr dazu, den Luftwiderstand des Wagens zu optimieren wie um den McLaren F1 von seinem Spitzenplatz im Guinness-Buch der Rekorde zu verdrängen.

Fatthauers Gespür gemäss rührt die Vibration daher, dass übermässiger Abtrieb die Aufhängung des Wagens auf einen oder mehrere seiner Reifen herunterdrückt. Er weist seine Equipe deshalb an, den Gummi-Frontspoiler zu entfernen, der an der Unterverkleidung befestigt ist. Den hatte man nach ein paar ersten Proberunden am frühen Morgen hinzugefügt, um dem Wagen vorne mehr Fahrstabilität zu verleihen. Nun aber erweist er sich als Hemmschuh. Fatthauer meint auch, dass der grosse Rennstil-Heckspoiler hinten zu viel Abtrieb erzeugt, und will ihn ebenfalls weghaben. Zudem werden die hauchdünnen Raid-Luftfilter durch dickere ersetzt, da sie dem Bi-Turbo zu viel Schub zuführen. Das alles ist ein klassisches Beispiel dafür, dass Getüftel in der virtuellen Realität einen Deut zählt, wenn man auf einer wirklichen Piste fährt.

Los geht es mit den Neuerungen, und wieder brauchen wir Zuschauer kein GPS, um zu erkennen, dass McLarens Eintrag in den Rekordbüchern noch nicht überholt werden muss: Die Höchstgeschwindigkeit des 9ff bei diesem Testlauf liegt bei schäbigen 369 km/h, und selbst dieser Wert ist zweifelhaft, weil das eine GPS-Gerät des Trios mit den andern beiden nicht einverstanden ist. Der Wagen vibriert nach wie vor, und obschon Fatthauer meint, das Auto habe nur wenig an Fahrstabilität eingebüsst, räumt er ein, dass er bei 315 km/h an einer der holprigeren Stellen in den überhöhten Kurven ins Schwitzen gekommen sei. «Es war, als führe ich auf Eis», sagt er.

Die Zeit rast. Bald ist es Mittag, für das 9ff-Team kann von Pause keine Rede sein, sie bereiten den Wagen auf den nächsten Testlauf vor. Der Gummi-Frontspoiler kommt wieder dran und wird von einem Mechaniker auf seine halbe Tiefe zurückgeschnitten. Über dem Motor, da, wo ein normaler 911er einen Kühlergrill hätte, wird ein mittelgrosser Heckspoiler angebracht. Die Flüssigkeiten, einschliesslich des Kühlwassers für die Intercooler, werden nachgefüllt. Die Zeit verrinnt im Nu.

Erst um 15 Uhr sind sie wieder startbereit. Für einen neuen Rekord sieht es nicht rosig aus, umso weniger, als es dem Wagen bei sehr hohem Tempo nach wie vor an Fahrstabilität mangelt. Während wir Zuschauer wie Beklopfte auf und ab hüpfen und uns am ganzen Körper schlagen, um Nardòs gewaltige Mückenbevölkerung in Schach zu halten, montiert das 9ff-Team wieder den grossen Heckspoiler. Beim nächsten Testlauf rennt der Wagen bei 373 km/h gegen eine «Schallmauer», weil ihn der übermässige Abtrieb bremst. Ein kurzer Blick auf ein paar Digitalaufnahmen zeigt, dass die Schnauze fast die Pistenoberfläche abschabt.

Die Hektik wächst, als der Gummispoiler wieder abgenommen wird. Jetzt geht alles sehr schnell, und Fatthauer und der Porsche flitzen wieder von dannen. Wir traben wieder zum Kurvenrand empor, um die Rückkehr des Wagens abzuwarten. Klingt diese Runde anders als die vorherigen? Schwer zu sagen, doch als der Wahnsinnsmotor von neuem im Vorbeirasen unsere Sinne betäubt, schwappt eine Jubelwelle die Leitplanke entlang.

Weit entfernt sehen wir Fatthauer das Tempo drosseln, und als der Wagen wieder in Sicht kommt, blinkt er mit den Scheinwerfern. Trotz der einbrechenden Abenddämmerung sehen wir das Lächeln des Mannes kilometerweit strahlen. Er springt aus dem 911er, in der Hand ein GPS-Gerät mit den Ziffern 386 km/h. Sie haben die Spitzengeschwindigkeit des McLaren egalisiert.

Jetzt kommt das Team erst richtig auf Touren. Scheibenwischer und Seitenspiegel werden abmontiert; die Oberkanten der Heckscheiben werden mit Klebeband abgedeckt, wie die bereits verklebten Schlitze an der Front. Es mag bereits eindunkeln, aber es bleibt noch Zeit für einen allerletzten Testlauf, um den Rekord voll und ganz an sich zu reissen.

Die Begeisterung darüber, den McLaren eingeholt zu haben, weicht nun der Hoffnung, der 9ff-Wagen könne ihn auf seinen letzten paar Runden in Nardò noch entscheidend übertreffen.

Die Abendluft scheint den Klang vom 911er noch zu verstärken, als er die grösste Entfernung von unseren Ohren erreicht. Und als er sich unserem Aussichtspunkt nähert, wirkt sein Kampfgebrüll noch schneidiger als bei den vorherigen Läufen.

Es wäre absurd zu behaupten, irgendjemand von uns hätte erkannt, dass der
9F-V400 seine letzte Runde auf dieser Strecke mit ein paar Kilometern pro Stunde mehr absolvierte. Doch als er wieder vorbeidonnert, wissen wir, dass er sein Werk vollbracht hat. Fatthauer braucht nicht einmal während der Auslaufrunde mit den Scheinwerfern zu blinken, um uns klar zu machen, dass wir Zeugen eines bedeutsamen Motorsportereignisses geworden sind.

Die bewegendsten Triumphe sind stets diejenigen, die in den letzten Spielminuten stattfinden, und wenige Augenblicke nachdem Fatthauer euphorisch aus dem Wagen gesprungen ist, vertreiben uns Nardòs Sicherheitsleute von der Teststrecke. Und die Geschwindigkeit? Gemäss dem Trio von GPS-Geräten lag sie bei 388 km/h, also genau 1,6 km/h schneller als der McLaren.

«Super», sagt Fatthauer mit seinem Flair fürs Understatement. Wir alle haben gerade ein wichtiges Stück Motorsportgeschichte miterlebt, und der 9F-V400 von 9ff gilt nun (zu diesem Zeitpunkt erst inoffiziell) als «schnellstes strassenzugelassenes Auto der Welt».

Diese Anerkennung reicht Fatthauer nicht, denn er hat an dieser Rekordbrecherei offensichtlich Geschmack gefunden. «Wir werden wiederkommen, um uns an die 400-km/h-Marke ranzumachen», meint er. «Vermutlich aber nicht hier – unser Wagen ist für Nardò zu schnell.» Ein grosses Wort, das einer kleinen, aufstrebenden Tuning-Firma aber ganz gut ansteht.