Deutschland wächst nicht mehr. Nach der jüngsten Prognose der Wirtschaftsinstitute wird die deutsche Wirtschaft im laufenden Jahr stagnieren oder nur um ein Zehntelprozent wachsen. Dafür gibt es viele Gründe. Doch neben den allgemein diskutierten Ursachen wie hohen Energiepreisen, überbordender Bürokratie und Fachkräftemangel findet ein wichtiger anderer Grund kaum öffentliches Gehör. Deutschland leidet unter kulturellen Wachstumshemmnissen. In den vergangenen Jahrzehnten hat es eine Kultur etabliert und gefördert, die sich mit wachsender Aggressivität gegen Wachstum als solches richtet. 

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Der Gastautor

Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident von World.Minds sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt monatlich in der «Handelszeitung».

Wachstum gilt vielen Deutschen nicht mehr als erstrebenswert. Sie setzen es mit Umweltzerstörung gleich und lehnen es oft aus moralischen Gründen ab. Dabei übersehen sie, dass modernes Wachstum der Umwelt nicht nur nicht schaden muss, sondern auch nützen kann. Ohne Wachstum wird es sogar sehr schwer, Klima und Umwelt zu retten. Die Kritik an den Grundlagen der Marktwirtschaft geht noch weiter: Arbeit als sinnvoller Lebensinhalt gerät zunehmend in die Defensive. Wer arbeitet – so glauben viele – macht sich und andere kaputt. «Work-Life-Balance» bedeutet für Millionen, die Arbeit bestmöglich aus dem eigenen Leben auszusteuern. 

Wer Arbeit als Erfüllung seines persönlichen Potenzials ansieht, gerät bei seinen Mitmenschen vielfach unter Rechtfertigungsdruck. Technologie gilt einer breiten Mehrheit nicht mehr als Problemlöserin, sondern als Ursache vieler Übel. Fortschritt wird von vielen nur noch gesellschaftlich oder sozial verstanden, nicht aber mehr technisch. Gründungen von Unternehmen sind nach dem Startup-Boom vergangener Jahre auf dem Rückzug und haben sich seit der Zeit vor Corona etwa halbiert. 

Unternehmertum gilt wieder mehr Menschen als eine Form der Ausbeutung und nicht mehr als ein Antriebsmotor für Fortschritt und Erneuerung. Anspruchshaltung gegen den Staat verdrängt Leistungsbereitschaft im Beruf. Und als Löser von Problemen gilt immer öfter der Staat als die private Wirtschaft. Mehr und mehr Menschen wollen lieber beim Staat arbeiten als in Unternehmen.

Deutschland tauscht gewissermassen sein Betriebssystem aus. Es entsteht ein Regelwerk, das im Gegensatz zu den Werten steht, für die Deutschland früher einmal bekannt war und die es reich gemacht haben. Viele gesetzliche Vorschriften giessen diesen geistigen Wandel in bleierne Form. Fast zwangsläufig drücken diese kulturellen Faktoren auf das Wachstum und damit auf den Wohlstand. 

Besonders im Vergleich zur Schweiz ist Deutschland ins Hintertreffen geraten. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beträgt inzwischen nur noch rund die Hälfte der Schweiz. Deutsche reagieren meist allergisch, wenn man ihre Wertschöpfung mit anderen Staaten vergleicht. Als Gegenargument führen sie dann oft an, dass man vielleicht ärmer sei, aber dafür auch gerechter. Im Vergleich mit den USA sticht dieses Argument sogar. Die von OECD und Weltbank gemessene Einkommensverteilung – der sogenannte Gini-Index – weist die USA als deutlich ungerechter aus als Deutschland.

Doch im Vergleich zur Schweiz hilft dieser Einwand nicht. Der Gini-Index der Schweiz liegt nur hauchdünn über dem Wert Deutschlands. Die Einkommensverteilung ist statistisch gesehen fast gleich gerecht. Doppelt so hohe Wertschöpfung pro Kopf bei fast gleicher Verteilungsgerechtigkeit bedeutet: Deutschland hat gegenüber der Schweiz massiv an Boden verloren. Es sollte das Vorbild seines südlichen Nachbarn besser studieren. 

Natürlich klemmt auch in der Schweiz manches. Doch sein kulturelles Betriebssystem ist weitgehend intakt. Wer die Schweiz aus Deutschland kommend besucht, erlebt ein zupackendes, unternehmerisches, optimistisches, glückliches, ausgeglichenes, kreatives, innovatives, technologie-freundliches und zukunftsorientiertes Land. Wohlstand entsteht zuerst im Kopf. Die Schweiz macht es vor.