Die Bewegung der «Klimaseniorinnen» hat am Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg gegen die Schweiz geklagt – und Recht bekommen. Er gab ihnen Recht in ihrer Angst, dass man am Klimawandel sterben könne. Und dass der Staat nicht genug unternommen habe, um sie vor diesem möglichen Tod zu bewahren.

Konkret, dass gemäss Studien eine Frau ab 75 Jahren in einem Hitzesommer «ein deutlich erhöhtes Mortalitätsrisiko» habe als die Allgemeinheit. So steht es im Bundesgerichtsurteil vom Mai 2020. Das höchste Schweizer Gericht hatte die Klage abgewiesen.

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Das Bundesgericht argumentierte, dass nicht jedes potenzielle Opfer beim Staat ein Schutzrecht «ohne eine gewisse Intensität» einklagen könne.

Das Bundesgericht argumentierte, dass nicht jedes potenzielle Opfer beim Staat ein Schutzrecht «ohne eine gewisse Intensität» einklagen könne.

Genau um diesen Punkt geht es. Nämlich um die Frage, wie der Staat die Bürgerinnen und Bürger schützen muss – und wie nicht. Überspitzt gesagt: Wenn jede Seniorin den Bund erfolgreich einklagen könnte, weil dieser sie nicht genügend vor einer potenziellen Todesgefahr geschützt hat, würde der Staat ausufern.

Das Urteil liesse sich analog für jede abstrakte Todesgefahr auslegen

Nehmen wir den EGMR mal beim Wort: Was sind heute laut Statistik die häufigsten Todesursachen? Die grösste Wahrscheinlichkeit, zu sterben, hat man bei Herzinfarkt und Krebs. Je ein Drittel aller Menschen sterben daran. Das Mortalitätsrisiko ist für über 75-jährige Frauen noch grösser als für Junge.

Nennen wir die potenziell Betroffenen «Krebs-Seniorinnen». Wären sie ebenso besorgt wie ihre Schwestern im Geiste, könnten sie den Bund einklagen, dass er nicht genug tue, um sie vor dem Krebstod zu beschützen. Sie könnten behaupten, dass der Bund ihnen wirksame, aber sehr teure Krebstherapiemedikamente im Obligatorium vorenthalte.

Die Logik des Menschengerichtshofs würde Klagen auf Schutz vor jeder grösseren, abstrakten Lebensgefahr Tür und Tor öffnen.

Analog zum Klima-Urteil könnten die «Krebs-Seniorinnen» Recht erhalten. Die Schweiz würde verurteilt, weil sie zu wenig gegen den Krebstod für Frauen ab 75 Jahren unternommen hatte. Auf die gleiche Idee könnten Herzinfarktopfer, Strassenverkehrsopfer oder Gewaltopfer kommen. Oder Leute, die vom Blitz getroffen werden, weil der Staat sie zu wenig davor gewarnt hatte.

Die Logik des Menschengerichtshofs öffnet so Klagen bezüglich Schutz vor jeder grösseren abstrakten Lebensgefahr Tür und Tor. Sie hiesse: Schleusen auf für den alles umsorgenden Staat! Die Schweiz muss ihm hier entschieden entgegentreten.

Die Kausalität jenseits jedes vernünftigen Zweifels ist nicht gegeben

Kommt hinzu: Hitzesommer gab es schon vor dem Klimawandel, der beschleunigt ab dem Jahr 2000 einsetzte. Die höchste Wahrscheinlichkeit, in der Schweiz an einer Kausalfolge des Klimawandels zu sterben, findet sich in den Bergen, etwa wegen höherer Erdtemperaturen von einem Steinschlag getroffen zu werden oder unter eine Schlammlawine zu geraten. Zu behaupten, man sterbe heute, weil die Schweiz zu wenig CO2 kompensiert habe, ist sehr konstruiert und sicher nicht «jenseits jedes vernünftigen Zweifels», wie ein Strafgericht argumentieren müsste.

Das Bundesgericht sagt zu Recht, dass sich «derartige Anliegen» nicht auf dem Rechtsweg, sondern mit politischen Mitteln durchzusetzen lassen.

Das Bundesgericht befand zur Klage der Klimaseniorinnen zu Recht, dass «derartige Anliegen sich nicht auf dem Rechtsweg, sondern mit politischen Mitteln durchsetzen lassen», wozu die direkte Demokratie der Schweiz hinreichende Möglichkeiten eröffne. Deshalb könne eine Seniorin vor Gericht auch keine staatliche Massannahmen einfordern.

Die Schweiz soll durchaus Urteile von supranationalen Gerichten ernst nehmen, die sie anerkennt. Dieses hier kann sie aber getrost aussitzen, weil es rein politisch motiviert ist.

BERN, 14.8.2019. Andreas Valda, Redaktor Handelszeigung. Foto: Daniel Rihs / 13 Photo
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