Nachdem die Diskussion um generative KI in Marketing und Management in den ersten Monaten des Jahres von der Begeisterung für die Leistungsfähigkeit und der Angst vor den unkontrollierbaren Folgen geprägt war, macht sich in letzter Zeit eine graduelle Ratlosigkeit breit, wie und wann die neuen Large Language Models (LLM) in den kommenden Monaten sinnvoll und erfolgreich eingesetzt werden können. In aktuellen Projekten und Diskussionen mit Führungskräften und unseren Forschungspartnern stellen wir fest, dass ein Framing fehlt, das die Möglichkeiten KI-gestützter Assistenten mit menschlichen Kompetenzen und Fertigkeiten verbindet.

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Betrachtet man die aktuelle Diskussion in Unternehmen und den Fachmedien, so schälen sich allmählich drei zentrale Anwendungsbereiche für generative KI im Bereich der marktorientierten Unternehmensführung heraus, die sicherlich nicht überschneidungsfrei sind, aber erste Schwerpunkte erkennen lassen:

  • Automation interner Abläufe bei der Erfassung sowie Analyse und Bewertung von Informationen.
  • Entwicklungsprozesse im Bereich des Produktmanagements oder aber auch in der Werbung wie zum Beispiel der Kampagnenentwicklung.
  • Einbezug intelligenter Agenten in die Kundengewinnung und -betreuung und zur Anreicherung der Kundenschnittstelle durch artifizielle Interaktionen.

Der Autor

Prof. Dr. Marcus Schögel, Associate Professor, Senior Lecturer und akademischer Direktor des Masters in Marketing Management an der Universität St. Gallen; Leiter des «Marketing Delta Programms» am Institut für Marketing und Customer Insight der HSG.

In einigen Fällen sind dabei Zugänge anzutreffen, wo beispielsweise ein intelligenter Chatbot in die bestehenden Arbeitsmethoden und -abläufe – quasi als eine bessere Suchmaschine – integriert wurde, dann aber die Ernüchterung über die «durchschnittlichen» Resultate gross ausfiel. Dabei ist solch eher kurzsichtiges Vorgehen ungefähr damit vergleichbar, dass man einen vierbeinigen Roboter vor eine Kutsche spannen und sich fragen würde, warum man nur so langsam vorankommt. Andererseits wird generative KI auch vielfach als der «neue Praktikant» verstanden. Ob das aber den Potenzialen der intelligenten Automation entspricht, ist eher fraglich.

Für eine Antwort auf diese Herausforderungen lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und sich nochmals zu vergegenwärtigen, welchen Auftrag das Marketing hat und welchen Beitrag generative KI dazu leisten kann. Im Mittelpunkt eines kundenzentrierten Marketingverständnisses steht die Befriedigung von Kundenbedürfnissen als zentraler Werttreiber für den Unternehmenserfolg. Hier haben digitale Anwendungen in den letzten Jahren bereits einen massgeblichen Entwicklungsschub ausgelöst. So sind digitale Produkte und Lösungen – von Apps über Services bis zu smarten Produkten – heute aus dem Œuvre vieler Unternehmen kaum noch wegzudenken. Darüber hinaus helfen analytische Methoden bei der Datenauswertung und bilden die Grundlage für intelligente Automation bei der Analyse des Kundenverhaltens und der Identifikation von Potenzialen bei der Bedürfnisbefriedigung.

 

Austauschbarkeit durch Mittelmass

Nun geht es aber im Marketing bekanntlich nicht nur darum, Bedürfnisse zu kennen und die relevanten zu befriedigen. Gerade im aktuellen Wirtschaftsumfeld gilt es, sich als einzigartige Alternative zu positionieren und durch die eigenen Aktivitäten auch nachhaltig zu differenzieren. Dazu leisten auch die aktuellen Ansätze nur einen begrenzten Beitrag. Die Empfehlungen beziehungsweise Beiträge der generativen KI sind aus bestehendem Wissen abgeleitet, und es entsteht durch Rekombination dabei nur begrenzt Neues. Daher sind sie oft zu ähnlich für verschiedene Unternehmen und führen zu austauschbaren und uninspirierten Allgemeinplätzen.

Selbst eine von generativer KI komponierte «10. Symphonie von Beethoven», ein Krimi à la Agatha Christie oder der «Barbie Song», gesungen von Johnny Cash, überzeugen nicht wirklich und finden sich weniger auf den Bestenlisten ihrer jeweiligen Zunft als im hinteren Mittelfeld. Investieren Unternehmen in derartige Ansätze nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Arbeitskraft der Mitarbeitenden, wird dadurch die Austauschbarkeit durch Mittelmass gefördert.

Offensichtlich entsteht nachhaltiger Erfolg im Markt heute nicht nur durch Einsatz intelligenter Systeme, um die Datenbasis des Unternehmens zu durchdringen. Vielmehr sind Differenzierungsansätze zu suchen, die das Unternehmen und seine Angebote aus dem Mittelmass herausführen und als einzigartige Lösung positionieren.

Sicherlich ist es heute schon möglich, durch den Einsatz von ChatGPT, Midjourney und weiteren Anwendungen eine umfassende Werbekampagne zu entwickeln. Fraglich ist aber, ob die so generierten Inhalte dazu ausreichen, um von den Kundinnen und Kunden als relevante Botschaft identifiziert zu werden. Ebenso scheint es heute realistisch, mit intelligenten Chatbots einen wirkungsvollen «First Level»- und in einigen Fällen auch «Second Level»-Service-Support für die Kundschaft zu bieten. Darüber hinaus wird es aber schwierig, mit intelligenten Assistenten im «Moment der Wahrheit» zu reüssieren.

Vor diesem Hintergrund gewinnen Faktoren wie Kreativität und Empathie eine massgebliche Bedeutung für das Marketing und erleben eine gewisse Renaissance. So ist es für eine erfolgreiche Werbekampagne fast selbstverständlich, dass sie ihre Wirkung vor allem über kreative Zugänge und Ansätze entwickelt. Ebenso liegen die eigentlich wertstiftenden Elemente im Kundenkontakt im empathischen Umgang mit Kundenproblemen und nicht in der standardisierten Beantwortung von Kundenanfragen begründet.

 

Erfolg gleich Daten mal Kreativität

Betrachtet man nun den Einsatz kreativer beziehungsweise empathischer Fähigkeiten und den Einsatz intelligenter beziehungsweise datengetriebener Methoden als zwei Seiten derselben Medaille, dann lassen sich verschiedene Zugänge erkennen (siehe Abbildung oben).

In vielen Fällen wird dabei generative KI als universeller Lösungsansatz gesehen. Dann geht es primär darum, auf Basis relevanter Daten intelligent generierte Lösungen auf typische Herausforderungen zu gewinnen. Problematisch ist jedoch die derzeit in vielen Unternehmen anzutreffende Kurzfristigkeit, mit der zwar die unmittelbar realisierbaren Potenziale schnell erschlossen werden, die langfristigen Herausforderungen aber oft aussen vor bleiben (Stichwort «AI Myopia»).

Auch wenn es uns mit ChatGPT gelingen kann, die sogenannte «Facetime» von Kundenberatern in einigen Branchen bereits durch Protokollaufgaben und Textanalysen massgeblich zu erhöhen, so ist das sicherlich reizvoll. Vergessen wird dabei aber, dass sich dadurch bereits mittelfristig die Arbeitsbereiche der Beraterinnen und Berater (und damit auch das Berufsbild) und langfristig zumindest die Aufgaben, Rollen und auch das Mengengerüst für die Mitarbeitenden verändern werden; wir heben keine Produktivitätspotenziale, sondern schaffen «Workarounds», die die Komplexität zumindest der Backend-Prozesse massgeblich vorantreiben.

Es wäre verfehlt, sich auf die rein kreative Lösung der Menschen zu verlassen.

 

Sicher stellt die intelligente Automatisierung Unternehmen bereits vor massgebliche Herausforderungen. Datenquellen müssen erschlossen, die Privatsphäre der Kundschaft gesichert sowie entsprechende Applikationen implementiert werden. Bei keinem dieser Themen sind einfache Lösungen zu erwarten. Jedoch sind diese Faktoren erst die Voraussetzung für einen Markterfolg.

Es wäre aber auch verfehlt, sich auf die rein kreative Lösung zu verlassen. Klar sind Mitarbeitende im Kundenkontakt in der Lage, Probleme schnell und unkonventionell zu lösen. Nur lassen sich diese «Unexpected Delights» nicht beliebig wiederholen oder gar multiplizieren; und es ist immer noch möglich, dass sich eine intuitive Eingebung im Kreativprozess in einer Kampagnenentwicklung als «Jackpot» erweist. Ohne den systematischen Abgleich mit Alternativen bleibt es aber vielfach ein Vabanquespiel, sich auf die reine Eingebung zu verlassen.

Im Kern muss es im Marketing gelingen, die analytisch-intelligente Perspektive mit der kreativ-empathischen Seite zu verknüpfen. So zeigen Erfahrungen beim Einsatz neuer Technologien, sei es die Einführung neuer Fertigungstechnologien oder der Büroautomation, dass nur eine integrierte Lösung einen echten Fortschritt bietet.

Gerade das Wechselspiel zwischen «Automaten», «Bots», und den Mitarbeitenden scheint erfolgskritisch. Nicht umsonst wird das «Prompt Engineering» als neues Aufgabenfeld erkannt. Und dabei geht es nicht nur darum, «Cheat Sheets» zu erstellen. Die zentrale Frage sollte eher lauten: «Wie gelingt es im Dialog mit AI, geeignete Lösungen für aktuelle Kunden- beziehungsweise Marketingprobleme zu finden?»