Wir warten und warten und warten … an der Tramhaltestelle, am Bahnhof, am Flughafen. Unsere Schweizer Bundesbahnen rühmen sich, dass ihre Züge im Schnitt nur drei Minuten Verspätung haben. Das ist im internationalen Vergleich ausgezeichnet. Und doch erscheinen uns drei Minuten oft viel zu lange. Gerade einmal sechzig Sekunden war Ryujiro Takami hinter dem Fahrplan, als er seinen Zug am 26. April 2005 in Amagasaki aus den Gleisen und in ein Mehrfamilienhaus katapultierte. Aus Furcht vor einer Rüge seiner Vorgesetzten wegen der Verspätung war der junge Lokführer mit stark überhöhter Geschwindigkeit unterwegs. Etwas mehr zeitliche Flexibilität hätte 107 Menschen das Leben gerettet.

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Unsere Obsession mit Pünktlichkeit ist ein Phänomen des modernen Alltags. Dieser beruht auf der exakten Koordination von Raum und Zeit, wie sie erst im 18. Jahrhundert möglich wurde. In jener Epoche der kolonialen Expansion waren die Flotten der europäischen Seemächte auf eine präzise Navigation auf den Weltmeeren angewiesen, um ihr globales Handelsnetz zu unterhalten. Die Bestimmung der exakten Position eines Schiffs war aber seit jeher ein Problem. Während sich der Breitengrad mit einem Sextanten leicht bestimmen liess, bestand die eigentliche Schwierigkeit in der Messung des Längengrads. Hierzu mussten Seeleute den Stand der Sonne mit einer vor der Abfahrt gestellten Uhr vergleichen, was jedoch eine technische Herausforderung darstellte: Auf dem Schiff mitgeführte Uhren waren äusserst anfällig auf Erschütterungen, Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen. Für die Lösung des Längenmessungsproblems offerierte die britische Regierung 1714 eine Belohnung von 20 000 Pfund, was heute fast vier Millionen Schweizerfranken entspricht. Der Grossteil des Preisgelds ging an den Tischler und Uhrmacher John Harrison, dem 1759 mit dem vierten Modell seines Schiffschronometers die entscheidende Erfindung gelang: Das handliche Gerät ermöglichte die weltweite Verbreitung und Vereinheitlichung der Raum- und Zeitmessung unter dem Banner der britischen Krone. So konnten bald die Schiffsoffiziere am Kap der Guten Hoffnung auf das Signal des Observatoriums warten, um ihre Uhren vor der Weiterfahrt nach Asien zu synchronisieren. Auch die Zuglinien, die sich im darauffolgenden Jahrhundert über alle Kontinente ausbreiteten, verbanden nicht nur Orte, sondern auch Zeiten. Seither warten in den Häfen, Bahnhöfen und Flughäfen Menschen auf pünktliche und verspätete Verkehrsmittel.

Dank dem Chronometer, der Erfindung eines ambitionierten Tischlers, tickt unsere heutige Welt im Gleichtakt. Jeder Ort auf diesem Planeten misst nach der einheitlichen Skala der koordinierten Weltzeit, deren Nullmeridian durch das Königliche Observatorium von Greenwich im Osten von London geht. Nur deshalb kann ich meinen Anschlussflug in Singapur erwischen oder meine Zugverbindung in Offenburg verpassen. Denn nur weil sie pünktlich sein können, kommen unsere Verkehrsmittel auch manchmal zu spät.