Richborough: Das ist tiefste englische Provinz, ein dünn besiedelter Ort in Küstennähe. Hier existierte einst ein geheimer Kriegshafen, der nach dem Ende des Krieges nicht weiter betrieben wurde. Danach prägte ein Kohlekraftwerk die Landschaft, das 1971 zu einem Öl-Kraftwerk umfunktioniert wurde. Vor drei Jahren haben die Behörden schliesslich die verbleibenden Gebäude abgerissen. Was bleibt, ist eine Mülldeponie.

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Auf diesem Fleck Erde soll nun ein gigantischer Sendeturm entstehen: der «Richborough Mast». Hinter dem Projekt steht die kanadische Telekomfirma Vigilant Global. Der Sendeturm soll zehn Meter höher sein als die Londoner «Glasscherbe» – mit 310 Metern immerhin der höchste Wolkenkratzer in Westeuropa.

Masten soll den entscheidenden Sekundenvorteil ermöglichen

Im Gegensatz zum Londoner Hochhaus soll der «Richborough Mast» aber kein Luxusrestaurant, kein Hotel und auch keine Aussichtsplattform bieten. Die gewaltige Stecknadel ist auch kein architektonisches Highlight. Ihr einziger Zweck ist es, Finanzdaten vom europäischen Festland in Rekordzeit auf die Insel zu schicken.

In diesem Sinne ist die 320-Meter-Giga-Nadel, der Phallus der «Flash Boys», ein weiteres Infrastrukturprojekt der Hochfrequenzhändler, dessen einziges Ziel darin besteht, den Bruchteil einer Sekunde Vorsprung zu haben, um diesen Vorsprung in bares Geld umzumünzen.

Scharf kritisierte Handelspraktik

Im sogenannten Hochfrequenzhandel werden leistungsfähige Computer so programmiert, dass sie gigantische Datenmengen verarbeiten und Wertpapiere in Sekundenbruchteilen kaufen und verkaufen. Mittlerweile dominiert diese Handelsform den Markt: In Europa wird der Anteil auf 60 Prozent beziffert, in den USA auf 40 Prozent.

Dieses Volumen und das enorme Handelstempo führte in der Vergangenheit wiederholt zu Börsenpannen und unkontrollierten Kursstürzen. Entsprechend gross ist das Misstrauen gegenüber der Branche. Es handele sich dabei um die «massivste Börsenkursmanipulation aller Zeiten», schrieb der US-Autor Michael Lewis, dessen verfilmtes Buch «The Big Short» gerade die Schweizer Kino-Charts stürmt.

Landschaftlicher «Schandfleck»

Dem «Richborough Mast» weht aber aus anderen Gründen ein rauher Wind entgegen: Die Bewohner der Gegend führen ins Feld, dass der Sendemast seiner Grösse wegen ein «Schandfleck» in der Landschaft sei. Die Bürger verweisen auf einen 45 Meter hohen Sendemast in der nahe gelegenen Ortschaft Thanet. Dieses Türmchen erfülle den Zweck, man benötige keine gigantische Nadel.

Die kanadische Firma hält dagegen: Der Sendemast müsse mindestens 320 Meter hoch sein, damit die Radiowellen nicht von der Erdkrümmung geblockt würden. Das hätten eigene Berechnungen ergeben.

Günstiges Internet als Lockmittel

Damit die Bürger das Vorhaben nicht blockieren, lockt die Telekomfirma mit günstigem Wireless-Internet. Man arbeite mit dem britischen Serviceprovider Vfast-Internet zusammen. Bürger der Region erhielten dadurch Zugang zu superschnellem Breitband-Internet.

Auch der regionale Radiosender soll sein Equipment kostenlos am Sendemast befestigen und damit seine Reichweite erhöhen können. Als letztes Leckerli bietet die Telekomfirma an, lokale Schulprojekte zu unterstützen.